Haiti hat keine Wahl
Expect the unexpected. („Erwarte das Unerwartete“). Die jamaicanische Alltagsfloskel gilt auch auf der größeren Nachbarinsel Hispaniola allemal – zuvorderst in Haiti. Stichwahl am 27. Dezember: verschoben. Stichwahl am 17. Januar: verschoben. Stichwahl am 24. Januar: abgesagt.
Es wäre ohnehin eine Stichwahl ohne Auswahl gewesen: Der oppositionelle Kandidat Jude Célestin stand zwar auf den bereits gedruckten Wahlzetteln, doch aus dem Rennen hatte er sich kurz vor dem Urnengang verabschiedet „Ich weigere mich, an diesem Maskenball teilzunehmen. Hört auf, uns als Idioten zu verkaufen!“
Starker Tobak. Doch Célestin steht mit seiner Meinung beileibe nicht allein. Es ist offensichtlich, dass Amtsinhaber Michel Martelly, der aus Verfassungsgründen nicht mehr antreten darf, mit allen Mitteln seinen Günstling Jovenel Moïse als neuen Präsidenten durchdrücken will. Dabei hatte die auf Druck der Opposition eingesetzte Untersuchungskommission dem ersten Wahlgang vom 25. Oktober ein desaströses Zeugnis ausgestellt: Auf den Wähler*innenlisten fehlten über die Hälfte aller Unterschriften oder Fingerabdrücke und fast die Hälfte der Identifikationsnummern war falsch. Die Empfehlung der Kommission: Alles auf Anfang, den gesamten Wahlprozess reformieren und die Wahlbehörde komplett auswechseln. Die Reaktion von Martelly: Alles weiter wie gehabt, eine Verschiebung als maximales Zugeständnis.
Martellys undemokratisches Gebaren bringt zwar Teile der haitianischen Bevölkerung buchstäblich auf die Barrikaden, doch weiß der Noch-Präsident mächtige Unterstützer*innen auf seiner Seite. Zu allererst die USA, die den Wahlprozess finanzierten und den neoliberalen Martelly wie den Unternehmer Jovenel Moïse als Garantie dafür betrachten, dass in Haiti keine linken Experimente stattfinden.
Aber auch Vertreter*innen der UNO und anderer Geberländer haben mit ihren Aussagen immer wieder klargemacht, dass Verspätungen im Wahlkalender ihnen mehr Sorgen bereiten als die Unregelmäßigkeiten an der Urne. Haiti hängt am Tropf der internationalen Geldgeber*innen und die wollen ihr finanzielles Engagement zurückfahren. Dafür bedarf es des Anscheins der Normalität und des Feigenblatts von Wahlen.
Dabei sind Wahlen in Haiti längst zu einem Muster ohne Wert verkommen. Wahlbeteiligungen von um die 20 Prozent sind die Regel seit dem Sturz der Duvalier-Diktatur (1957 bis 1986) durch einen Aufstand der Armen. Die einzige Ausnahme war die erste demokratische Wahl 1990, als der Armenpriester Jean-Bertrand Aristide die Massen auf die Straßen und an die Urnen brachte. Über 80 Prozent gaben ihr Votum ab, zwei Drittel zugunsten Aristides. Die kurze Phase der Hoffnung endete jäh nach nur sieben Monaten Amtszeit. Die Militärs unter General Raoul Cédras putschten und zwangen den populären Priesterpräsidenten ins Exil. Zwar konnte Aristide 1994 kurz vor Ablauf seiner Amtszeit mit Hilfe von 23.000 US-Soldat*innen und UNO-Unterstützung auf den Präsidentensessel zurückkehren, doch seinen Sozialreformeifer hatte Washington ihm ausgetrieben.
Haiti blieb was es war und das bleibt auch 2016 so: das Armenhaus Amerikas, ein extrem abhängiges Land. Dass der von Martelly auserkorene Nachfolger Moïse, der „Banana Man”, ausgerechnet mit dem Export eines Grundnahrungsmittels sein Vermögen machte, während im Land Schlammkekse gegen den Hunger gegessen werden, ist bezeichnend. Was Haiti bräuchte, ist neben Wahlen, die diesen Namen verdienen, ein Entwicklungskonzept: Eine Landwirtschaft, die auf heimische Bedürfnisse zielt, einen Schuldenerlass, der Luft zum Atmen gibt und eine Regierung, die nicht die Sicherung der eigenen Pfründen zur Richtschnur macht. Bisher hat Haiti keine Wahl – und die Haitianer*innen schon gar nicht.