Editorial | Nummer 485 - November 2014

// Heuchelei an der Grenze

Die einst graue Trennlinie wird hell erstrahlen. Wenn am 9. November dieses Jahres an den Fall der Berliner Mauer vor 25 Jahren erinnert wird, sollen in der deutschen Hauptstadt auf einer Länge von 15 Kilometern tausende leuchtende Ballons Ausmaß und Absurdität der innerdeutschen Grenze sichtbar machen.
Es ist zu begrüßen, dass die Mauer, an der Grenzschützer_innen durch Gewalt und tödliche Schüsse Mitbürger_innen daran hinderten, ihr Land zu verlassen, vor einem Vierteljahrhundert gefallen ist. Die Freude über das Verschwinden einer mörderischen Trennlinie darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Zeiten, in denen sich Waren und Dienstleistungen meist so ungehindert wie nie zuvor um den Globus bewegen, die Bedeutung von Grenzen gleichzeitig bedrohlich zugenommen hat: Die Bewegungsfreiheit von Menschen aus dem globalen Süden, die nicht über entsprechende Papiere, Bescheinigungen oder finanzielle Mittel verfügen, endet spätestens an den technisch hochgerüsteten Schutzanlagen der nördlichen Länder.
Die USA etwa versuchen, die über 3.000 Kilometer lange Grenze zu Mexiko mit Hilfe einer tödlichen Zaunkonstruktion, Grenzpolizei, Hunden, Drohnen, Kameras und mehr zu bewachen. Auch die Europäische Union (EU) rüstet seit Jahren unverhohlen nach dem Modell der US-mexikanischen Grenze auf. Drohnen, Nachtsichtgeräte, Vibrationsmesser zur Erkennung von Herzschlägen und Kameras sollen verhindern, dass Flüchtlinge überhaupt bis zu den hohen Zäunen gelangen. Auf deren Spitze prangt Stacheldraht, Drahtrollen mit rasierklingenscharfen Metallspitzen erwarten die Menschen, die beim Versuch hinüberzuklettern, durch die Elastizität der Zäune hinunterfallen.
Für die Einwanderer_innen wiegt die verzweifelte Suche nach einer besseren Zukunft weit mehr als die Abschreckung jeder Grenzanlage in den USA oder in Europa. Seit einigen Jahren steigt die Zahl unbegleiteter, minderjähriger Flüchtlinge aus Zentralamerika, die die USA erreichen, rapide an. Gegenüber seinen zentralamerikanischen Amtskollegen machte US-Präsident Barack Obama erst Mitte dieses Jahres deutlich, dass ein Großteil der Kinder wieder abgeschoben wird. Eine humane Lösung ist nicht in Sicht. Die meisten derer, die es schaffen, ohne Papiere in die USA oder die EU einzureisen, sehen sich früher oder später mit der Abschiebung konfrontiert.
Und weiterhin sterben viele Menschen schon beim Versuch, über die Grenze zu gelangen. Die technische Perfektionierung der Grenzen kann sie nicht abhalten: Die Fluchtwege werden nur gefährlicher, die Fluchtversuche dramatischer. Während der Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2013 etwa ertranken vor der italienischen Insel Lampedusa über 380 Menschen bei dem Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen. Dieses Unglück ist ein Fanal für die verfehlte Flüchtlingspolitik. Dieses Jahr zahlten schon jetzt mindestens 3.000 Menschen mit ihrem Leben für den Versuch, über das Mittelmeer ins ersehnte Europa zu gelangen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Joachim Gauck weisen gerne darauf hin, wie wichtig die entschlossenen, friedlichen Demonstrationen der DDR-Bürger_innen waren, um Deutschland wieder zu vereinen. Dass die Toten an den EU-Außengrenzen Opfer politischer Entscheidungen sind, ignorieren sie hingegen geflissentlich.
So sehr es geboten ist, an den Fall der Berliner Mauer zu erinnern, so sehr muss klar gemacht werden, dass es noch viele Zäune einzureißen gilt. Das massenhafte Sterben an den Grenzen nördlicher Länder ist unerträglich. Die dramatische Situation an den EU-Außengrenzen während der Feierlichkeiten um den 9. November herum auszublenden, ist daher nicht hinnehmbar. Im Gegenteil sollte das Jubiläum des Mauerfalls auch dazu genutzt werden, um auf die tödliche Bedeutung heutiger Grenzen aufmerksam zu machen. Alles andere ist pure Heuchelei.

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