Editorial | Nummer 303/304 - Sept./Okt. 1999

Jugend in Lateinamerika

Was bedeutet dieser Titel überhaupt: Jugend in Lateinamerika? Von der Begrifflichkeit her erschließt sich der Gegenstand quasi von selbst: Was wir unter Jugend zu verstehen haben, wissen wir ja, fehlt uns nur noch, die regionalen Besonderheiten herauszustellen. Daß dieser Ansatz zu kurz greift, hat der Soziologe Manfred Liebel bereits zu Beginn der 90er Jahre herausgestellt. Analog zur generellen Eurozentrismuskritik hat er darauf hingewiesen, daß sich der Jugendbegriff selbst in den europäisch geprägten Industriestaaten herauskristallisiert hat, dann aber für allgemeingültig erklärt wurde und mit dem Vehikel der Modernisierung verbreitet wurde. Innerhalb dieses Begriffes wird Jugend als autonomes gesellschaftliches Teilsystem verstanden, dem ein sogenanntes „soziales Moratorium“ zugestanden wird. Obwohl die Jugendlichen eigentlich körperlich und geistig dazu in der Lage wären werden sie von der Übernahme der vollen gesellschaftlichen, aber auch persönlichen und familiären Verantwortung entbunden. Jugendliche sollen mit 15 eben noch keine Familie gründen und noch kein Geld verdienen, sondern sich zuerst persönlich bilden und entwickeln. Die Konflikte, die dabei entstehen sind in erster Linie zukunftsbezogene Orientierungskonflikte: Was will ich und wie kann ich das, was ich will, erreichen?

Einem Großteil ihrer lateinamerikanischen AltersgenossInnen geht es jedoch ganz anders. Sie müssen für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen und manchmal sogar zu dem der restlichen Familie beitragen. Für einen geregelten Schulbesuch ist da kaum Zeit und statt der Orientierungskonflikte ist ihre Welt geprägt von gegenwartsbezogenen Existenzkonflikten: Ich weiß zwar, was ich will, aber nicht, wie ich es erreichen soll. Vor diesem Hintergrund stellt der moderne Jugendbegriff, ungeachtet seiner Attraktivität, in erster Linie ein negatives Abziehbild der eigenen Lebenswirklichkeit dar. Wer ums tägliche Überleben kämpfen muß, hat zur Persönlichkeitsbildung andere Voraussetzungen. Die lateinamerikanische Jugend kann mit diesen Kategorien lediglich als defizitär begriffen werden.

Diese Erkenntnis bedeutet freilich nicht, daß sich in Lateinamerika keine spezifische Jugendkultur herausgebildet hätte. Sie bedeutet vielmehr, sich der Begrenztheit von Wahrnehmungs- und Interpretationsmustern auch im Zusammenhang mit Jugend bewußt zu werden und einen anderen Blick zu wagen.

Glaubst du den Politikern etwa?“ fragen chilenische Jugendliche in einem Graffito in Santiago de Chile. Die Erkenntnis, daß das Vertrauen großer Teile der lateinamerikanischen Jugendlichen in das politische Establishment auf einen Nullpunkt gesunken ist, zieht sich wie ein roter Faden durch diesen Schwerpunkt. Dabei wird jedoch auch deutlich, daß Jugendliche deswegen nicht einfach als unpolitisch und hedonistisch abgetan werden dürfen. Sie formulieren nämlich, sei es innerhalb von Studentenbewegungen, sei es als rebellierende und gewaltbereite Jugendbanden, durchaus politische Ansprüche Ebenfalls haben wir uns darum bemüht, eine lateinamerikanische Jugendkultur zu zeigen, die nicht den Klischees von Salsa und Samba entspricht. Subkulturen wie HipHop in Medellín und Ska-Salsa in Mexiko bieten dabei gewiß nur einen kleinen Einblick. So gar nicht dem Klischee entspricht das Bild der Jugendlichen aus den höheren Schichten, das Ulrich Goedeking nachzeichnet. Trotz aller Versuche, die soviel geschmähten Klischees außen vor zu lassen, wird das Phänomen der Jugendgewalt in vielen Artikeln des Schwerpunkts thematisiert.

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