Migration ist kein Verbrechen
Die „Richtlinie der Schande“ ist durch. Der Appell des bolivianischen Präsidenten Evo Morales an das Gewissen der führenden EU-PolitikerInnen stieß auf taube Ohren. Mit überraschend großer Mehrheit hat das Europäische Parlament am 18. Juni die so genannte Rückführungs-Richtlinie verabschiedet. BefürworterInnen feierten diesen Beschluss als erstes gemeinsames Einwanderungsgesetz der EU. Ein Zeichen von grenzenlosem Euphemismus: Wo Einwanderungsgesetz drauf steht, ist Abschiebung drin. Geschätzt acht Millionen MigrantInnen ohne Papiere leben derzeit in der EU. Und schon mangels Anspruch auf staatliche Unterstützung sind sie gezwungen, zu arbeiten, in Jobs, für die sich kaum EuropäerInnen finden lassen, zu Löhnen, die jeglicher Gerechtigkeit spotten. Die Richtlinie macht sie allesamt rechtloser denn je: Bis zu 18 Monate können sie in Abschiebehaft genommen werden – ohne Urteil, allein aufgrund des Mangels an Papieren. Das gilt auch für unbegleitete Minderjährige. Und wer bei der Abschiebung nicht kooperiert, wird mit einem fünfjährigen Einreiseverbot belegt. Die Botschaft lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Illegale EinwandererInnen raus aus Europa!
Die Botschaft ist in Lateinamerika angekommen. „Migration ist kein Verbrechen“, brachte der argentinische Außenminister Jorge Taiana die Kritik auf den Punkt. Ecuadors Präsident Rafael Correa sprach in Anlehnung an Morales’ Appell von einer „Richtlinie der Schande“, unterstützt von einem vielstimmigen Chor von Peru über Brasilien bis Venezuela. Die zahlreichen im 20. Jahrhundert nach Lateinamerika ausgewanderten EuropäerInnen seien damals schließlich überall freundlich aufgenommen worden. Hugo Chávez droht gar mit Ölentzug und Brasilien und Bolivien denken über eine Visumspflicht für EU-Bürger nach. Damit würde lediglich das Prinzip der Reziprozität, das die EU bei ihren Verhandlungen über Handelsabkommen so gerne im Munde führt, in Bezug auf Visa von Lateinamerika praktiziert.
An den Ursachen der wachsenden Migration hat nicht zuletzt die EU selbst einen gehörigen Anteil. Ob in der Welthandelsorganisation oder bei den regionalen Freihandelsbestrebungen, wie sie derzeit unter anderem mit der Andengemeinschaft vorangetrieben werden, fordert die EU stets juristische Sicherheit für Investitionen und freien Zugang für Exporte. „Wo ist die juristische Sicherheit für unsere Frauen, unsere Jugendlichen, Kinder und Werktätigen, die in Europa bessere Aussichten suchen?“, fragt Morales völlig zu Recht. Doch diese Sicherheit ist nicht von Belang für die EU. Vielmehr gilt freie Fahrt für die Interessen der eigenen Konzerne ohne Rücksicht auf die legitimen Interessen der Menschen. Nach wie vor werden EU-Agrarüberschüsse mit Exportsubventionen auf die Märkte des Südens gedumpt und damit die Existenzgrundlagen der dortigen Bauern und Bäuerinnen und ihrer Familien vernichtet.
Morales hat bei seinem Appell bewusst die afrikanischen Länder als Leidtragende der EU-Politik eingeschlossen. „Wir haben Erdnüsse exportiert, das wurde uns kaputt gemacht. Wir exportierten Fisch, der wurde uns weggefangen. Nun exportieren wir eben Menschen.“ So plastisch schilderte der senegalesische Bauernpräsident, Samba Gueye, die Folgen der EU-Politik. Der Verursacher EU reagiert darauf nicht etwa mit einem Kurswandel bei der Handel- und Entwicklungspolitik, sondern mit einem Ausbau der Festung Europa. Allein von 2006 auf 2007 wurde das Budget der Grenzschutzagentur FRONTEX von 17 auf 70 Millionen Euro aufgestockt. Dies sind Zahlen der Schande, genauso wie die vierstellige Zahl an MigrantInnen, die Jahr für Jahr, den Versuch in die EU zu gelangen, mit dem Leben bezahlen. Den Preis der EU-Politik zahlen nach wie vor die anderen. Die Abschieberichtlinie steht in dieser beschämenden Tradition. Sie zu brechen, bedarf es mehr als gut gemeinter Appelle. Gefordert sind nicht nur konkrete Taten aus Lateinamerika, sondern auch eine deutliche Reaktion der europäischen Zivilgesellschaft.