Editorial | Nummer 493/494 - Juli/August 2015

Strosnismus 2.0

Die Wunde von Curuguaty bleibt offen. Am 27. Juli soll der Prozess gegen einige der Menschen beginnen, die am 15. Juni 2012 bei Curuguaty eine Farm besetzt hatten. Gegen die Polizei, die anschließend elf Besetzer*innen ermordete, wird hingegen nicht ermittelt (siehe Artikel in dieser Ausgabe). Das Massaker führte damals zur Absetzung des progressiven Präsidenten Fernando Lugo durch den von Großgrundbesitzer*innen kontrollierten Senat. Das Grundstück Marina Kue, auf dem das Massaker stattfand, befindet sich bis heute im Besitz der Riquelme-Familie, die es während der Strössner-Diktatur als Belohnung für politische Gefolgschaft illegal erhalten hatte. Was tatsächlich in Curuguaty geschah, bleibt unaufgeklärt, daran wird auch der kommende Prozess nichts ändern.

Der Fall zeigt eindrucksvoll, wie sehr Paraguay von informellen Netzwerken von Mafia, Politik, Agrarunternehmen und Justiz beherrscht wird. Wer sich dagegen stellt, wird kriminalisiert oder gar ermordet. Mit dem Verweis auf die winzige Guerillaorganisation „Paraguayisches Volksheer“ EPP, deren wirkliche Bedeutung äußerst umstritten ist, hat die Regierung den Norden des Landes komplett militarisiert. Die Landbevölkerung wird unter Generalverdacht gestellt, die Guerilla zu unterstützen. Dies erzeugt einen Herrschaftsdiskurs, der jegliche Proteste gegen die Ausweitung der Agrarindustrie kriminalisiert. Die Menschenrechtsverletzungen der Sicherheitskräfte oder die Verbrechen der Agrarindustrie werden dagegen nicht verfolgt.
Für Journalist*innen ist es gefährlich, diese Tatsachen zu recherchieren. Wie die argentinische Tageszeitung Página 12 berichtet, fielen seit dem Regierungsantritt Horacio Cartes‘ fünf Journalisten Mordanschlägen zum Opfer. Die Sicherheitsbehörden haben im vergangenen Jahr insgesamt 14 Gemeinderadios geschlossen, vor allem im Norden des Landes.

Die demokratische Verfassung von 1992, die das Erbe der Strössner-Diktatur (1954 – 1989) beseitigen sollte, erscheint so immer mehr als eine bröckelige Fassade, die nur verbirgt, wer wirklich das Land beherrscht: Die Elite des Strosnismus, der Zeit der Diktatur. Alfredo Strössner, der mit der Partei Colorados sagenhafte 34 Jahre das Land beherrschte, konnte sich nur deshalb so lange behaupten, da er die Elite des Landes mit verschiedenen Gefälligkeiten und kriminellen Geschäften an sich band.

Die Verfassung von 1992 sollte den Autoritarismus der Strössnerzeit beenden und gab der Legislative im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Verfassungen verhältnismäßig große Macht, die dazu missbraucht wurde, den missliebigen Präsidenten Fernando Lugo am 22. Juli 2012 im Expressverfahren zu entmachten.Im Rückblick scheint es nur eine Frage der Zeit gewesen zu sein, bis der Großunternehmer Horacio Cartes, der zuvor kaum in die alten Strukturen der Colorados integriert war, selbst mit den Honoratioren der Regierungspartei aneinander geraten würde. Cartes‘ Lieblingsprojekt, das Gesetz über privat-öffentliche Partnerschaften, veränderte der Senat im Mai massiv, vor allem mit den Stimmen aus der Colorado-Partei. Cartes wünschte sich ein Gesetz, das der Exekutive weitgehende Befugnisse zur Einbeziehung privater Unternehmen in den öffentlichen Sektor einräumt. Nicht nur die linke Internetzeitung E‘a mutmaßt bereits darüber, dass auch gegen Cartes ein neuer Parlamentsputsch erfolgen könnte.

Das Strössnererbe lebt. Die Tatsache, dass das Parlament anscheinend nach Belieben Präsident*innen absetzen kann, bedeutet nicht, dass es eine demokratische Kontrolle gegen den Autoritarismus gebe. Den Kongress kontrollieren genau die Netzwerke von Großgrundbesitzer*innen, die schon zu Strössners Zeiten das Land beherrschten. Wenn sie sich gegen Cartes positionieren, tun sie dies weniger, um die Demokratie zu verteidigen, sondern ihre eigenen Interessen, die im Agrobusiness und dem Drogenhandel liegen. Der Strosnismus 2.0 ist auf keinen Diktator mehr angewiesen.

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