In Deutschland regen sich alle darüber auf, aber die wirklich Leidtragenden leben in Lateinamerika. Die Rede ist von Glyphosat. Das Herbizid und Menschengift wurde für weitere fünf Jahre von der EU-Kommission zugelassen. Wer diesen Schritt verteidigt, weist darauf hin, dass das Pflanzenschutzmittel von deutschen, europäischen und internationalen Behörden als unbedenklich eingestuft wurde. Die Einschätzung der Internationalen Krebsforschungsagentur (IARC), die 2016 Glyphosat als „wahrscheinlich krebserregend“ bezeichnet hat, relativieren sie mit dem Argument, dass die IARC nur sage, ob etwas generell krebserregend sein könnte. In welchen Mengen Menschen den Stoff dann zu sich nehmen müssen, um wirklich Gefahr zu laufen, an Krebs zu erkranken, sei damit nicht gesagt. Gerne vergleichen die Verteidiger*innen von Glyphosat das Unkraut-Gift mit Wurst oder rotem Fleisch. Auch diese beiden Lebensmittel seien laut IARC wahrscheinlich krebserregend. Und schließlich möchte ja niemand Wurst verbieten, nicht wahr? Na also. Eine völlig hysterische Debatte.
Die Kritik an Glyphosat ist aber nicht hysterisch, sondern extrem wichtig: Erstens geht es nicht nur um uns. Es geht nicht nur darum, wie viel von dem Gift im Urin einzelner EU-Bürger*innen auftaucht. In Ländern wie Argentinien und Brasilien wächst ein Großteil des Sojas, mit dem die deutsche Fleischindustrie am Laufen gehalten wird. Zwischen 2008 und 2010 nutzte Deutschland durchschnittlich eine Fläche von 4,4 Millionen Hektar Land in Südamerika für die Produktion von Futtermitteln. Dort sind Menschen auf ganz andere Weise Glyphosat ausgesetzt. Mit Flugzeugen versprühen die Firmen das Gift auf den in Monokultur wachsenden Plantagen. Wer in einem Dorf wohnt, das an diese Plantagen angrenzt, kommt direkt mit dem Herbizid in Kontakt. Die Folgen sind ein massiver Anstieg an Krebserkrankungen, an Fehlbildungen bei Kindern, an Fehlgeburten. Argentinische Forscher*innen halten den Zusammenhang zwischen dem Agrargift und den Erkrankungen für erwiesen. Eine Entscheidung in der EU hätte Auswirkungen auf Importe aus Argentinien, so dass auch dort der Umgang mit Glyphosat überdacht werden müsste. Und es wäre ein wichtiges Signal für all jene Menschen in Südamerika, die sich gegen die Vergiftung ihres Lebensraumes wehren.
Zweitens steht Glyphosat für eine industrialisierte Landwirtschaft, die nicht nachhaltig ist. Sie schadet Insekten, die für ein Fortbestehen allen Lebens unverzichtbar sind. Sie befördert das Artensterben. Die Nitratbelastung im Grundwasser ist zu hoch. In der industrialisierten Fleischwirtschaft werden so viele Antibiotika verfüttert, dass zunehmend resistente Keime entstehen, die hochgefährlich sind. Und schließlich: Der Anteil der Pflanzen, die resistent gegen Glyphosat sind, steigt stetig. Die Entscheidung für Glyphosat ist daher auch eine Entscheidung für diese Form der Landwirtschaft und gegen nachhaltige Entwicklung. Diese wäre sicher nicht automatisch durch ein Glyphosat-Verbot gefördert worden. Es gibt auch andere chemische Herbizide. Aber auch hier wäre ein Verbot ein Signal gewesen für einen Richtungswechsel in der Landwirtschaft.
Und schließlich steht Glyphosat für ein Oligopol der Herstellerfirmen, das durch die Fusion von Bayer und Monsanto gerade noch mächtiger wird. Diese Firmen behindern nachhaltige Entwicklung, auch wenn sie das Gegenteil behaupten. Das Saatgut der Chemie-Riesen muss jede Saison neu gekauft, immer neues Land urbar gemacht, immer neuer Dünger aufgebracht werden. Die Anbaupflanzen sind weniger vielfältig, weniger anpassungsfähig. Und wir haben noch nicht angefangen, darüber zu sprechen, was diese Form der Landwirtschaft mit den Menschen macht.
Es geht also nicht um Giftrückstände in unserem Urin. Es geht um eine nachhaltige Entwicklung für alle Menschen auf der Welt. Und der hat Landwirtschaftsminister Christian Schmidt gerade den Mittelfinger gezeigt. Darüber müssen wir uns aufregen.