HEILIGENVEREHRUNG UND AUFSTIEGSHOFFNUNG

„Reynosa die Böse, die Straße ist gefährlich …“, rappt das Duo Cano & Blunt über seine Heimatstadt Reynosa im Bundesstaat Tamaulipas an der Nordgrenze Mexikos. Der sogenannte Drogenkrieg in Mexikos Grenzregionen zu den USA hat sich längst in der Popkultur niedergeschlagen. Narco-Rap, also Rap, der im Zusammenhang mit dem narcotráfico, dem Drogenhandel, steht, ist eine relativ neue Ausdrucksform. Künstler*innen wie Cano & Blunt, Lirik Dog, Big Los und andere rappen in teilweise gewaltverherrlichender Weise über die Aktivitäten der Drogenkartelle und insbesondere die „Heldentaten“ einzelner Kartellmitglieder, aber auch über das Leben in den barrios, den urbanen Peripherien, der Großstädte Reynosa und Matamoros. Oft handelt es sich dabei um Auftragsarbeiten für hochrangige Kartellmitglieder, die sich damit Respekt verschaffen oder ein Denkmal nach dem Tod setzen wollen. Dieser Thematik widmet sich Christiane Goßen in einem auf ihrer Dissertation beruhenden Buch. In Narco-Rap untersucht die Kulturwissenschaftlerin den Narco-Rap als ein Musikgenre, das vom organisierten Verbrechen instrumentalisiert wird. Denn auch wenn die Narco-Rapper sich nicht als Mitglieder der Kartelle verstehen, so sind sie durch Auftragsarbeiten mit ihnen verbandelt und nehmen deren Perspektive ein. Goßen möchte herausfinden, zu welcher Darstellung der marginalisierten Bevölkerungsschichten und der barrios das führt. Dazu analysiert sie Songtexte und ergänzt die Ergebnisse durch Interviews, die sie mit Narco-Rappern geführt hat. Die Songs nehmen eine alternative Kartierung vor, denn im Narco-Rap steht das barrio im Fokus, während es meistens in mehrfacher Hinsicht am Rande liegt. Die besungenen Städte sind weit weg von der Hauptstadt und orientieren sich stattdessen zur Grenze mit den USA. Die barrios liegen wiederum in der Peripherie dieser Grenzstädte. Dort, so suggerieren die Texte laut Goßen, sei der soziale Aufstieg und damit ein Ausweg aus dem harten Leben nur durch das organisierte Verbrechen möglich. Folgerichtig werden Drogen in den Songtexten als allgegenwärtiger und hochprofitabler Wirtschaftsfaktor dargestellt.
Einnahmequelle der barrios zu erhalten, erscheint die gewaltsame Auseinandersetzung mit der Staatsmacht unvermeidlich und die Kartellmitglieder werden in den Status heldenhafter Soldaten erhoben. Ein Bindeglied zwischen den kriminellen Aktivitäten und dem Alltag der barrio-Bewohner*innen ist die Verehrung von Heiligenfiguren wie der Santa Muerte oder San Judas Tadeo, die als Beschützer*innen krimineller und marginalisierter Menschen gleichermaßen gelten. Dem immer wieder aufscheinenden Spannungsfeld zwischen einem legalen, aber mühsamen Leben und der Arbeit für das Kartell wird zudem durch einen hypermaskulinen Ehrbegriff begegnet. Demzufolge sind die männlichen Bewohner des barrio mit Stärke und Heldenmut gesegnet – und dadurch prädestiniert dafür, sich in der organisierten Kriminalität zu beweisen. Der konservative und patriarchale Ehrbegriff, den die Kartelle hochhalten, dient dabei als Aufwertung der eigenen, kriminellen Gruppe gegen den Staat. Die Schlussfolgerung, dass es sich bei der im Narco-Rap präsenten Kontrakultur um ein Versprechen nach Aufwertung und Anerkennung marginalisierter Gebiete und ihrer Bewohner*innen handelt, das letztlich unerfüllt bleibt und nur den Kartellen selbst nutzt, ist überzeugend. Gut gelungen sind auch die Stellen, an denen die Autorin eine innere Logik des Narco-Raps herausarbeiten kann, die sich zwischen Heiligenverehrung, Aufstiegshoffnung und patriarchalen Männlichkeitsfantasien aufspannt. Auch das Dilemma der Rapper, die eigentlich keine Kriminellen sein wollen, wird eindrucksvoll dargestellt. Leider wird der Gesamteindruck des Buches durch die eingenommene Perspektive getrübt.

Goßen schreibt mit der Stimme der unsichtbaren und vermeintlich immer objektiven Wissenschaftlerin. Ihre eigene Position und Perspektive benennt sie nicht. Das hat in der Wissensproduktion von Menschen aus dem Globalen Norden über den Globalen Süden Tradition und mag in dem akademischen Feld, an das sich das Buch primär richtet, Standard sein. Dennoch steht diese Praxis zu Recht in der Kritik, da sie das Machtgefälle zwischen den Forschenden aus dem Norden und den Erforschten im Süden reproduziert. In dem Buch lässt diese Perspektive den Narco-Rap und die barrios der beschriebenen Grenzstädte als eine fremde Welt erscheinen, die von, wie es wörtlich heißt, „archaischen Strukturen“ und ständiger Gefahr geprägt ist. Die Beschreibung von brenzlichen Erfahrungen aus ihrer Feldforschung, mit denen Goßen das Buch einleitet und abschließt, lassen an eine Abenteuererzählung denken und verstärken diesen Eindruck weiter. Die Protagonist*innen werden teilweise klischeehaft beschrieben, etwa wenn es über einen interviewten Rapper heißt, „der Geruch seines Aftershaves ist so aufdringlich wie es die Ketten und Armbänder aus Gold sind“. Wenn Widersprüchliches zu mehr Komplexität hätte beitragen können, finden sich Leerstellen. So wird etwa die Existenz von Frauen wie Blue Fronteraz, die als Narco-Rapperinnen aktiv sind, ausgeklammert. Bei den Interpretationen werden oft implizit eurozentrische Maßstäbe angelegt. So scheint die Autorin anzunehmen, dass Sozialkritik im Rap nur das sein könne, was aus dem US-amerikanischen Hip-Hop bekannt ist. Im Narco-Rap findet sie im Vergleich lediglich „trotzige Auflehnung“. Hier verschenkt die Autorin Potenzial für Erkenntnisse, die ihre Untersuchung aus einer gesellschaftspolitischen Perspektive noch interessanter gemacht hätten.

Dasselbe gilt für den Umgang mit bestehenden Diskursen und Machtverhältnissen. So wird beispielsweise ohne Quellenangaben erklärt, dass „besonders die unteren Gesellschaftsschichten anfällig für die Infiltration durch das organisierte Verbrechen sind“, ohne etwa die Verstrickung staatlicher Akteur*innen zu thematisieren. Insgesamt limitieren diese blinden Flecken den Erkenntnisgewinn der Analyse. Das Buch besticht dennoch durch die reichhaltigen Beschreibungen auf Basis der Songtexte und die vorsichtigen Schlussfolgerungen, die das zweifellos spannende und relevante Thema für eine weitere Auseinandersetzung öffnen. Um über eine Leser*innenschaft eher konservativer Kulturwissenschaftler*innen hinaus vollends empfehlenswert zu sein, hätte es jedoch einer stärkeren Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse bedurft.

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