Dossier | Indigene Justiz | Nummer 457/458 - Juli/August 2012

// DOSSIER: INDIGENE JUSTIZ

Indigene Justiz versucht, kulturelle Unterschiede mithilfe eigener Rechtsprechungen umzusetzen. Dabei entsteht jedoch ein problematisches Verhältnis zu staatlichen Rechtsordnungen

LN

 

Indigene Autorität der Ponchos Rojos hält einen Chicote als Symbol seines Amtes // Foto: Sub [Cooperativa de fotógrafos]
(Download des gesamten Dossiers)

Lynchjustiz, Willkür, Prügelstrafen – es sind keine positiven Assoziationen, die mit dem Thema indigene Justiz geweckt werden. Sicherlich ist die indigene ebenso wenig wie die staatliche Rechtsprechung ein Garant für faire und gleichberechtigte Rechtsprechung in Lateinamerika. Andererseits sind Gesetze kulturelle und moralische Normen, geronnen in Worte. Eine Kultur mit eigener Kosmologie und Moral hat das Recht auf eine eigene Justiz. Laut der UN-Deklaration über indigene Rechte haben Indigene nicht nur das Recht, ihre eigenen politischen, sozialen und kulturellen Lebensweisen zu pflegen, sondern eben auch ihr eigenes Justizwesen.

In diesem Dossier möchten die Lateinamerika Nachrichten die Diskussion um indigene Justiz aus einer polemischen Ecke herausholen und die vielfältigen Facetten dieses Themas aufzeigen. Dabei stellt sich für uns das Dilemma, dass wir bei einer Bewertung konkreter Fälle indigener Justiz einerseits immer aus einer europäischen Perspektive argumentieren, da wir nicht selbst betroffen sind. Anderseits haben wir den Anspruch, uns an die Seite von indigenen Akteuren zu stellen, welche die Rechtspraktiken indigenen Justiz aus einer emanzipatorischen Perspektive heraus kritisieren, die von der Universalität der Menschenrechte ausgeht. Welche indigenen Rechtsordnungen können mit dem Hinweis auf kulturelle Differenz gerechtfertigt werden – und welche nicht? Zur Beantwortung dieser Frage sollte zuerst geklärt werden, wer überhaupt von wem als indigen definiert wird. Eine Möglichkeit ist, die Individuen selbst zu fragen: Was bist du?

Hierbei besteht das Problem, dass Staaten gerne verbindliche Aussagen zu Identitäten haben wollen, beispielsweise in der Frage nach der Staatsbürgerschaft. Aber Menschen verändern ihre Antwort auf diese Frage. Sie hängt auch davon ab, ob die Menschen von der Antwort Vorteile oder Nachteile haben. Eine verbindliche Aussage zur eigenen Identität trägt den unterschiedlichen lebensweltlichen Kontexten der Menschen nicht Rechnung.

Nationale und internationale Netzwerke von Indigenen verbinden Tradition und Modernität, Territorialität und Mobilität. Es gibt verschiedene Vorstellungen des guten Lebens, des gesellschaftlichen Fortschritts und von Gerechtigkeit. Wenn aus dem Wertepluralismus der Rechtspluralismus folgen soll, dann muss auch geklärt werden, für wen, wann und wo indigene Rechtsprechung gelten soll, sodass Willkür und doppelte Standards ausgeschlossen werden.

Damit in Bolivien eine Straftat unter die jeweilige indigene Rechtsprechung fällt, müssen drei Bedingungen erfüllt sein: Sie muss von einer Person, die sich selbst als indigen identifiziert, auf indigenem Territorium begangen worden sein und in den Rahmen gesetzlich definierter indigener Tatbestände fallen.

Im Gegensatz zu anderen Ländern versucht Bolivien, rechtsfreie Räume zu schließen und die Verfahrensregeln für die indigene Justiz festzulegen. Von 2007 bis 2009 wurde dazu die Verfassung überarbeitet. Ende 2010 ist ein Gesetz zur ihrer Umsetzung der Verfassung erlassen worden. Es hat sich also noch keine Rechtspraxis etabliert. Laut Verfassungstext soll sich der bolivianische Staat nach den Bedürfnissen der Bevölkerung als plurinationales Gebilde neu erfinden. Dies beschreiben der Jurist Farit Rojas Tudela und der Politologe Juan Pablo Neri in ihrem Beitrag über den Verfassungsprozess in Bolivien.

Wie diese Ideen in der bolivianischen Realität umzusetzen sind, ist eine schwierige Frage. Die indigene bolivianische Aktivistin Maria Eugenia Choque Quispe übt Kritik an den Regeln für die Indigene Justiz. Die Räume, die noch bleiben, seien zu klein, um wirklich handlungsfähig zu sein, kritisiert sie im Interview. Dabei liegen die Vorteile der indigenen Justiz für sie vor allem darin, dass die juristischen Prozesse der indigenen Gemeinden schnell und effizient seien und die Rechtsautoritäten genau wüssten, mit wem sie es zu tun hätten. Außerdem betont sie, dass das Recht in der indigenen Justiz eher gemeinschaftlich verstanden werde, die staatlichen Justiz hingegen eher auf das Individuum ausgerichtet sei. Die spanische Aktivistin Lola Cubells beschreibt die indigene Rechtsprechung in Chiapas als eine Möglichkeit für die Tzeltales, Konflikte im Gespräch friedlich zu lösen. Die Ausbildung ihrer Rechtsautoritäten steht seit kurzem auch Frauen offen.

Kritiker_innen der indigenen Justiz auf Verfassungsebene befürworten statt eines alternativen Systems die Stärkung der bestehenden Justiz, den Kampf gegen die Korruption und den Rassismus im bestehenden System sowie die Ergänzung durch neue Gesetzte für indigene Inhalte.

Denn wie kann eine indigene Justiz ihre politische Unabhängigkeit und Neutralität garantieren und nicht einfach dem Stärkeren Recht geben? Dieses Problem thematisiert Niels Barmeyer, der die „Usos y Costumbres“ in Oaxaca untersucht hat. Dort nutzen Gruppen, die innerhalb der indigenen Strukturen ihre Interessen nicht durchsetzen konnten, die Einflussmöglichkeiten des Staates aus, um diese Strukturen außer Kraft zu setzen. In diesem Fall bietet die indigene Justiz keine Alternative zu einem korrupten staatlichen Rechtssystem, sondern reproduziert dessen Probleme.

Der zentrale Kritikpunkt sind Strafen und Praktiken, die gegen die Menschenrechte verstoßen, wie die Einschränkung individueller Freiheitsrechte oder, im extremem Fall, auch Morde. Über dieses Extrem berichtet der Ethnologe Mathias Lewy in seinem Artikel über Venezuela. Jenseits der staatlichen Justiz liegen dort spirituelle Ideen den Morden zu Grunde. Lewy beschreibt, wie es zu dieser Situation auch dadurch kommen konnte, dass indigene Autoritäten, in diesem Falle Schaman_innen, ihren Einfluss verloren hätten beziehungsweise gar nicht mehr existieren würden.

Die vielen offenen Fragen und Probleme sind gegenwärtig nicht zu lösen. Im Interview äußert der indigene Aktivist Alancay Morales aus Costa Rica jedoch die Hoffnung, dass die Widersprüche und Konflikte zwischen staatlicher und indigener Justiz mit der Zeit pragmatisch gelöst werden können.

Das Dilemma zwischen der Achtung kultureller Differenz und dem Postulat der Gleichheit vor dem Gesetz kann jedoch nicht so einfach gelöst werden. Zur Einleitung des Dossiers versucht die Politologin Anna Barrera trotzdem, einen differenzierten Blick auf die indigene Rechtsprechung in Lateinamerika zu werfen.

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