Dossier | Indigene Justiz | Nummer 457/458 - Juli/August 2012

Zwischen Autonomie und Manipulation

Hintergründe und aktuelle Situation indigener Rechtspraxis in Oaxaca

Im Bundesstaat Oaxaca wird das indigene Gewohnheitsrecht von der Politik instrumentalisiert und ausgehöhlt. Politische Aktivist_innen mittlerweile in Regierungsverantwortung versuchen trotzdem die indigene Autonomie seitens der Politik zu fördern. Ein widersprüchliches Panorama.

Niels Barmeyer

Indigene Autonomie ist ein heißes Thema in Oaxaca, seit im Sommer 2010 die Vier-Parteien-Allianz von Gabino Cué die Gouverneurswahlen gewonnen hat und viele Schlüsselfiguren aus der Indigenenbewegung in die neue Landesregierung gewechselt sind. So ist der ehemalige Chef der Indigenenorganisation Ser Mixe, Adelfo Regino, neuer Minister für Indigene Angelegenheiten. Für die Zapatist_innen war er in den 1990er Jahren als Berater in den Verhandlungen mit Vertreter_innen des mexikanischen Staates über eine Verfassungsänderung tätig. Der Gesetzesentwurf scheiterte zwar 2001 am Widerstand der Parteien PAN, PRI und PRD im Kongress, aber zehn Jahre später bemühen sich in Oaxaca einige der ursprünglichen Protagonist_innen um eine Umsetzung auf Länderebene.

Im südlichen Bundesstaat Oaxaca erklärt sich die Hälfte seiner Bewohner_innen einer der 17 verschiedenen indigenen Ethnien zugehörig. Zudem ist der knapp vier Millionen Einwohner_innen zählende Staat einer der ärmsten Mexikos. In starkem Kontrast hierzu steht der Reichtum an Bodenschätzen und natürlichen Ressourcen, die sich zumeist auf den Territorien der indigenen Bevölkerung befinden – doch bei der Ausbeutung werden die dort lebenden Menschen noch immer nicht konsultiert oder am Gewinn beteiligt.

Aufgrund seiner unzugänglichen Geographie und einer Geschichte hartnäckigen Widerstands gegen Besatzer_innen hat sich gerade in Oaxaca eine große Vielfalt an indigenen Sprachen und kulturellen Praktiken entwickelt. Heute noch sind es die Selbstversorger_innen-Gemeinden von Zapoteken, Mixes, Mixteken, Triquis, Chinanteken und Chontales, wo die Usos y Costumbres, ein „Gewohnheitsrecht“, das Zusammenleben in der Dorfgemeinschaft organisiert. Dieses Gewohnheitsrecht ist nicht einheitlich, doch sind einige Elemente besonders charakteristisch: das Cargo-System, die Asamblea, Tequio und Gozona, sowie eine auf Opfer-und-Täter-Ausgleich basierende Justiz.

Das Cargo-System stellt eine Hierarchie politischer und religiöser Ämter dar. Jugendliche in der Pubertät übernehmen Boten- und Polizeiaufgaben und erst in fortgeschrittenem Alter werden Posten wie Agente (Gemeindevorstand) und Alcalde (Richter) übernommen. Die wichtigen Ämter werden meist jährlich durch die Gemeindeversammlung bestimmt, in der volljährige Gemeindemitglieder, aber oft nur jene mit eigenem Landtitel, eine Stimme haben. Sämtliche Amtsinhaber_innen in durch Usos y Costumbres verwalteten Gemeinden verrichten ihren Dienst an der Gemeinschaft ohne Bezahlung und können jederzeit von der Gemeindeversammlung abberufen werden. Trotz der basisdemokratischen Elemente sind Frauen sowohl als Stimmberechtigte als auch als Amtsinhaberinnen eine Seltenheit. Eine Ausnahme bilden zumeist Witwen oder jene wachsende Zahl Frauen, deren Männer in die USA oder den Norden Mexikos migriert sind.

Tequio ist ein unentgeltlicher Dienst der an Wochenenden gemeinsam verrichtet wird. Dies kann die Instandhaltung der Gemeindegrenze oder die Reparatur einer durchs Dorf führenden Straße sein. Gozona hingegen ist eine Arbeitsleistung für Verwandte oder Nachbar_innen, beispielsweise bei der Ernte, die bei Gelegenheit durch eine entsprechende Gegenleistung entgolten wird.

Die Rechtsprechung nach Usos y Costumbres ist von allen beschriebenen Elementen des Gewohnheitsrechts von größter Relevanz für die Beziehung zwischen Staat und indigenen Völkern, da sie die staatliche Rechtsprechung ersetzt. Entsprechend ist sie integraler Bestandteil jeglicher Forderungen nach indigener Autonomie in Mexiko. Auf vermeintliche Normenverstöße folgt in der Regel ein 24-stündiger Aufenthalt des Delinquenten im Dorfgefängnis. Die Gerichtsverhandlung vor einem Gremium aus Dorfautoritäten findet am folgenden Abend in Anwesenheit des Opfers statt und zielt auf eine Entschädigung ab, die künftige Konflikte und Racheakte zu vermeiden sucht.

Obwohl die Ursprünge des indigenen Gewohnheitsrechts weit vor der Eroberung durch die Spanier liegen, entstammen viele seiner Elemente der Kolonialzeit. Weitere kamen mit den Verwaltungsstrukturen für kollektiven Landbesitz hinzu, die sich mit der Landreform im Zuge der Mexikanischen Revolution etablierten.

In den 1970er Jahren begann sich republikweit ein indigenes Selbstbewusstsein zu artikulieren, das sich in Oaxaca mit der Gründung von Basisorganisationen und Piratenradios manifestierte, die in indigenen Sprachen sendeten. Der eigentliche Durchbruch kam erst 1994 mit dem Zapatistenaufstand. Motiviert durch die landesweiten Kampagnen der indigenen Rebell_innen und die Medienaufmerksamkeit, entstanden überall neue Strukturen indigener Selbstorganisation. Interne Debatten darüber, wie indigene Autonomie in Mexiko konkret aussehen könne, wurden auch außerhalb von Chiapas auf großen multiethnischen Zusammenkünften wie dem Congreso Nacional Indígena geführt und entsprechende Forderungen formuliert.

Der Staatsapparat reagierte darauf mit Repression und jenen Strategien der Vereinnahmung, die der PRI über viele Jahrzehnte die Kontrolle über die ländliche Peripherie gesichert hatten. In Oaxaca wurden so Mitte und Ende der 1990er Jahre von den PRI-Regierungen Diódoro Carrascos und José Murats Gesetze verabschiedet, die den indigenen Gruppen Oaxacas weitergehende Autonomierechte einräumten als irgendwo sonst in der Republik. Zeitgleich und beauftragt durch dieselben Regierungen wurde indigene Selbstorganisation durch Bespitzelung, politische Morde und den Einsatz von Polizei und Militär unterdrückt und zerschlagen.

Vor allem die Gesetzesnovellen zum Wahlrecht führten zu drastischen Veränderungen der Praxis in den 570 municipios von Oaxaca, von denen inzwischen 418 nicht mehr über das Parteiensystem, sondern mittels Usos y Costumbres ihre Verwaltung bestimmen. Was auf den ersten Blick wie ein Erfolg indigener Selbstorganisation aussieht, gestaltet sich bei genauerem Hinsehen ambivalent. So hatte die PRI in den Wahlen vor der Gesetzesänderung auf dem Land viele Stimmen an Oppositionsparteien verloren und die Initiative mutet an wie ein geschickter Schachzug, mit dem Ziel, den selben Cliquen die Macht zu erhalten, die auch schon mit Hilfe der PRI staatliche Gelder und Land unter ihrer Kontrolle hatten. Zudem laufen gewohnheitsrechtliche Abstimmungen trotz ihrer basisdemokratischen Elemente oft Prinzipien der Gleichberechtigung zuwider, wenn nur etablierten Familienvätern mit Landtiteln ein Stimmrecht eingeräumt wird. Ein weiterer kritischer Punkt liegt in der Möglichkeit der Staatsregierung, bei Konflikten innerhalb der Gemeinde die gewählten Autoritäten abzuberufen (desaparición de poderes) und eine_n Verwalter_in einzusetzen, die in der Regel der stärksten Partei im Landesparlament angehört – in Oaxaca immer noch die PRI. Die Präsenz eines_r externen Verwalter_in verstärkt in der Regel jedoch existierende Spannungen zwischen den Interessengruppen, die mit gewohnheitsrechtlichen Praktiken eventuell hätten gelöst werden können. De facto hat die durch die Einführung der Usos y Costumbres erzeugte Rechtsunsicherheit bei gleichzeitiger willkürlicher Eingriffsmöglichkeit des Staates Konfliktherde geschaffen, die langfristig eine indigene Autonomie in Oaxaca eher verhindern.

Im Sommer 2010 erschütterte ein politisches Erdbeben Oaxaca, als der Kandidat der Oppositionsallianz aus sozialdemokratischer PRD, Convergencia (Mitte-links), PT (links) und konservativ-katholischer PAN, Gabino Cué, die Gouverneurswahlen gegen Eviel Pérez von der PRI gewann. Der neue Gouverneur hatte bei seinem Amtsantritt den Rückhalt weiter Teile der sozialen Bewegung und sorgte dafür, dass viele ihrer erfahrensten Leute in die Regierung übernommen wurden. Allerdings wurden die progressivsten Köpfe nicht auf die einflussreichsten Ministerien verteilt, sondern nahmen vor allem in den Bereichen Menschenrechte, Frauen und indigene Angelegenheiten ihre Arbeit auf.

Das Ministerium für Indigene Angelegenheiten (SAI) wurde zum Sammelbecken ehemaliger Vorkämpfer_innen für indigene Rechte. Eines ihrer erklärten Ziele ist die Umsetzung des Ley Indígena (Indigenengesetz), das zwar bereits 1998 in die Verfassung von Oaxaca aufgenommenen wurde, seither aber – ohne entsprechende Sekundärgesetze – unwirksam blieb und dessen Existenz weiten Teilen der Bevölkerung noch unbekannt ist. Gemeinsam mit den meisten indigenen Organisationen in Mexiko, hat die neue Belegschaft der SAI das Ziel, im Ley Indígena von 1998 nur teilweise enthaltene Rechte in der Sekundärgesetzgebung von Oaxaca zu verankern. Diese beinhalten die Autonomie indigener Bevölkerungsgruppen, samt Rechtssystemen und Territorien.

Dabei werden mit Territorium nicht nur das Land, Bodenschätze und natürliche Ressourcen bezeichnet, sondern auch die auf dem entsprechenden Gebiet vorhandene Kultur, inklusive Sprachen, Anbaumethoden, Cargo-System, Rechtsnormen etc. Die in der Landeshauptstadt ansässige Allianz indigener und Menschenrechts-NGO Colectivo Oaxaqueo en Defensa de los Territorios (Oaxaquenisches Kollektiv zur Verteidigung der Territorien), die seit 2009 existiert und momentan den Widerstand gegen den Bergbau im Tal von Ocotlán begleitet, ist beispielhaft für die Weiterentwicklung und Publikmachung dieses Territorienkonzepts.

Vor der konkreten Umsetzung des Ley Indígena steht eine breit angelegte Informationskampagne, bei der die SAI sich auf ihre Kontakte zu einer Reihe indigener NGOs und deren Basisgemeinden stützt. Allerdings gestalten sich eineinhalb Jahre nach dem Regierungswechsel diese Beziehungen nicht immer einfach, weil die Erwartungen der Basis nach raschen Veränderungen in weiten Teilen unerfüllt geblieben sind. Dies hat seine Ursache vor allem in den völlig anders gelagerten Interessen jener Teile der Regierung, die über Macht und Ressourcen verfügen und die Ministerien für Wirtschaft und innere Sicherheit kontrollieren. Ihnen sind die Interessen ausländischer Großinvestor_innen wichtiger als die der ehemaligen Basis ihrer Kolleg_innen aus der SAI. So hat sich der Gouverneur Cué kurz nach seinem Amtsantritt auf Seiten ausländischer Bergbauunternehmen positioniert, deren Präsenz in Regionen lukrativer Erzvorkommen in den vergangenen Monaten in Oaxaca zu Toten und Verletzten geführt hat. Im Januar und März wurden beispielsweise zwei Aktivisten ermordet, die in der zapotekischen Gemeinde San José Progreso den Widerstand gegen den kanadischen Konzern Fortuna Silver organisierten.

 

(Download des gesamten Dossiers)

 


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