Dossier | Dossier 18 - Vivas nos queremos | Nummer 558 - Dezember 2020 | Venezuela

KOLLEKTIV VERÄNDERUNGEN BEWIRKEN

Femizide, staatliches Handeln und soziale Bewegungen in Venezuela

Femizide sind in Venezuela seit 2014 im „Grundgesetz über das Recht der Frauen auf ein Leben ohne Gewalt” definiert. Seit 2019 steigen jedoch die Fallzahlen, ohne dass der Staat wirksam darauf reagiert. Angesichts dieser Untätigkeit hat die feministische Bewegung selbst Strategien zur Bewältigung dieser Lage entwickelt. Viele Probleme verschärfen sich im Zuge der Covid-19-Pandemie.

Von Aimee Zambrano, Übersetzung: Ulrike Geier

Die Angst wird die Seiten wechseln Die Straßen sind unsere. Die Nacht auch. #WirWollenUnsLebend

Illustrationen: Pilar Emitxin, @emitxin

Es ist ein heißer Sonntag im Juli, der Strand ist voller Familien. Kinder spielen im Sand, Frauen sonnen sich. Die Idylle wird abrupt gestört von einer Gruppe Polizisten, die den Ort absperren und mit Schaufeln beginnen, ein Loch zu graben. Das weckt die Neugier der Tourist*innen, die tuschelnd versuchen zu erspähen, was der Sand verbirgt: Es ist der leblose Körper von Milagros Naguas, einer 46-jährigen Frau und Mutter aus dem Bundesstaat Aragua, die zusammen mit ihrem Mann Strandliegen und Sonnenschirme vermietete und Kokosnüsse am Strand verkaufte.

Der Fall Milagros Naguas ist nur einer von 167 Femiziden, über den das Onlinemedium Utopix 2019 in seinem allmonatlichen Register berichtete. Weil der venezolanische Staat seit 2016 keine offiziellen Zahlen zu diesem Tatbestand veröffentlicht, ist nun eine andere Art der Dokumentation nötig. Laut venezolanischem Recht ist der Femizid „die extremste Form geschlechtsspezifischer Gewalt, die auf dem Hass oder der Geringschätzung einer Person aufgrund ihres Frau-Seins beruht, und die in ihrem Tod endet, sei es im öffentlichen oder privaten Umfeld”. Trotz diverser staatlicher Maßnahmen, um dem Problem der Gewalt gegen Frauen zu begegnen, steigt die Zahl der Femizide weiter an. Das Grundgesetz über das Recht der Frauen auf ein Leben ohne Gewalt, das 2014 reformiert wurde, beschreibt 21 Gewaltformen und schafft den Nationalen Ombudsrats für Frauenrechte und defensoras comunales (Gemeindeverteidigerinnen). Sogar eine Nationale Kommission für Geschlechtergerechtigkeit im Justizwesen, mit 91 Gerichtshöfen für Gewaltdelikte gegen Frauen sowie 714 spezialisierten Staatsanwaltschaften, wurde eingerichtet.

Trotzdem steigen die Zahlen weiter: Zwischen Januar und September 2020 zählten verschiedene Medien 195 Femizide – 46 Prozent mehr als im vergangenen Jahr. Allerdings ist dieser Anstieg nicht nur in Venezuela zu beobachten. In ganz Lateinamerika sind die Anzeigen wegen geschlechtsspezifischer Gewalt, ebenso wie die von den Beobachtungsstellen vorgelegten Zahlen, in erschreckendem Maße gestiegen. Dies geht größtenteils mit dem Vormarsch neoliberaler Politiken auf dem Kontinent einher, die, indem sie sich ihrer Körper und Arbeitskraft bedienen, das Leben vieler Frauen direkt betreffen.

Denn es sind besonders Frauen, die die Auswirkungen der Armut und der extremen Ausbeutung in endlosen Arbeitsschichten zu spüren bekommen. Dadurch sind sie täglich vielfachen Formen von Gewalt ausgesetzt. Venezuela bildet keine Ausnahme. Vom Staat ist nun energisches Handeln gefordert, wie die Umsetzung kurz-, mittel- und langfristiger Pläne zur Bekämpfung der Frauen betreffenden Ungleichheiten. Es braucht Maßnahmen, die alle öffentlichen Bereiche, wie Gesundheit, Bildung, Kommunikation und Kultur, umfassen. Ein gutes Beispiel sind Kampagnen für Kinder und Jugendliche zu geschlechtsspezifischer Gewalt, die die traditionellen Geschlechterrollen dekonstruieren und schon im Kindesalter gegen Stereotype angehen. In Venezuela ist die Lage allerdings noch durch den aktuellen politischen Kontext verkompliziert. Das Land befindet sich in einer ernsten Wirtschaftskrise und ist von der Blockade durch das Ausland schwer getroffen.

Aktivistinnen wie Maritza Sanabria vom feministischen Kollektiv Mujer Género Rebelde (MUGER) meinen, erschwerend komme hinzu, dass trotz vorhandener fortschrittlicher Rechtsinstrumente „weder das Gesetz mit dem notwendigen Nachdruck angewendet wird, noch die Institutionen in angemessenem Maße auf das Thema der Gewalt gegen Frauen und Femizide reagieren. Verfahren verzögern sich, Opfer leiden unter Reviktimisierung, im Justizsystem herrscht Korruption. Außerdem ist das Personal in den Beschwerdestellen nicht für das Thema sensibilisiert und das Gesetz wird nur nach dem Ermessen der Staatsanwält*innen angewendet”.

Schon der Weg zur Anzeige geschlechtsspezifischer Gewalt ist voller Hürden. Es beginnt damit, dass Frauen, wenn sie eine Anzeige aufgeben wollen, nicht angehört werden, weil sie einen kurzen Rock tragen – und das, obwohl es hierfür keinen Dresscode gibt. Es setzt sich damit fort, dass Polizeibehörden versuchen, eine „Mediation” durchzuführen, die im Gesetz überhaupt nicht existiert. Sie erzwingen einen „Dialog” zwischen Täter und Überlebender und machen letztere damit erneut zum Opfer. So sehen Frauen sich immensen Verzögerungen bei der Klärung der Fälle ausgesetzt.

Dieser weibliche Körper gehört mir. Er wird nicht angefasst. Er wird nicht vergewaltigt. Er wird nicht getötet.

Ein Beispiel dieser Reihe von Straffreiheiten ist der Fall von Andreína Torrealba, Sprecherin und Jugendbeauftragte der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV). Sie hatte in ihrer Beziehung Vergewaltigung, physische und psychische Gewalt sowie Belästigung durch ihren Partner erlitten. Es gelang ihr aber, dies bei den polizeilichen Behörden zur Anzeige zu bringen. Dort begann ein Prozess schrecklicher Reviktimisierung seitens der verschiedenen Justizbehörden: Zunächst ließ man sie bei der Nationalgarde im Bundesstaat Bolívar keinen detaillierten Bericht abgeben. Später, bei der medizinisch-forensischen Untersuchung, wurden nur die Hämatome an den Armen berücksichtigt und kein gynäkologisches Gutachten erstellt. Dieser Vorgang verstößt gegen das von der Staatsanwaltschaft angeordnete Protokoll. Bei der Vorladung auf der polizeilichen Koordinationsstelle wurde Torrealba nicht nur vom Polizeipersonal belästigt, sondern auch von ihrem Peiniger überrascht, der versuchte, ihre Aussage zu diskreditieren und sie zu zwingen, die Anzeige fallen zu lassen. Es gibt bisher keine Fortschritte bei der Aufklärung ihres Falls. Der Aggressor läuft noch immer frei herum, ohne dass Schutzmaßnahmen ergriffen wurden.

Letztendlich ist eine der Hauptforderungen der feministischen Bewegungen eine Gesetzesreform und die Kategorisierung des Feminizids in Abgrenzung zum Femizid. In Venezuela wird dieser Terminus verwendet, um einen Femizid zu beschreiben, bei dem der Staat sich durch sein Handeln oder unterlassenes Handeln mitschuldig gemacht hat. So sollen direkte Sanktionierungen der beteiligten Staatsbeamt*innen ermöglicht werden. Ein eindeutiges Beispiel dafür ist die Ermordung der Unternehmerin Karla Ríos durch ihren ehemaligen Partner am 31. Juli 2020. Trotz der gegen ihn erstatteten Anzeigen wegen physischer und psychischer Gewalt und Entführung war der Mann nach Zahlung einer Geldstrafe wieder freigekommen. So hat der Staat zugelassen, dass er seine Drohung, Ríos zu töten, in die Tat umsetzte. Weil sich Situationen wie diese tagtäglich wiederholen, beschlossen Organisationen wie Tinta Violeta, Faldas R und die venezolanische Vereinigung für eine alternative Sexualerziehung (AVESA), sich zusammen zu schließen. In gemeinsamer Arbeit unterstützen sie nun Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind. Tinta Violeta hat den ehrenamtlichen Dienst Mayell Hernández für die Betreuung und Begleitung von Überlebenden ins Leben gerufen. Sie erhalten Unterstützung vom Kollektiv Faldas R, das die Freiwilligen in rechtlichen Fragen ausbildet und berät, AVESA vermittelt dem Personal psychologische Kenntnisse. Das Programm ist nach der Tanzstudentin Mayell Hernández benannt, die einem Femizid zum Opfer fiel.

Die Aktionen dieser feministischen Organisationen beschränken sich aber nicht nur auf Bildungsarbeit und die Auseinandersetzung mit einzelnen Fällen. Daniella Inojosa, Mitglied der Organisation Tinta Violeta und eine der Gründerinnen des Hilfsdienstes Mayell Hernández erklärt, dass sie weiterhin „beständig Beschwerden beim Justizsystem einreichen und Schutzanträge stellen müssen, weil die Behörden in diesen Angelegenheiten untätig zusehen“. Diese Beschwerden haben sie dazu gebracht, Strategien zu entwicklen, wie sie Unrecht anzeigen, das einigen Überlebenden von machistischer Gewalt widerfahren ist. Wie beispielsweise im Fall von Andreína Torrealba, der die Organisationen dazu bewegt hat, eine Social-Media-Kampagne unter dem Slogan „Si tocan a una, nos tocan a todas” (auf Deutsch etwa: „Ein Angriff auf eine ist ein Angriff auf uns alle“) zu starten. Die Kampagne läuft bis heute und prangert den immer noch in Freiheit lebenden Täter an.

Trotz der Ungerechtigkeiten, der Sanktionen und des Coronavirus unterstützen und mobilisieren die feministischen Bewegungen weiterhin. Denn nur als Kollektiv können sie Veränderungen bewirken, die das Leben tausender Frauen verbessern werden. Weil die Quarantäne in Pandemiezeiten die Situation noch verschlimmert hat, haben feministische Bewegungen und Einzelpersonen nun einen Forderungskatalog veröffentlicht. Zu der Liste gehört die Umsetzung eines umfassenden Versorgungsplans und die Einrichtung von Frauenhäusern. Sie fordern außerdem eine öffentlichkeitswirksame Kampagne zur Aufklärung über verschiedene Formen von Gewalt und Hilfsangebote. Maritza Sanabria fasst es treffend zusammen: „Wir wollen, dass der Staat sich umschaut und uns zuhört. Denn wir übertreiben nicht, wenn wir sagen: Sie töten uns. Das ist die Pandemie!”

Aimee Zambrano ist Anthropologin und hat an der Universidad Central de Venezuela studiert. Sie ist Gründerin des Femizid-Monitors und Redaktionsmitglied des kollektiv organisierten Onlinemediums Utopixs. Außerdem arbeitete sie als Fernsehproduzentin und Autorin. 2018 gewann Zambrano den Nationalen Journalismuspreis in der Kategorie Grafik. Twitter: @AimeeZambranoO

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