Literatur | Nummer 309 - März 2000

Endstation Miami

Émile Olliviers Roman Seid gegrüßt ihr Winde schildert haitianische Fluchtversuche

Haiti verliert bei Émile Ollivier seine Grenzen. Haiti, das ist nicht einfach der Westteil jener Karibikinsel, sondern es liegt auch überall dort, wo HaitianerInnen – mit der Leidensgeschichte ihres Landes im Gepäck – hinfliehen mussten. Der Roman Seid gegrüßt ihr Winde unternimmt den Versuch, sehr unterschiedliche Schicksale als eine gemeinsame Geschichte zu verstehen. Dabei ist Ollivier ein großes Buch gelungen.

Valentin Schönherr

Vielleicht wäre der französische
Originaltitel dieses Buches, Passages, doch besser direkt übersetzt worden. „Passagen“ oder „Überfahrten“, das hätte einen treffenderen Titel für den vielschichtigen Roman abgegeben als der, den es nun bekommen hat. Seid gegrüßt ihr Winde, das im Buch selbst eigentlich nur eine Abschnittsüberschrift ist, ist sogar etwas makaber. Die Winde sind es zwar, die jener Schar boat people um Amédée Hosange dazu verhelfen, mit ihrem Segelschiff von der haitianischen Küste aus in See zu stechen. Die Winde – in Form eines verheerenden Sturmes – beenden diesen verzweifelt-stolzen Fluchtversuch aber auch auf schreckliche Weise. Kurz vor Florida bricht das Schiff entzwei, und zwei Drittel der Passagiere überleben die Katastrophe nicht. Auch der zweite Erzählstrang dieses Romans wäre mit Passagen einbezogen worden. Die Geschichte des Exilhaitianers Normand, der in Montreal und Miami lebt, hat mit Winden nur wenig zu tun.
Émile Ollivier beginnt mit einem Kontrast, an dessen Schnittstelle einem schnell die Luft wegbleiben kann. Zunächst stellt er uns aus dem Blickwinkel einer jungen Frau das haitianische Dorf Port-à-l’Ecu vor. Die Erzählerin verliebt sich in den viel älteren Amédée Hosange, einen „alten Fuchs“, wie es heißt, der in der Welt herumgekommen ist – sie bekommt ihn auch, und das Dorfleben nimmt seinen alltäglichen Lauf. Rasch wird jedoch deutlich, dass wir uns nicht in beschaulicher Vorzeit, sondern in den siebziger, achtziger Jahren befinden: Die EinwohnerInnen von Port-à-l’Ecu müssen mit ansehen, wie ihr Land zerstört wird, wie die Militärbanden Angst und Schrecken verbreiten, der Regen ausbleibt und die Wälder durch große Brände vernichtet werden. Gemeinsam beschließen sie, unter Führung von Amédée ihre Heimat für ein besseres Leben auf der anderen Seite des Meeres zu verlassen. „Nimmt man seinen Anteil an Grund und Boden nicht überall hin mit? Man braucht nicht unbedingt dort zu sterben, wo man geboren ist.“
Schnitt. „Der November kam, und er war eiskalt.“ Aus einer Alltagsszene in einer gut situierten Gegend in Montreal schält sich langsam heraus, dass Leyda, deren Ex-Mann Normand vor einem Jahr gestorben ist, die junge Exilkubanerin Amparo zu Besuch empfängt. Amparo war Normands letzte Geliebte, als sich dieser schon von Leyda getrennt hatte und nach Miami übergesiedelt war. Amparo hat das Bedürfnis, Leyda ihre Geschichte mit Normand zu erzählen. Leyda fühlt sich von der entschieden auftretenden Amparo überfallen, sie wollte an die Erinnerungen mit Normand nicht mehr rühren – aber sie hört zu.
Hier die archaisch anmutende Dorfgemeinschaft, dort eine Mittelschichts-Beziehungsgeschichte: Ollivier versteht es, Spannung aufzubauen. Kapitel für Kapitel, immer abwechselnd, führt er nun die Erzählstränge weiter und lässt sie sich dabei langsam nähern. Die Gruppe um Amédée Hosange beginnt, an dem Schiff zu bauen und es auszurüsten, den Weg voran anzutreten, während die Geschichte Normands in den – rückwärtsgewandten – Erinnerungen der Frauen genauer fassbar wird. Er wurde als politisch Aktiver in den sechziger Jahren von der Duvalier-Diktatur in Haiti verfolgt und musste ins Exil gehen (im übrigen genauso wie der 1940 in Port-au-Prince geborene Émile Ollivier selbst, der 1964 das Land verließ). „Zwanzig Jahre lang“ nährte Normand, „in verbissenem Kampf gegen das Vergessen, die Hoffnung auf Heimkehr“. Er gründete Zeitschriften, reiste durch die Welt, engagierte sich für die Flüchtlinge der lateinamerikanischen Diktaturen – immer in Sehnsucht nach Haiti und mit dem Ziel, eines Tages dahin zurückzukehren. Er ging von Montreal nach Miami, um sich nicht zu sehr an einem Ort einzurichten, „um nicht die provisorischen Gerüste mit der Architektur selbst zu verwechseln“. Schließlich lebt er dort mit Amparo, die Exilantin ist wie er, beide eine Art sesshafte Nomaden, verwurzelt in ihrem Auf-dem-Sprung-Sein.
Schließlich kreuzen sich die Wege: als Amparo am Strand von Miami badet, werden die Leichen der angeschwemmten haitianischen Schiffbrüchigen entdeckt. Die Überlebenden des Unglücks, die sich an anderer Stelle ans Ufer retten konnten, werden festgenommen und in ein Internierungslager gesteckt, wo Normand sie später besucht. Miami erweist sich für sie nicht als das rettende Festland, sondern nur als die andere Seite derselben Medaille. Von einem besseren Leben, wie es die Menschen um Amédée erträumt haben, ist im Roman keine Rede; eine Frau aus der Gruppe beschließt denn auch sehr bald, nach Haiti zurückzukehren. Aber auch Normands „Passage“ findet in Miami ihr Ende. Nach langer Krankheit stirbt er an einem Herzanfall.
Émile Ollivier zwingt die beiden Geschichten des Scheiterns nicht als schicksalhafte Fügung zusammen: es genügt ihre lose Verknüpfung an einem Punkt. Dennoch verbindet sie einiges miteinander, mehr, als es zunächst den Anschein hat. Die Parallelität macht sich spiegelbildähnlich an verschiedenen Entsprechungen fest. Da ist natürlich das Unterwegssein an sich, das in beiden Geschichten sowohl ein Flüchten als auch eine Suche ist (und ein Nichtankommen dazu). Zum zweiten ist weder in Montreal noch auf Haiti die Ehe eine Garantie für ungebrochene Zweisamkeit. So wie sich mit Leyda und Amparo zwei Frauen desselben Mannes gegenübersitzen, muss auch Amédées Frau erkennen, dass dieser noch eine andere Frau aus dem Dorf geliebt hat. Auch im Einzelnen, bei Bildern und Vergleichen, kommt Ollivier auf Ähnlichkeiten. So korrespondiert das Meer, das den Überlebenden ein „Leichentuch“ zu sein scheint, mit dem eisigen Montrealer Winter, dessen Schnee wie ein „Grabtuch“ alles zudeckt und auch die Freude auslöscht.
Im Grunde erklärt sich Ollivier jedoch bereits dadurch, dass er den Leser an jede Situation ganz dicht heranholt. Er beschreibt Gerüche, Geräusche und Szenerien eine wie die andere so plastisch, dass man sie unmittelbar nachfühlen kann. Auch geht er den Gedanken und Erinnerungen der beteiligten Figuren mit enormer Leichtigkeit nach. Er wechselt zwischen Zeitebenen und Erzählperspektiven, wobei deutlich wird, dass es ihm nicht auf das literarische Experimentieren ankommt, sondern dass er konzentriert die technischen Mittel anwendet, die er zur Verfügung hat. Leyda, Amparo und Normand, Amédée und seine Schiffsbesatzung – sie werden einem rasch vertraut. Olliviers einfühlsamer Blick verleiht ihnen allen Würde und macht sie gleich – in einem guten Sinne, nämlich gleichermaßen verantwortlich ihren Lebensumständen gegenüber. Auf die Frage nach haitianischer Identität würde Ollivier vielleicht antworten: Es ist zweitrangig, wann, warum und wohin jemand geflohen ist. Entscheidend ist, die Flucht von der Insel nicht bereits mit der Rettung zu verwechseln. Die Flüchtlinge kommen nicht darum herum, mit ihrer Herkunft und ihren Erinnerungen auszukommen, denn: „Ohne Erinnerung bleibt jedes Wissen oberflächlich.“
Seid gegrüßt ihr Winde ist vorbehaltlos zu empfehlen. Der Autor bringt es zunächst einmal fertig, auf den knappen 190 Seiten diese komplexe, umfassende Geschichte auch aus- und zu Ende zu schreiben. Das Begeisternde daran steckt für mich jedoch vor allem in den vielen Details: in den genauen Beobachtungen, in der Nähe zu den Personen und ihren Geschichten, im Gedankenreichtum. Ich würde das Buch, wenn es nicht so pathetisch klänge, gerne „geistreich und wahrhaftig“ nennen – und hoffe ohne alles Pathos, dass es bald mehr von Ollivier zu lesen gibt.
Das stärkste Bild steht gleich im ersten Satz: „Hier das Meer, da die Insel.“ Wer das sagt, wissen wir nicht, der ganze Roman ist von verschiedenen Blickwinkeln aus erzählt, die jeweils als „ich“ erscheinen, ohne dass ihre Identität immer klar würde. Durch diese Vielstimmigkeit der wechselnden ErzählerInnen entsteht ein „Wir“, das die Erzähl-, Gedanken- und Erinnerungsstränge noch einmal zusammenhält. Dieses Wir also wäre auf dem Meer vorzustellen, auf einem Boot abseits des Festlandes, unterwegs. Der Blick aber richtet sich fest auf die Insel, auf die Erinnerungen, die mit ihr verknüpft sind und aus denen der Roman wächst. Ein Satz wie eine Knospe. Wer mehr davon möchte, sollte das Buch lesen.

Émile Ollivier: Seid gegrüßt ihr Winde. Aus dem Französischen von Elfriede Riegler, Rotpunktverlag, Zürich 1999, 190 Seiten, 17,00 Euro.

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