Haiti | Nummer 384 - Juni 2006

Schwieriger Neustart im Armenhaus

Haitis Präsident Préval sitzt zwischen vielen Stühlen

Mit der Amtseinführung von René Préval kehrte Haiti zur verfassungsmäßigen Ordnung zurück. Zwei Jahre nach dem gewaltsamen Sturz des damaligen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide und nach einer schwierigen, durch eskalierende politische und kriminelle Gewalt geprägten Übergangsphase hoffen viele auf eine neue Chance. Aber die Bedingungen sind kompliziert.

Alexander King

Haitis neuer Präsident ist ein alter Bekannter: René Préval hatte das Amt bereits von 1996 bis 2001 inne. Seit dem 21. April steht er nun wieder an der Spitze des krisengeplagten Karibikstaates. Préval ist von den WählerInnen mit einem außerordentlich starken Mandat ausgestattet worden. Die Beteiligung an der Präsidentschaftswahl am 7. Februar lag bei 60 Prozent. Préval bekam bereits im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit (51,2 Prozent). Fast 40 Prozent Vorsprung trennten ihn vom Zweitplatzierten, dem Christdemokraten Leslie Manigat. Mit Jacques-Edouard Alexis als neuem Ministerpräsidenten hat er sich einen alten Weggefährten an die Seite geholt. Alexis war bereits 1999-2001 Ministerpräsident unter Préval. Die Herausforderungen für das Team sind groß – nach zwei Jahrzehnten wirtschaftlicher Talfahrt, nach etlichen politischen Krisen, dem gewaltsamen Sturz der Regierung Aristide im Februar 2004, zwei Jahren Präsenz von UN-Blauhelmen und ungeliebter Interimsregierung.

Strukturelle Probleme

Haiti ist das ärmste Land der westlichen Welt. Zur Beschleunigung der strukturellen ökonomischen Krise trug vor allem die radikale Handelsliberalisierung bei, die seit 1986 auf Betreiben von Weltbank und USAID umgesetzt wurde: Die drastische Absenkung der Schutzzölle, zum Beispiel auf das Grundnahrungsmittel Reis, bewirkte, dass die haitianischen Bauern und Bäuerinnen von ihren Märkten verdrängt wurden. Die Nahrungsmittelproduktion pro Kopf ging infolgedessen von 1985 bis 2000 um ein Drittel zurück. Der Bedarf an Grundnahrungsmitteln und alltäglichen Gebrauchsgegenständen wird heute fast ausschließlich über Importe aus den USA gedeckt. Der einzige produktive Sektor mit Wachstumspotenzial ist die Fertigungsindustrie. Ihre Wachstumsimpulse sind allerdings begrenzt. Die Löhne sind zu gering, um konjunkturstimulierende Kaufkraft zu generieren. Die Produktionsinputs werden importiert, der Großteil der Gewinne fließt ins Ausland ab.
Die soziale Polarisierung ist außerordentlich stark ausgeprägt. Wenige Familien, die in den Vororten hoch über der Hauptstadt in festungsgleichen Villen leben, kontrollieren das Wirtschaftsleben. Sie sind im Großhandel und in den Betreiberkonsortien der Industrieparks engagiert. Hier ballen sich unermesslicher Reichtum und politische Macht. Diese Familien treten normalerweise nicht an die Öffentlichkeit. Sie greifen allerdings dann in das politische Leben ein, wenn sie Gefahr für ihre Geschäfte wittern. Préval war nicht ihr Kandidat, sondern der der verarmten Massen, die nur wenige Kilometer Luftlinie von den Villenvororten entfernt in den Slums am Hafen von Port-au-Prince unter erbärmlichsten Bedingungen leben. Bei jeder Wahl seit 1990 gewann der Präsidentschaftskandidat, der die Unterstützung der Unterschichten hatte. Die Elite reagierte darauf mit wechselnden Strategien: Nach der ersten Wahl von Aristide mit einem blutigen Putsch (1991), nach der zweiten Wahl zunächst mit dem Versuch eines Bündnisses (2001), schließlich wiederum mit der Unterstützung eines gewaltsamen Umsturzes (2004). Auch vor dieser Wahl wurde aus der Geschäftswelt lanciert, im Falle eines Wahlsiegs von Préval würde Chaos ausbrechen und man sei zur „Selbstverteidigung“ bereit. Préval wird diese kaum verhohlene Drohung ernst nehmen.

Nichts geht ohne breite Koalition

Die kleine haitianische Mittelschicht setzt sich aus Intellektuellen, Verwaltungsangestellten und den wenigen anderen Angehörigen regulärer Berufsgruppen zusammen. Diese Schicht spielt im Wirtschaftsleben keine Rolle, ist aber politisch außerordentlich aktiv. Ihre politische Bedeutung bezieht sie aus ihren Verbindungen ins Ausland. Viele Angehörige dieser Schicht haben im Ausland studiert, ihre politischen Organisationen sozial- und christdemokratischer Provenienz werden durch ausländische Regierungen und Stiftungen unterstützt. Da sie über keinerlei Rückhalt in der breiten Bevölkerung verfügen, sind sie darauf angewiesen, die haitianische Politik immer wieder auf die internationale Agenda zu setzen. Das ist ihnen im Zusammenhang mit dem Umsturz von 2004 gelungen. Durch die internationale Intervention haben sie sich eine günstige strategische Position verschafft.
Unter ihnen muss Préval jetzt Partner für seine Koalition suchen. Denn so überzeugend das persönliche Mandat Prévals sein mag, die politische Gesamtkonstellation, die aus den Wahlen resultiert, ist äußerst kompliziert. Am entscheidenden zweiten Wahlgang der Parlamentswahlen am 21. April beteiligten sich weniger als 30 Prozent der eingetragenen WählerInnen. Aus diesem Wahlgang gingen zwei bunt zusammen gewürfelte Kammern hervor. Prévals Partei Lespwa (Hoffnung) verfügt jeweils nur über eine relative Mehrheit: 11 von 30 Sitzen im Senat, 20 von 99 Sitzen im Abgeordnetenhaus. Zur Regierungsmehrheit müssen Koalitionen gebildet werden. Verhandlungen mit den sozialdemokratischen Parteien Fusion und OPL (Organisation du Peuple en Lutte) sowie einigen kleineren Fraktionen sind im Gange.

Konflikte programmiert

Der neuen Regierung stellen sich Aufgaben, die Konfliktpotenzial bergen. Vordringlich wird sein, die Banden und paramilitärischen Gruppen aufzulösen, um die Durchsetzungsgewalt der außerstaatlichen Machtstrukturen zu schwächen. Doch gerade auf diesem Feld sind viele widerstreitende Interessen berührt. Nicht nur das alte Aristide-Regime hat Waffen an Banden ausgegeben, auch Schmuggler und Drogendealer und selbst Teile der „seriösen“ Geschäftswelt unterhalten bewaffnete Banden. Die UNO-Mission für Haiti (MINUSTAH) erbrachte keinen Beitrag zu Entmilitarisierung der haitianischen Gesellschaft. Im Gegenteil: Eine Entwaffnung fand nicht statt, noch mehr Waffen kamen legal und illegal ins Land und die Gewalt eskalierte. Von Februar 2004 bis Februar 2006 kamen über 1.600 Menschen gewaltsam ums Leben. Nicht nur, dass die MINUSTAH der Gewalt nicht Einhalt gebieten konnte, bei ihren Aktionen gegen kriminelle Banden in den Slums der Hauptstadt nahm sie selbst den Tod Unschuldiger in Kauf. Von den SlumbewohnerInnen wurde sie denn auch eher als Bedrohung, denn als Schutz empfunden. „Wir haben weder zu essen noch zu trinken und die UNO schießt auf uns. Sie sperren uns ein und behandeln uns wie wilde Tiere“, beschrieb ein Anwohner dem britischen Economist die Lage.
Ein zweites heißes Eisen ist die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen unter der zweijährigen Interimsregentschaft und zuvor unter Aristide. Ein Bericht von Amnesty International dokumentiert für 2005 polizeiliche Willkür, Exekutionen und notorische Straflosigkeit. Préval will die nationale Versöhnung, er wird sich aber mit den Zerwürfnissen der jüngsten Vergangenheit auseinandersetzen müssen und auch in dieser Frage unterschiedliche Interessen innerhalb seiner Koalition vorfinden. Das gilt erst recht für die Frage der politischen Gefangenen. Unter der Interimsregierung wurden etliche Anhänger der Aristide-Regierung ins Gefängnis gesperrt und ohne Gerichtsverfahren jahrelang festgehalten. Sie sind noch immer nicht frei. Prévals Wähler erwarten, dass diese Leute freikommen. Unter den Anhängern seiner potenziellen Koalitionspartner – vor allem unter den Sozialdemokraten – wollen dagegen viele mit den Vertretern der Aristide-Ära abrechnen.

Kampf um Einfluss

Auch die Arbeitswelt bietet Konfliktstoff. In den Sweatshops an der haitianisch-dominikanischen Grenze und vor den Toren der Hauptstadt sowie in der Abfüllanlage von Coca Cola La Couronne in Cap-Haïtien kämpfen ArbeiterInnen um elementare Rechte, um menschenwürdige Arbeitsbedingungen und angemessene Löhne. Bei La Couronne wird ein Tageslohn bezahlt, der noch unter dem Mindestlohn von 70 Gourdes (1,60 US-Dollar) liegt, bei den Zulieferern von Levi’s konnte Ende 2005 nach harten Auseinandersetzungen eine Verdopplung des Grundwochenlohns von 432 auf 900 Gourdes (21 US-Dollar) durchgesetzt werden. Die Forderungen der ArbeiterInnen wurden von den Unternehmern mit Repression beantwortet – von willkürlicher Aussperrung bis hinzu physischer Gewalt gegen Betriebsräte und GewerkschafterInnen. Viele Aktivisten haben Prévals Kandidatur unterstützt und erhoffen sich jetzt Unterstützung. Auf der anderen Seite werden auch die Unternehmer ihre Interessensvertreter in der neuen Regierungskoalition haben. Für die sozialdemokratische Fusion wird der millionenschwere Industrielle Rudolf Boulos, Industrieparkbetreiber und Bruder des Präsidenten der Industrie- und Handelskammer, im Senat sitzen. Auch ausländische – vor allem US-amerikanische und dominikanische – Interessen sind von Belang. Entsprechend groß ist der politische Druck aus Washington, unter dem jede haitianische Regierung steht. Insbesondere die Regierung Bush jr. nahm unter erheblichen finanziellen Aufwendungen Einfluss auf die politische Situation in Haiti und trug maßgeblich zum Sturz der Regierung Aristide bei. Für Préval werden die Spielräume entsprechend begrenzt sein. Er kann sie nur ausdehnen, wenn er sich immer wieder der Unterstützung der vielen Gewerkschafts- und Bauerngruppen versichert. Dass es diese Unterstützung nicht zum Null-Tarif gibt, zeigt der Fall von Aristide.
Etwas mehr Spielraum könnte Préval eine stärkere Integration Haitis in die Gemeinschaft der Karibikanrainer verschaffen. Während Haiti nach dem Umsturz 2004 und unter der Interimsregierung in der Region isoliert war und die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft der Karibischen Staaten (CARICOM) suspendiert wurde, kehrt Haiti nun wieder in die CARICOM zurück. Außerdem wurde Haiti als 14. Karibikstaat in das venezolanische Energieprogramm PetroCaribe aufgenommen und erhält von nun an Öl aus Venezuela zu günstigen Bedingungen. Auch das kubanische Ärzteprogramm in Haiti soll ausgebaut werden. Kubanische Ärzte und Krankenschwestern sind bereits jetzt die tragende Säule des haitianischen Gesundheitswesens. Préval selbst hatte das Programm 1999 eingefädelt und steigerte damit seine Popularität.
Trotz aller Probleme kann der demokratische Aufbruch gelingen, denn Préval hat drei Faktoren auf seiner Seite: Er kann sich auf die breite Unterstützung durch die Bevölkerung und die organisierten Basisgruppen stützen. Zugleich schränkt die unübersichtliche Situation im Parlament nicht nur seine Handlungsfähigkeit ein, sondern mehr noch die der potenziellen Konkurrenten. Sie bietet ihm auch eine breite Palette an Bündniskonstellationen. Drittens findet Préval – im Gegensatz zu seinen Vorgängern – einen regionalen Kontext vor, in dem sich eine Süd-Süd-Kooperation als Alternative zur asymmetrischen Beziehung zu den USA entwickelt.

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