Brasilien | Nummer 384 - Juni 2006

Vom Hoffnungsträger zum kleineren Übel

In Brasilien beginnt der Wahlkampf

Im Oktober dieses Jahres finden in Brasilien die Präsidentschaftswahlen statt.
Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, ehemals Vertreter der Linken und sozialen Bewegungen, hat inzwischen nicht mehr deren uneingeschränkte Unterstützung.

Andreas Behn

Wird Lula, einst der Hoffnungsträger lateinamerikanischen Linken, nach vier Jahren Präsidentschaft und diversen Korruptionsskandalen, wiedergewählt? Oder gelingt es der Rechten, Macht und Pfründe wieder an sich zu reißen? Wenn am 1. Oktober dieses Jahres in Brasilien gewählt wird, hängt vieles von der enttäuschten Basis des Ex-Gewerkschafters Luiz Inácio Lula da Silva ab und davon, ob sie ihn als „kleineres Übel“ wiederwählen oder ob der Frust über gebrochene Versprechen und geklaute
Illusionen überwiegt.

Zweiparteiensystem mit Einschränkungen

Vier Monate vor dem ersten Wahlgang deutet alles auf einen erneuten Zweikampf zwischen Lulas Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) und der offiziell sozialdemokratischen Partei PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira) hin. Diese brasilianische Variante eines Zweiparteiensystems wiederholt sich bereits zum vierten Mal – 1996 und 1998 besiegte der Ex-Soziologe und PSDB-Kandidat Fernando Henrique Cardoso den PT-ler Lula. 2002 war letzterer in seinem insgesamt vierten Anlauf endlich erfolgreich und besiegte den PSDB-Kandidaten und ehemaligen Gesundheitsminister José Serra.
Aktuellen Umfragen zufolge haben im Oktober lediglich Lula und der PSDB-Kandidat Geraldo Alckmin reale Chancen auf einen Wahlsieg. Zugleich ist das Parteienspektrum Brasiliens keineswegs auf diese beiden Fraktionen beschränkt. Im Gegenteil, es gibt eine Fülle von kleinen und großen Parteien, die mit Koalitionen und teils recht widersprüchlichen Allianzen das komplizierte Geflecht der politischen Klasse ausmachen.

Strukturelle Korruption

Dieses Parteiendickicht erklärt zu einem guten Teil, warum sich in der brasilianischen Politik vieles um Lobbyinteressen und käufliche Stimmen dreht, und wieso sich die Regierung Lula so schnell im Machtgeflecht verfangen hat. Zwar gewann Lula 2002 die Präsidentschaft mit so vielen Stimmen wie noch kein anderer Kandidat des Kontinents, doch war er zur Regierungsbildung auf Absprachen mit anderen, oft eher konservativen oder interessensgebundenen Parteien angewiesen – von traditionell korrupten Politkadern bis hin zu ParteigängerInnen der evangelikalen Sekten.
Diese Zwangslage entschuldigt freilich nicht das Ausmaß, in dem die Regierung Lula von ihrem Wahlprogramm und den Vorstellungen der sozialen Bewegungen abgewichen ist. Vor allem wegen der Beibehaltung der neoliberalen Wirtschaftspolitik und seines halbherzigen Agierens in Sachen Agrarreform büßte Lula Unterstützung ein. Hinzu kommt der Korruptionsskandal, der Ende letzten Jahres die PT in ihren Grundfesten erschütterte: Der offensichtliche Kauf von Stimmen innerhalb der verbündeten Parteien und der unverhohlene Umgang mit schwarzen Kassen machte dem Mythos einer anderen, sauberen Politik innerhalb weniger Tage den Garaus (siehe LN 375/376).

Opposition links der PT

Der ausgebliebene Politikwechsel und die Korruptionsaffäre hatten für die PT einen Aderlass zur Folge. Viele, auch altgediente Kader, kehrten der Partei den Rücken, und es dauerte nicht lange, bis links von der PT neue Parteioptionen auftauchten. Die prominenteste nennt sich PSOL (Partido Socialismo e Liberdade) und sammelt um die ehemalige PT-Senatorin Heloisa Helena viele enttäuschte Ex-PTlerInnen.
Für diejenigen, die aus der PT ausgetreten sind, ist klar: Lula ist für sie keine Option mehr. Einige zeigen nicht einmal Hemmung, gemeinsam mit rechten Parteien zu argumentieren, solange es nur gegen Lula geht. Doch jenseits des radikalen Diskurses ist die Parteienlandschaft links von der PT vor allem von einem traditionellen Übel geprägt: internen Streitereien. So kommen die Versuche, eine Allianz von PSOL, der traditionellen Linkspartei PTSU (Partido Socialista dos Trabalhadores Unificado) und der kommunistischen PCB zu zimmern, nicht voran. Der PSOL wird vorgeworfen, ohne Absprache bereits jetzt eigene KandidatInnen zu benennen und die Interessen einer Allianz zu untergraben. Seitens der PTSU wird gar vermutet, die PSOL wolle aus wahltaktischen Gründen eine Allianz mit eher gemäßigten linken Parteien wie PV, PDT, PPS und PSB eingehen. „Die PSOL wiederholt die Fehler der PT, nur schneller. Lula begann in den 80er Jahren mit einem radikalen Diskurs, und erst in den 90ern ergab er sich wahlstrategischen Interessen“, so PTSU-Sprecher Zé Maria.
Wenig deutet also darauf hin, dass links der PT ein breites Bündnis entstehen wird. Doch Heloisa Helena werden bei der Präsidentschaftswahl auch so rund sieben Prozent der Stimmen zugetraut. Dies hätte bei einem Zweikampf PT-PSDB eventuell zur Folge, dass Lula die absolute Mehrheit im ersten Wahlgang verpasst.
Ähnlich uneinig, wenn auch weniger zerstritten, zeigen sich die großen sozialen Bewegungen, die traditionell ein sehr enges Verhältnis zur PT haben. Gilmar Mauro von der Koordination der Landlosenbewegung MST hält den diesjährigen Wahlprozess für weniger politisch als vor vier Jahren: „Einige von uns bevorzugen Helena, andere Lula. Eine dritte Gruppe plädiert dafür, niemanden zu unterstützen. Hintergrund dieser Zurückhaltung ist die Widersprüchlichkeit innerhalb der Regierung Lula. Nicht nur uns ergeht es so, auch andere soziale Bewegungen stehen vor dieser Frage. Trotz persönlicher Vorlieben ist klar, dass die Strukturen des MST nicht für den Wahlprozess genutzt werden“, resümiert Mauro den Stand der Diskussion.

Beliebt bei den Armen

Für die PT wird es nicht einfach sein, ohne breite Unterstützung ihrer Basis in den Wahlkampf zu gehen. Dennoch kann Lula immer noch auf eine breite Unterstützung insbesondere in den ärmeren Schichten das Landes bauen, wo seine Sozialprogramme und sein nicht an den Eliten des Landes orientierter Diskurs gut ankommen. In Umfragen liegt er immer noch klar vor dem Kandidaten der PSDB, derzeit wieder mit steigender Tendenz.

Querelen bei der PSDB

Diese noch immer anhaltende Popularität des Präsidenten macht die PSDB zunehmend nervös. Erst kürzlich entschied sie sich für ihren Kandidaten Geraldo Alckmin, den bisherigen Gouverneur des Bundesstaates São Paulo. Sein parteiinterner Gegenspieler war José Serra, derzeit Bürgermeister der Metropole São Paulo und bereits 2002 Verlierer gegen Lula. Alckmin spricht eine klare Sprache. Anders als viele seiner MitstreiterInnen macht er keinen Hehl aus seinem Wahlprogramm: Wiederaufnahme der Privatisierungen, Annäherung an die USA, und statt regionaler Integration setzt er auf die Gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA, gegen die seit Jahren im ganzen Subkontinent mobil gemacht wird.
Doch weder Alckmin noch Serra, die beide unübersehbar die reiche UnternehmerInnenschicht aus dem Süden Brasiliens repräsentieren, scheinen Lula das Wasser reichen zu können. Hinter vorgehaltener Hand wird auch erwogen, die Vorentscheidung für Alckmin wieder rückgängig zu machen und doch auf Serra zu setzen, sollten die Umfragewerte sich nicht zum Besseren wenden.

PFL wie immer dabei

Mehr Klarheit besteht in der Frage der Allianzen. Die PSDB wird gemeinsam mit der anderen großen Oppositionspartei, der konservativen PFL (Partido da Frente Liberal), antreten, die Mitte Mai Senator José Jorge zum Kandidaten der Vizepräsidentschaft kürte. Die PFL steht ebenso für die Interessen der Landoligarchie wie für skrupelloses Vorgehen bei der Verteidigung der politischen und ökonomischen Interessen ihrer Klientel.
Komplizierter ist das politische Tauziehen innerhalb der PMDB (Partido do Movimento Democrático Brasileiro). Der eine Parteiflügel unterstützt die Regierung Lula und plädiert für eine zukünftige Allianz mit dem favorisierten Kandidaten. Der andere Flügel plant, einen eigenen Kandidaten aufzustellen, um nicht noch mehr an politischem Profil einzubüßen.
Dieser Streit eskalierte im Mai, als eine der Gallionsfiguren der PMDB, der Ex-Gouverneur von Rio de Janeiro, Anthony Garotinho, alle Register im Kampf um die eigene Präsidentschaftskandidatur zog. Zuvor war er ins Zwielicht geraten, weil seine Ehefrau Rosinha, derzeitige Gouverneurin von Rio de Janeiro, in den Verdacht geriet, über die Finanzierung windiger NGOs mit Staatsgeldern den Wahlkampf ihres Mannes unterstützt zu haben.

„Bällchens“ Hungerstreik

In die Enge getrieben, erklärte sich Garotinho, selbst Mitglied und vehementer Verfechter evangelikaler Kirchen, zum Opfer des linken Lula und der rechten Presse, die den Skandal aufdeckt hatte. Er trat daraufhin in Hungerstreik. Ein gefundenes Fressen für alle KarikaturistInnen, zumal Rosinha ihren gewichtigen Mann nicht ohne Grund gern „Bällchen“ ruft.
Obwohl Garotinho die Abmagerungskur bald aufgab ist noch immer nicht ausgeschlossen, dass ihn die PMDB noch zum Kandidaten kürt. Andererseits setzten sich in einer Vorentscheidung kürzlich diejenigen durch, die gegen jegliche eigene Kandidatur plädieren. Wie auch immer die Entscheidung der PMDB ausfällt, die Episode verbildlicht das Dilemma der Parteipolitik in Brasilien. Sollte Brasilien die Kandidatur eines Garotinho erspart bleiben, könnte dessen Partei erneut zum wichtigsten Partner einer PT-Regierung werden. Da stellt sich die Frage, wie lange Lula von seinen UnterstützerInnen noch als kleineres Übel angesehen wird.

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