Karneval in Rio
Karneval in Rio
Rio ist nicht die einzige Stadt Brasiliens, deren Karneval berühmt ist. Eine alte Konkurrenz besteht zwischen Salvador, der Hauptstadt von Bahia, und Rio. Salvador steht für den Straßenkarneval, tanzende Massen hinter den “Trio Eletricos”. Zwar hat auch Rio einen Straßenkarneval. In fast allen Stadtvierteln werden “blocos” organisiert, die singend und tanzend durch die Straßen ziehen und abends geht es zu den “bailes”, den Bällen, die inzwischen auch in den ärmeren Teilen der Stadt durch die Stadtverwaltung gesponsort werden. Der Höhepunkt des Karnevals in Rio ist aber zweifelsohne der Umzug der besten Karnevalsschulen in dem eigens dafür erbauten Stadion, dem Sambodromo. Die 16 besten “Sambaschulen” marschieren hier in der Nacht des Sonntags und Montags. Das Spektakel dauert jeweils etwa zehn Stunden und endet erst am frühen Morgen. Jede der Sambaschulen bringt 3000 bis 5000 Menschen auf die Piste, aufwendige Wagen mit Szenen zum Thema des jeweiligen Sambas, farbenprächtige Kostüme. Eines der Klischees über den Karneval in Rio lautet: “Die Leute sind arm, aber sparen das ganze Jahr für ein Kostüm.” Nein, der Aufwand ist inzwischen so groß, daß kein Armer mehr dafür sparen kann. In diesem Jahr geben die größten Sambaschulen jeweils etwa 600.000 US-Dollar für ihren Aufmarsch aus. Der Karneval ist tatsächlich zu einem großen Geschäft geworden.
600.000 US-Dollar wollen also verdient sein. Da ist erstmal die Schallplatte mit den Sambas der 16 Schulen, verlegt durch Sony. Dann die Fernsehrechte. Hinzu kommt der Eintritt, für bessere Plätze von 250 US-Dollar aufwärts, Logen werden zu unglaublichen Preisen an Sponsoren verkauft, die dann Prominente einladen. Und selbst einen Platz im Umzug kann man kaufen. Aber 1000 US-Dollar kann eines der schickeren Kostüme schon leicht kosten. Und nicht zu vergessen die Werbung, allen voran die Brauereien. Dieses Jahr hat der Marktführer Brahma (Abkürzung für Brasilianisch Hopfen und Malz) das Sambodromo übernommen. Die Vermarktung wird durch eine Vereinigung der Sambaschulen der ersten Liga selbst organisiert. Doch das alles reicht nicht aus. Die Schulen brauchen Sponsoren, und die haben sich in den letzten Jahren nicht lumpen lassen. Die Herren des illegalen Glücksspiel in Rio, die “bicheiros” haben schon vor Jahren die Leitung fast aller Sambaschulen übernommen. Das “Tierspiel”, jogo do bicho, ist eine Institution in Rio. Obwohl offiziell verboten, kann man an fast jeder Straßenecke auf Nummern setzen, die inzwischen die ursprünglichen Tiere ersetzt haben. 20.000 Menschen werden von den bicheiros beschäftigt; und obwohl(?) illegal, gehört das jogo do bicho zu den wenigen Einrichtungen, von dem alle EinwohnerInnen Rios glauben, daß sie funktionieren. Die Drahtzieher dieses Glückspiels haben sich also in den letzten Jahren mit einer Ausnahme aller Sambaschulen bemächtigt, um so ihr Ansehen zu erhöhen. Zweifelhafte Figuren, denen Verbindungen zum Drogen- und Waffenhandel nachgesagt werden, sind somit zu den Herren eines der bewundertsten Schauspiele der Welt geworden. (Dieses Jahr mußte allerdings die Créme der bicheiros Karneval im Gefängnis verbringen, verurteilt wegen Steuerhinterziehung.)
Diese Entwicklungen haben kritischen Stimmen Nahrung gegeben, die dem Karneval in Rio die totale Dekadenz bescheinigen. Der Niedergang habe schon mit der Konstruktion des Sambodromos Anfang der achtziger Jahre angefangen. Die Spontaneität der Umzüge, das ungezügelte Treiben auf der Straße, wurde in Beton gebändigt. Baumeister war der Kommunist Oskar Niemeyer, der Betonmonster liebt. Damit wurde der Karneval “zivilisiert” und für den Konsum der Reichen zubereitet, die heute bei Champagner und Hummer in den Logen sitzen.
Samba: die subversive Musik der Hügel
Dabei hatte alles ganz anders begonnen. Anfang des Jahrhunderts war der Karneval eine Domäne der Reichen. Sie fuhren in offenen Autos und Kutschen durch die Straßen und warfen Konfetti in die Menge. Die genoß die freien Tage, amüsierte sich am Rande, in den dunklen Gassen, und spielte eine Musik, die schwarze Sklaven mit nach Brasilien gebracht hatten: den Samba. Die ersten “sambistas” waren allesamt Schwarze und wohnten auf den Hügeln der Stadt, den “morros”, wo die Armen sich niederließen, nachdem eine Stadtreform sie aus dem Zentrum vertrieben hatte. Die Polizei verfolgte die “sambistas”, und auch zu Zeiten des Karnevals war ein allzu ausgelassenes Treiben den Hütern des Gesetzes ein Dorn im Auge. “Wir waren schon üble Burschen”, sagte einer von ihnen, Cartola, der später zu einem der bekanntesten Sambakomponisten werden sollte. Die ersten sambistas waren so etwas wie die Punks der zwanziger Jahre in Rio. Aber bald gab es Bestrebungen, der gesellschaftlichen Ächtung zu entrinnen. 1928 wurde die erste Sambaschule gegründet. Der Name rührt nicht etwa daher, da die Mitglieder lernen mußten, Samba zu spielen oder zu tanzen. Die Sambaschule war eher eine Art Übungsraum, damit die Musikgruppe sich vorbereiten und Feste veranstalten konnte.
Alle lieben Mangueira
Eine der ersten Sambaschulen war “Bahnhof Mangueira”, benannt nach einem Armenviertel, das sich neben einem Halteplatz der Vorstadtzüge erstreckt. Tatsächlich schafften es die von der Polizei verfolgten “sambistas” schnell, den Karneval zu erobern. Und so wurde aus dem betulichen Fest der Vornehmen das wilde, ausgelassene Vergnügen, das bis heute durch die eindringlichen Rhythmen der Schwarzen Musik geprägt ist. Der Preis dieses Erfolges war die Vereinnahmung des Sambas durch die Eliten und den Kommerz. Aus einer subversiven Musik der Vorstädte wurde so ein harmloses und akzeptiertes Vergnügen, aber eben auch eine der Formen, durch die die Schwarzen Anerkennung und Erfolg erringen konnten. Und die Sambas haben sich immer mehr zu einer Art Marschmusik verschnellert und vermanscht.
Mangueira ist heute die beliebteste Sambaschule in Brasilien, jeder Brasilianer hat nicht nur einen Fußballverein, sondern auch eine Sambaschule, für die er sich begeistert einsetzt. Und niemand würde bei den Farben rosa-grün an etwas anderes denken als eben an Mangueira. Vielleicht ist aufgrund dieser Popularität Mangueira auch die einzige der großen Sambaschulen, die ohne Verbindung mit dem illegalen Glücksspiel überleben kann.
Samba und Karneval lassen sich also nicht vorschnell auf einen Nenner bringen, sie sind ein widersprüchliches Phänomen. Daß noch nicht alles nur Kommerz ist, läßt sich am besten bei einem Besuch einer der Sambaschulen erfahren. Lange vor dem Karneval schon beginnen die Einübungen, bei denen der aktuelle Samba immer wieder gespielt wird, bis auch der letzte Fan den Text mitsingen kann. Das Gelände von Mangueira liegt wie schon zu Zeiten der Gründung direkt am Fuß des Hügels. Der Raum ist eine riesige Turnhalle, stämmige Wächter sorgen davor für Ordnung. Brav entrichten wir den Eintrittspreis, Männer zahlen das doppelte wie Frauen. Beim Eingang scheinen wir aber fast die einzigen zu sein, die bezahlt haben. Vor uns geht eine große Gruppe einfach so durch, freundlich begrüßt von den Kontrolleuren, man kennt sich. Klar, die Leute vom “Hügel” zahlen nicht, nur die Fremden werden zur Kasse gebeten.
Die Sambas ähneln einander sehr, der aktuelle wird mindestens eine halbe Stunde lang wiederholt, schließlich muß der Vorsänger beim Umzug auch über eine Stunde lang durchhalten. Die Monotonie läßt die Tänzer in Trance geraten, nicht umsonst heißt es, man müsse in den Samba fallen. Hier bei Mangueira wie bei den meisten Sambaschulen ist die Geschichte des Sambas lebendig. Hauptakteure sowohl bei der Gruppe wie bei den Tanzenden sind die Leute vom Hügel, der das Herz der Schule bildet. Die Einheit von Armenviertel und Sambaschule existiert noch, bezahlt wird nicht und die besten Tänzer und die schönsten Frauen bekommen umsonst das Kostüm gestellt.
Die Stimmung ist ausgezeichnet, die Leute von Mangueira glauben, den Titel schon in der Tasche zu haben: “Nur wer schon gestorben, tanzt nicht hinter Mangueira her” lautet der tiefsinnige Refrain, den inzwischen ganz Rio singt.
Es ist der herbe Charme der Hügel und Vorstädte, der heute den Samba und den Karneval noch leben läßt, ihn vor der vollständigen Kommerzialisierung und dem Untergang im organisierten Spektakel rettet. Hier ist die Quelle der Kreativität und einer trotzigen, ausgelassenen Lebensfreude, nicht in den sterilen Studios der Reichen. Die Kraft der Hügel, der Armenviertel ist die Basis des Karnevals, deren Höhepunkt der Tourist, sei er aus Europa oder Brasilien, in seinem Logenplatz genießen kann. Karneval ist daher auch mehr als nur ein paar ausgelassene Tage, die eine Existenz im Jammertal vergessen lassen. Er ist Ausdruck einer Kultur des Vergnügens und der Lebensfreude, die an den Tagen des Karnevals ihren luxuriösen Ausdruck findet.
Das schlimme Klischee “arm aber fröhlich” drängt sich geradezu auf. Zweifelsohne, die Allerärmsten amüsieren sich auch im Karneval nicht. Sie sammeln vielmehr den Abfall auf, suchen nach Bierdosen und Lebensmittelresten. Aber wer nicht so tief unten leben muß, schafft es in der Regel, Geld für ein paar Bier zusammenzubekommen. Die vielen Karnevalsbälle sind ein billiges Vergnügen. Eine der besten Beschreibungen der Kraft des Sambas liefern die Sänger Gilberto Gil und Caetano Veloso auf ihrer letzten LP: “Der Samba ist Kind der Trauer und Vater der Fröhlichkeit. Er ist der große Umwandler”. Die Fähigkeit zur Hingabe an das Vergügen, die nicht aus Tumbheit sondern aus Trauer und Begehren wächst, ist eine bewundernswerte Eigenschaft der BrasilianerInnen. So also läßt sich bei aller Kritik am Kommerz die Faszination verstehen, die der Karneval in Rio und vielen anderen Städten Brasiliens immer noch auf alle Welt ausübt. Zum ersten Mal seit Jahren sind die Hotels wieder ausgebucht. Rio wird in diesen Tagen zur Hauptstadt der Lebensfreude und das tut der geschundenen Seele der Stadt und ihrer EinwohnerInnen gut. So singt dann der Vorjahressieger, die Sambaschule Salgueiro, unbekümmert alle Klischees herunter: “Mein Rio ist ein Rio der Freude, vor Glück außer Rand und Band. Rio die wunderbare Stadt, Visitenkarte meines Brasiliens, Rio der Mulatas und des starken Sambas, des Fußballs. Ach, wie mein Herz explodiert”. Ja, und wenn 100.000 Menschen in der Nacht dieses Rosenmontags solche Verse singen, dann werden sie plötzlich wahr.
Skandal bei der Preisverleihung
Drei Tage später kommt der Katzenjammer. Bei der Auszählung der Punkte, die eine Jury verteilt, hält es den Präsidenten von Salgueiro nicht mehr auf dem Stuhl. Er droht, die Jury anzugreifen, schreit lautstark “Betrug” und muß schließlich von der Polizei abgeführt werden. Publikumsliebling Salgueiro, der den Sieg schon in der Tasche zu haben glaubte, landet nur auf dem zweiten Platz. Noch größer die Enttäuschung bei Mangueira: ein magerer und skandalöser 13. Platz. Die Tränen fließen ungehemmt. Mangueira hatte zweifelsohne den populärsten Samba dieses Jahres. (Nicht nur) Rio sang fast nur diesen einen Samba. Er ist eine Hommage an Bahia (die große Karnevalskonkurrentin) und dessen vier große MusikerInnen: Caetano Veloso, Gilberto Gil, Gal Costa und Maria Bethania, die alle an dem Umzug teilnahmen. Mangueiro war es so gelungen, vier absolute Größen der populären brasilianischen Musik zusammenzuführen. Ein Geniestreich, und alle glaubten an den Sieg.
Das schlechte Abschneiden von Mangueira war Auslöser für eine Diskussion, die nicht ganz neu ist. “Zuviel Kommerz, zuwenig Samba” resümiert die alte Garde der Schule. Tatsächlich hatte Mangueira die Politik der Vermarktung am konsequentesten verfolgt und eine Mangueira-GMBH gegründet, die Pauschalreisen zum Karneval mit Platz in der Mangueiraloge zu horrenden Preisen verkaufte. Und die zu große Zahl von verkauften Kostümen hatte dazu geführt, daß ganze Teile des Umzugs von (brasilianischen) Touristen dominiert wurden, die zwar zahlen, aber nicht tanzen können. Die “Decharakterisierung”, die zunehmende Distanz des Managements der Schule vom Morro, der Favela, wurde als Grund für das Desaster angesehen. Immerhin, die Diskussion zeigt, daß die Kommerzialsierung des Karnevals problematisch ist und dazu neigt, den Untergrund, aus dem der Samba seine Kraft bezieht, zu zerstören. Und die Siegerin: Die Sambaschule Imperatriz, mit einem technisch perfekten Umzug, der niemanden begeisterte, die Jury aber auch keine Fehler entdecken ließ. Für die Leute auf der Straße war das Urteil klar: Eine Woche nach dem Karneval wurde bei einem großen Freilichtkonzert der Samba des Jahres 1994 gespielt und begeistert mitgesungen: Natürlich, der von Mangueira.
Kasten
Zwischen Rebellion und Schwachsinn
Jeder Samba der Schulen hat Text und Thema. Die sind oft belanglos bis peinlich. Aber immer gibt es Ausnahmen. Dieses Jahr hatten ohne Zweifel die Unidos de Viradouro den interessantesten Samba: Eine Ehrung an Teres de Benguela, eine Prinzessin, die als Sklavin von Afrika nach Brasilien verschleppt wurde, dort floh und im Pantanal zur Führerin eines “Quilombos”, eines Staates von entlaufenen SklavInnen wurde: “Die Rebellion entzündete die Flamme der Freiheit, den Traum der Freiheit im Quilombo […] Eine goldene Sonne wird leuchten. Das Licht Terezas wird nicht erlöschen und Viradoura wird erstrahlen in der neuen Ära.”
Das Ganze präsentiert nicht von TouristInnen und ohne die sonst üblichen (weißen) Modelle, sondern fast ausschließlich von den dunkelhäutigen AnhängerInnen der Schule. Resultat: ein dritter Platz, der in Niteroi, der Heimat von Viradouro wie ein Sieg gefeiert wurde. Peinlich hingegen wirkt die Freiheitslyrik der Siegerin Imperatriz. Die besingt die beim Karneval äußerst beliebten Indigenas (guter Vorwand, um viel Haut zu zeigen), allerdings mit eher unbrauchbarem Aufhänger: Besungen wird die Präsentierung von Indigenas am französischen Hof im 16. Jahrhundert. “Mon amour c’est si beau” heißt’s auf französisch. Weiter: “Brasilien, das Bild der Nacktheit und des Mutes”. Und im Refrain: “Ich bin Indio, ich bin stark, ich bin Sohn des Glückes, ich bin natürlich, ich bin Krieger, ich bin das Licht der Freiheit.” Nun ja, für die meisten endete die Verschleppung nach Frankreich tödlich.