Brasilien | Nummer 239 - Mai 1994

Karneval in Rio

Karneval in Rio

Klar, Karneval in Rio ist ein Klischee. Wie wohl keine andere Stadt der Welt ist Rio de Janeiro mit dem Karneval verbunden. “Das größte Spektakel der Welt”, verspricht das Tourismusbüro Rios. Längst ist aus dem Volksvergnügen eine ein­trägliche Vergnügungsindustrie geworden. Und dieses Jahr sogar eine ziemlich er­folgreiche. Zum ersten Mal seit Jahren waren die Hotels ausgebucht, das Presseecho war durchweg positiv und spektakuläre Gewalttaten blieben aus. We­gen des großen Erfolgs überlegen die Samba-Bosse sogar, im Sommer ein zweites Mal Karneval zu veranstalten.

Thomas W. Fatheuer

Rio ist nicht die einzige Stadt Brasili­ens, deren Karneval berühmt ist. Eine alte Konkurrenz besteht zwischen Sal­vador, der Hauptstadt von Bahia, und Rio. Salva­dor steht für den Straßen­karneval, tan­zende Massen hinter den “Trio Eletricos”. Zwar hat auch Rio einen Straßenkarneval. In fast allen Stadtvierteln werden “blocos” organi­siert, die singend und tanzend durch die Straßen ziehen und abends geht es zu den “bailes”, den Bällen, die inzwi­schen auch in den ärmeren Teilen der Stadt durch die Stadtverwaltung ge­sponsort werden. Der Höhepunkt des Karnevals in Rio ist aber zweifelsohne der Umzug der besten Karnevalsschu­len in dem eigens dafür erbauten Sta­dion, dem Sambo­dromo. Die 16 besten “Sambaschulen” marschieren hier in der Nacht des Sonn­tags und Montags. Das Spektakel dauert jeweils etwa zehn Stunden und endet erst am frühen Morgen. Jede der Sambaschu­len bringt 3000 bis 5000 Menschen auf die Piste, aufwendige Wagen mit Szenen zum Thema des jeweiligen Sambas, farben­prächtige Kostüme. Eines der Kli­schees über den Karneval in Rio lau­tet: “Die Leute sind arm, aber sparen das ganze Jahr für ein Kostüm.” Nein, der Aufwand ist inzwischen so groß, daß kein Armer mehr dafür sparen kann. In diesem Jahr geben die größ­ten Sambaschulen je­weils etwa 600.000 US-Dollar für ihren Auf­marsch aus. Der Karneval ist tatsächlich zu einem großen Geschäft ge­worden.
600.000 US-Dollar wollen also verdient sein. Da ist erstmal die Schallplatte mit den Sambas der 16 Schulen, verlegt durch Sony. Dann die Fernsehrechte. Hinzu kommt der Eintritt, für bessere Plätze von 250 US-Dollar aufwärts, Logen werden zu unglaublichen Prei­sen an Sponsoren ver­kauft, die dann Prominente einladen. Und selbst einen Platz im Umzug kann man kaufen. Aber 1000 US-Dollar kann eines der schickeren Kostüme schon leicht ko­sten. Und nicht zu vergessen die Wer­bung, allen voran die Brauereien. Die­ses Jahr hat der Marktführer Brahma (Abkürzung für Brasilianisch Hopfen und Malz) das Sambodromo über­nommen. Die Vermarktung wird durch eine Vereinigung der Sambaschulen der ersten Liga selbst organisiert. Doch das alles reicht nicht aus. Die Schulen brauchen Sponsoren, und die haben sich in den letzten Jahren nicht lum­pen lassen. Die Herren des ille­galen Glücksspiel in Rio, die “bicheiros” ha­ben schon vor Jahren die Leitung fast aller Sambaschulen über­nommen. Das “Tierspiel”, jogo do bicho, ist eine Institu­tion in Rio. Obwohl offiziell verboten, kann man an fast jeder Stra­ßenecke auf Nummern setzen, die in­zwischen die ur­sprünglichen Tiere er­setzt haben. 20.000 Menschen wer­den von den bicheiros beschäftigt; und obwohl(?) illegal, gehört das jogo do bicho zu den wenigen Einrichtun­gen, von dem alle Einwohne­rInnen Rios glauben, daß sie funktionie­ren. Die Drahtzieher dieses Glückspiels ha­ben sich also in den letzten Jahren mit einer Ausnahme aller Sambaschulen be­mächtigt, um so ihr Ansehen zu er­höhen. Zweifelhafte Figuren, denen Verbindun­gen zum Drogen- und Waffenhandel nachgesagt werden, sind somit zu den Herren eines der bewun­dertsten Schau­spiele der Welt gewor­den. (Dieses Jahr mußte allerdings die Créme der bicheiros Karneval im Gefängnis verbringen, ver­urteilt wegen Steuerhinterziehung.)
Diese Entwicklungen haben kritischen Stimmen Nahrung gegeben, die dem Kar­neval in Rio die totale Dekadenz beschei­nigen. Der Niedergang habe schon mit der Konstruktion des Sam­bodromos Anfang der achtziger Jahre angefangen. Die Spontaneität der Umzüge, das ungezügelte Treiben auf der Straße, wurde in Beton gebändigt. Baumeister war der Kommu­nist Oskar Niemeyer, der Betonmonster liebt. Damit wurde der Karneval “zivilisiert” und für den Konsum der Rei­chen zu­bereitet, die heute bei Champagner und Hummer in den Logen sitzen.

Samba: die subversive Musik der Hügel

Dabei hatte alles ganz anders begon­nen. Anfang des Jahrhunderts war der Karne­val eine Domäne der Reichen. Sie fuhren in offenen Autos und Kut­schen durch die Straßen und warfen Konfetti in die Menge. Die genoß die freien Tage, amü­sierte sich am Rande, in den dunklen Gas­sen, und spielte eine Musik, die schwarze Sklaven mit nach Brasilien gebracht hat­ten: den Samba. Die ersten “sambistas” waren allesamt Schwarze und wohnten auf den Hügeln der Stadt, den “morros”, wo die Armen sich niederließen, nachdem eine Stadtreform sie aus dem Zentrum vertrieben hatte. Die Polizei verfolgte die “sambistas”, und auch zu Zeiten des Karnevals war ein allzu ausgelas­senes Treiben den Hütern des Geset­zes ein Dorn im Auge. “Wir waren schon üble Bur­schen”, sagte einer von ihnen, Cartola, der später zu einem der bekanntesten Samba­komponisten wer­den sollte. Die ersten sambistas waren so etwas wie die Punks der zwanziger Jahre in Rio. Aber bald gab es Bestre­bungen, der gesellschaftlichen Ächtung zu entrinnen. 1928 wurde die er­ste Sambaschule gegründet. Der Name rührt nicht etwa daher, da die Mit­glieder lernen mußten, Samba zu spie­len oder zu tanzen. Die Sambaschule war eher eine Art Übungsraum, damit die Musikgruppe sich vorbereiten und Feste veranstalten konnte.

Alle lieben Mangueira

Eine der ersten Sambaschulen war “Bahnhof Mangueira”, benannt nach ei­nem Armenviertel, das sich neben ei­nem Halteplatz der Vorstadtzüge er­streckt. Tatsächlich schafften es die von der Poli­zei verfolgten “sambistas” schnell, den Karneval zu erobern. Und so wurde aus dem betulichen Fest der Vornehmen das wilde, ausgelassene Vergnügen, das bis heute durch die eindringlichen Rhythmen der Schwar­zen Musik geprägt ist. Der Preis dieses Erfolges war die Vereinnah­mung des Sambas durch die Eliten und den Kommerz. Aus einer subversiven Mu­sik der Vorstädte wurde so ein harm­loses und akzeptiertes Vergnügen, aber eben auch eine der Formen, durch die die Schwarzen Anerkennung und Er­folg er­ringen konnten. Und die Sambas haben sich immer mehr zu einer Art Marschmu­sik verschnellert und vermanscht.
Mangueira ist heute die beliebteste Sam­baschule in Brasilien, jeder Brasi­lianer hat nicht nur einen Fußball­verein, sondern auch eine Samba­schule, für die er sich be­geistert ein­setzt. Und niemand würde bei den Farben rosa-grün an etwas anderes denken als eben an Mangueira. Viel­leicht ist aufgrund dieser Popularität Mangueira auch die einzige der großen Sambaschu­len, die ohne Verbindung mit dem illega­len Glücksspiel überle­ben kann.
Samba und Karneval lassen sich also nicht vorschnell auf einen Nenner bringen, sie sind ein widersprüchliches Phänomen. Daß noch nicht alles nur Kommerz ist, läßt sich am besten bei einem Besuch ei­ner der Sambaschulen erfahren. Lange vor dem Karneval schon beginnen die Ein­übungen, bei denen der aktuelle Samba immer wie­der gespielt wird, bis auch der letzte Fan den Text mitsingen kann. Das Gelände von Mangueira liegt wie schon zu Zeiten der Gründung direkt am Fuß des Hügels. Der Raum ist eine riesige Turn­halle, stämmige Wächter sorgen davor für Ordnung. Brav entrichten wir den Ein­trittspreis, Män­ner zahlen das doppelte wie Frauen. Beim Eingang scheinen wir aber fast die einzigen zu sein, die bezahlt haben. Vor uns geht eine große Gruppe ein­fach so durch, freundlich begrüßt von den Kontrolleuren, man kennt sich. Klar, die Leute vom “Hügel” zahlen nicht, nur die Fremden werden zur Kasse gebeten.
Die Sambas ähneln einander sehr, der ak­tuelle wird mindestens eine halbe Stunde lang wiederholt, schließlich muß der Vor­sänger beim Umzug auch über eine Stunde lang durchhalten. Die Monotonie läßt die Tänzer in Trance geraten, nicht umsonst heißt es, man müsse in den Samba fallen. Hier bei Mangueira wie bei den meisten Sam­baschulen ist die Ge­schichte des Sam­bas lebendig. Hauptak­teure sowohl bei der Gruppe wie bei den Tanzenden sind die Leute vom Hügel, der das Herz der Schule bildet. Die Einheit von Armenviertel und Sambaschule exi­stiert noch, bezahlt wird nicht und die be­sten Tänzer und die schönsten Frauen be­kommen umsonst das Ko­stüm gestellt.
Die Stimmung ist ausgezeichnet, die Leute von Mangueira glauben, den Titel schon in der Tasche zu haben: “Nur wer schon gestorben, tanzt nicht hinter Mangueira her” lautet der tief­sinnige Re­frain, den inzwischen ganz Rio singt.
Es ist der herbe Charme der Hügel und Vorstädte, der heute den Samba und den Karneval noch leben läßt, ihn vor der voll­ständigen Kommerzialisie­rung und dem Untergang im organi­sierten Spektakel rettet. Hier ist die Quelle der Kreativität und einer trotzi­gen, ausgelassenen Le­bensfreude, nicht in den sterilen Studios der Reichen. Die Kraft der Hügel, der Armenviertel ist die Basis des Karnevals, deren Hö­hepunkt der Tourist, sei er aus Europa oder Brasilien, in seinem Logen­platz genießen kann. Karneval ist daher auch mehr als nur ein paar ausgelas­sene Tage, die eine Existenz im Jam­mertal ver­gessen lassen. Er ist Ausdruck einer Kul­tur des Vergnügens und der Lebensfreude, die an den Ta­gen des Karnevals ihren lu­xuriösen Ausdruck findet.
Das schlimme Klischee “arm aber fröh­lich” drängt sich geradezu auf. Zwei­felsohne, die Allerärmsten amü­sieren sich auch im Karneval nicht. Sie sammeln vielmehr den Abfall auf, su­chen nach Bierdosen und Lebensmit­telresten. Aber wer nicht so tief unten leben muß, schafft es in der Regel, Geld für ein paar Bier zusammenzube­kommen. Die vielen Kar­nevalsbälle sind ein billiges Vergnügen. Eine der besten Beschreibungen der Kraft des Sambas liefern die Sänger Gilberto Gil und Caetano Veloso auf ihrer letzten LP: “Der Samba ist Kind der Trauer und Vater der Fröhlichkeit. Er ist der große Umwandler”. Die Fähigkeit zur Hingabe an das Vergügen, die nicht aus Tumbheit sondern aus Trauer und Begehren wächst, ist eine bewunderns­werte Eigenschaft der BrasilianerInnen. So also läßt sich bei al­ler Kritik am Kommerz die Faszination verstehen, die der Karneval in Rio und vielen an­deren Städten Brasiliens immer noch auf alle Welt ausübt. Zum ersten Mal seit Jahren sind die Hotels wieder aus­gebucht. Rio wird in diesen Tagen zur Hauptstadt der Lebensfreude und das tut der geschundenen Seele der Stadt und ih­rer EinwohnerInnen gut. So singt dann der Vorjahressieger, die Sambaschule Salgueiro, unbekümmert alle Klischees herunter: “Mein Rio ist ein Rio der Freude, vor Glück außer Rand und Band. Rio die wunderbare Stadt, Visitenkarte meines Brasiliens, Rio der Mulatas und des starken Sam­bas, des Fußballs. Ach, wie mein Herz explodiert”. Ja, und wenn 100.000 Menschen in der Nacht dieses Rosen­montags solche Verse singen, dann werden sie plötzlich wahr.

Skandal bei der Preisverleihung

Drei Tage später kommt der Katzen­jammer. Bei der Auszählung der Punkte, die eine Jury verteilt, hält es den Präsidenten von Salgueiro nicht mehr auf dem Stuhl. Er droht, die Jury anzugreifen, schreit lautstark “Betrug” und muß schließlich von der Polizei abgeführt werden. Publikumsliebling Salgueiro, der den Sieg schon in der Tasche zu haben glaubte, landet nur auf dem zweiten Platz. Noch größer die Enttäuschung bei Mangueira: ein magerer und skandalöser 13. Platz. Die Tränen fließen ungehemmt. Mangueira hatte zweifelsohne den populärsten Samba dieses Jahres. (Nicht nur) Rio sang fast nur diesen einen Samba. Er ist eine Hommage an Bahia (die große Karnevalskonkurrentin) und dessen vier große MusikerInnen: Caetano Veloso, Gilberto Gil, Gal Costa und Maria Bethania, die alle an dem Umzug teilnahmen. Mangueiro war es so ge­lungen, vier absolute Größen der po­pulären brasilianischen Musik zusam­menzuführen. Ein Geniestreich, und alle glaubten an den Sieg.
Das schlechte Abschneiden von Man­gueira war Auslöser für eine Diskus­sion, die nicht ganz neu ist. “Zuviel Kommerz, zuwenig Samba” resümiert die alte Garde der Schule. Tatsächlich hatte Mangueira die Politik der Ver­marktung am konsequentesten verfolgt und eine Mangueira-GMBH gegrün­det, die Pauschalreisen zum Karneval mit Platz in der Mangueiraloge zu horrenden Preisen verkaufte. Und die zu große Zahl von verkauften Kostü­men hatte dazu geführt, daß ganze Teile des Umzugs von (brasilianischen) Touristen dominiert wurden, die zwar zahlen, aber nicht tanzen können. Die “Decharakterisierung”, die zuneh­mende Distanz des Managements der Schule vom Morro, der Favela, wurde als Grund für das Desaster angesehen. Immerhin, die Diskussion zeigt, daß die Kommerzialsierung des Karnevals problematisch ist und dazu neigt, den Untergrund, aus dem der Samba seine Kraft bezieht, zu zerstören. Und die Siegerin: Die Sambaschule Imperatriz, mit einem technisch perfekten Umzug, der niemanden begeisterte, die Jury aber auch keine Fehler entdecken ließ. Für die Leute auf der Straße war das Urteil klar: Eine Woche nach dem Karneval wurde bei einem großen Freilichtkonzert der Samba des Jahres 1994 gespielt und begeistert mitgesun­gen: Natürlich, der von Mangueira.

Kasten

Zwischen Rebellion und Schwachsinn

Jeder Samba der Schulen hat Text und Thema. Die sind oft belanglos bis peinlich. Aber immer gibt es Ausnah­men. Dieses Jahr hatten ohne Zweifel die Unidos de Viradouro den interes­santesten Samba: Eine Ehrung an Teres de Benguela, eine Prinzessin, die als Sklavin von Afrika nach Brasilien verschleppt wurde, dort floh und im Pantanal zur Führerin eines “Quilombos”, eines Staates von ent­laufenen SklavInnen wurde: “Die Re­bellion entzündete die Flamme der Freiheit, den Traum der Freiheit im Quilombo […] Eine goldene Sonne wird leuchten. Das Licht Terezas wird nicht erlöschen und Viradoura wird erstrah­len in der neuen Ära.”
Das Ganze präsentiert nicht von Tou­ristInnen und ohne die sonst üblichen (weißen) Modelle, sondern fast aus­schließlich von den dunkelhäutigen AnhängerInnen der Schule. Resultat: ein dritter Platz, der in Niteroi, der Heimat von Viradouro wie ein Sieg gefeiert wurde. Peinlich hingegen wirkt die Freiheitslyrik der Siegerin Impe­ratriz. Die besingt die beim Karneval äußerst beliebten Indigenas (guter Vorwand, um viel Haut zu zeigen), al­lerdings mit eher unbrauchbarem Auf­hänger: Besungen wird die Präsentie­rung von Indigenas am französischen Hof im 16. Jahrhundert. “Mon amour c’est si beau” heißt’s auf französisch. Weiter: “Brasilien, das Bild der Nackt­heit und des Mutes”. Und im Refrain: “Ich bin Indio, ich bin stark, ich bin Sohn des Glückes, ich bin natürlich, ich bin Krieger, ich bin das Licht der Freiheit.” Nun ja, für die meisten en­dete die Verschleppung nach Frankreich tödlich.

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