Bolivien | Nummer 345 - März 2003

20 Jahre auf dem Prüfstand

Boliviens Demokratie nach dem Jubiläumsjahr in schweren Turbulenzen

Mitte Februar 2003 erlebte Bolivien die schwersten Unruhen seit dem Antritt der neuen Regierung von Sánchez de Lozada. Aus einem Konflikt um die Einführung einer Steuer wurde ein Polizeistreik, der erst nach zwei Tagen gewalttätiger Auseinandersetzungen beendet wurde. Die Spaltung zwischen den verschiedenen, politischen und sozialen Akteuren nimmt weiter zu. Regierung und Opposition, Armee und Polizei, Kokabauern und Gewerkschaften so wie Parlament und soziale Bewegungen sind voller interner Widersprüche und tragen immer öfter Konflikte mit Gewalt aus.

Blas Urioste

Boliviens Demokratie wankt. Die blutigen Auseinandersetzungen am 12. und 13. Februar brachten 33 Tote, mehr als 200 Verletzte, ein Aufruf der Opposition, die Regierung zu stürzen, Plünderungen in Ministerien, Banken und Geschäften. Es waren die schlimmsten Zusammenstöße zwischen Polizei und Armee seit der Revolution von 1952.
Die Eliteeinheiten der Polizei machten den Anfang. Schon am 10. Februar hatten sich Spezialeinheiten (Grupo Especial de Seguridad, Policía de Ayuda Al Ciudadano) in ihre Kasernen zurückgezogen. Sie forderten Lohnerhöhungen und die Rücknahme des Regierungsvorschlages eine Lohnsteuer zu erheben. Bei Verhandlungen zeigte sich, dass die Regierung in einigen Punkten zum Nachgeben bereit war, nicht aber bei der Frage der Steuern. Am 12. Februar schlossen sich immer mehr Einheiten dem Streik der Elitepolizisten an und erhöhten so den Druck auf die Regierung. Gegen Mittag hatten Vermittler die aufständischen Polizisten zu Verhandlungen mit der Regierung bewegt. Just in diesem Moment kamen ungefähr 50 Jugendliche auf die Plaza Murillo und bewarfen den Regierungspalast mit Steinen. Als eine Militäreinheit versuchte, das Gebäude unter Anwendung von Tränengas zu schützen, kamen Polizisten den jugendlichen Steinewerfern zu Hilfe und feuerten ihrerseits Tränengas auf die Soldaten.
Bis hier stimmen die Versionen der verschiedenen Akteure überein. Was danach geschah, wird sich wahrscheinlich nicht ganz aufklären lassen. Sicher ist, dass von beiden Seiten scharf geschossen wurde. Auf den Dächern der umliegenden Gebäude tauchten Heckenschützen auf und feuerten gezielt auf Menschen. Unter wessen Befehl diese Personen agierten, ist völlig unklar – bis jetzt wurden zwei Verdächtige verhaftet. Am Abend appellierte Präsident Sánchez de Losada im Fernsehen an beide Parteien, sich zurückzuziehen – ohne Erfolg. Erst in der Nacht sollte Ruhe einkehren auf dem Platz, auf dem an diesem Tag sechs Polizisten, zwei Armeeangehörige und sieben Zivilisten getötet wurden. Mindestens zehn erlagen in den folgenden Tagen noch ihren schweren Verletzungen.
Während sich Polizei und Armee bekämpften, stürmten aufgebrachte Menschen das Arbeitsministerium, die historische Bibliothek des Kongresses und Teile des Ministeriums für Nachhaltige Entwicklung und setzten die Gebäude in Brand. Vielerorts kam es zu Plünderungen: in La Paz und dem angrenzenden El Alto, aber auch in Santa Cruz, Cochabamba und anderen Städten. In einigen Bezirken organisierten NachbarInnen und LadenbesitzerInnen Bürgerwehren. Die Polizeieinheiten weigerten sich weiterhin, ihre Kasernen zu verlassen und für Ruhe zu sorgen.

Der Aufruf

„Hiermit rufe ich das bolivianische Volk auf, sich zu erheben und diese Diktatur zu stürzen“ äußerte der Oppositionsführer Evo Morales auf einer Pressekonferenz am 13. Februar, anlässlich der Zusammenstöße zwischen Armee und Polizei. An seiner Seite saß Carlos Calvo, der konservative Chef des Unternehmerverbandes des Landes (CEPB), der sich mit Morales getroffen hatte, um „gemeinsame Aktionen“ zu planen. Gleichzeitig – auf einer anderen Pressekonferenz – gab der Präsidentschaftskandidat und ehemalige Paramilitär Manfred Reyes Villa ein ähnliches Statement ab: Es sei endlich die Zeit gekommen, diese illegitime Regierung zum Sturz zu bringen, alle sollten auf die Straßen gehen und gemeinsam die Macht erobern. Während der Straßenkämpfe in La Paz organisierte der Dachverband der Gewerkschaften, die Central Obrera Boliviana, eine Demonstration, um sich den Protesten anzuschließen. Die Kokabauern (Cocaleros) organisierten spontan eine Straßenblockade. Beide forderten den Rücktritt der Regierung. Auch am 13 .verloren bei Auseinandersetzungen und Schießereien mindestens ein halbes Dutzend Menschen ihr Leben.

Ruhe vor oder nach dem Sturm

Nach langen und zähen Verhandlungen zwischen Regierung und Polizei wurde der Haushaltsentwurf zurückgezogen. Die Polizei verließ am Abend des 13. Februar die Kasernen und begann mit der Verhaftung von Plünderern. Dabei ging sie mit besonderer Brutalität vor. Am nächsten Tag waren sich die großen bolivianischen Medien einig: Es habe einen Volksaufstand gegen den „impuestazo“ – die große Steuererhöhung – gegeben, leider sei es dabei zu Plünderungen gekommen, weil „asoziale Elemente“ die Lage ausgenutzt hätten. Die Zeitungen würdigten die Polizei für ihre Arbeit.
Als die „Normalität“ wiedereinkehrte, entschied sich die Regierungskoalition unter wachsenden Druck dazu, ein neues Kabinett zu formieren; dazu wurde die Anzahl der Ministerien von 18 auf 13 und die der Staatssekretäre um ein Drittel reduziert. Außerdem sollen die Diäten der Parlamentarier um 30 Prozent gekürzt werden. Bezüglich der ungeklärten Umstände am 12. und 13. Februar hat die Regierung die OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) und die Comision Interamericana de Derechos Humanos (Interamerikanische Menschenrechtskommission) gebeten, eine Untersuchung einzuleiten, insbesondere um die Rolle der Heckenschützen zu klären.

El Impuestazo

Das Staatshaushaltsdefizit hat in diesem Jahr die Rekordmarke von 8,5 Prozent erreicht, es gibt kein Wachstum, die Arbeitslosigkeit steigt, der Boliviano ist gegenüber den Währungen der Nachbarländer überbewertet, was die Exportwirtschaft in große Schwierigkeiten bringt. Die Regierung Sánchez de Losada hatte eine Arbeitsplatzoffensive angekündigt: Mit Hilfe öffentlicher Investitionen sollten Infrastrukturprojekte realisiert werden, um damit die interne Nachfrage anzukurbeln. Zur Finanzierung wurden vier Milliarden US-Dollar an Krediten veranschlagt. Die Geberländer und der Internationale Währungsfonds (IWF) hatten Kredite in Aussicht gestellt für den Fall, dass Bolivien das Defizit um drei Punkte auf 5,5 Prozent reduziert. Die Regierung entschied sich zunächst dafür, die Steuern auf die transnationalen Ölgesellschaften zu erhöhen und die Regierungsausgaben zu reduzieren. Gleichzeitig sollte eine Steuerreform durchgeführt werden.
Am 10. Februar reichte die Regierung den Haushaltentwurf für das Jahr 2003 beim Parlament ein. Unter anderem war vorgesehen, die Löhne und Gehälter aller hohen Verwaltungsposten, wie beispielsweise MinisterInnen, StaatssekretärInnen, VerfassungsrichterInnen um zehn Prozent zu kürzen. Die Mehrwertsteuer sollte von 13 Prozent auf 12,5 Prozent reduziert werden. Am umstrittensten und unmittelbarer Auslöser der Unruhen, war der Plan, eine Einkommenssteuer von 12,5 Prozent einzuführen, für alle, die monatlich über ein festes Einkommen von über 115 US-Dollar verfügen – der so genannte impuestazo. Das zu besteuernde Gehalt entspräche ungefähr zwei Mindestlöhne und würde 20 Prozent über dem durchschnittlichen Monatseinkommen liegen (80 US-Dollar).
Der Plan hätte rund 340.000 LohnempfängerInnen mit einer festen Arbeitsstelle betroffen: BeamtInnen, ÄrztInnen und LehrerInnen, PolizistInnen, das Militär, JournalistInnen und einige zehntausende ArbeiterInnen. Durch die sinkende Kaufkraft im formellen Sektor wäre auch der größte Teil der arbeitsfähigen Bevölkerung indirekt betroffen gewesen. Dazu gehören selbstständige DienstleisterInnen wie Taxi-, Bus- und LastwagenfahrerInnen, StraßenhändlerInnen, Dienstpersonal.

Die Opposition

Am 6. August 2002 hatte Evo Morales als Chef der Opposition angekündigt, von der Macht der Straßen Gebrauch zu machen, falls die Gesetzesvorlagen seiner Fraktion von der Mehrheit des Parlaments abgelehnt werden sollten. Das Volk lasse sich nicht vom Parlament bevormunden. Seine Partei hatte 21 Prozent der Stimmen erhalten und war damit die zweitstärkste Kraft geworden. Sie zog ins Parlament mit dem ausdrücklichen Ziel, Fundamentalopposition gegen das kapitalistische System und die repräsentative Demokratie auszuüben.
Evos Basis sind die Kokabauern, deren Mobilisierungskraft besonders stark ist. Seit mehr als 15 Jahren ist die Kokaregion stark militarisiert und es kommt immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen durch das Militär. Noch nie musste sich ein Militär einem Gerichtsverfahren stellen, obwohl immer wieder von Morden und Vergewaltigungen durch das Militär in diesen Gegenden berichtet wird.
Die neue Regierung Sánchez de Losada verfolgte nach Amtsantritt weiter die repressive Politik gegenüber den Kokabauern, versuchte aber gleichzeitig die US-Administration davon zu überzeugen, dass eine Pause bei der Vernichtung der Plantagen politisch notwendig sei, um andere Reformen im Land voranzutreiben. Die USA ließen nicht locker und stellten gemeinsam mit anderen Geberländer klar, dass eine Weiterverfolgung der von Banzer initiierten Drogenbekämpfungspolitik die Voraussetzung für weitere Kredite sei. So kam es im Januar dieses Jahres erneut zu Straßenblockaden, und zu mehreren Toten bei Zusammenstöße zwischen Militär und BäuerInnen und wieder mal gab es keinen Verantwortlichen. Dies rief die Solidarität vieler Menschen im Lande hervor und begünstigte eine Allianz mehrerer Proteste unter der Führung von Evo Morales.
RentnerInnen, LehrerInnen fordern ihrerseits soziale Sicherung ebensowie die StudentInnen, die zudem bessere Bildung verlangen. Landlose besetzen Haciendas und die indigene Bewegung mobilisiert sich für Landwirtschaftskredite und mehr Autonomie. Evo Morales machte sich diese Forderungen zu eigen und wurde dadurch zu einer Galionsfigur einer nationalen Bewegung, die das Wirtschaftssystem des Landes verändern will.

8. Oktober 1982

Die Medien fragen sich unterdessen, ob Sánchez de Losada überhaupt politisch überleben könne, angesichts seiner vorgeführten Schwäche. Morales organisiert unterdessen weiter Straßenblockaden und koordiniert Aktionen mit anderen Oppositionellen, um den Sturz der Regierung voranzutreiben.
Der IWF, dessen Delegation sich während der Unruhen in La Paz aufhielt, denkt laut darüber nach, nicht drei Punkte Defizitreduzierung, sondern nur 1,5 zu fordern, um die Kredite fließen zu lassen. Diese Organisation kann es sich schwer leisten, ein weiteres Land in die totale Krise versinken zu lassen, ohne weiter an Renommee zu verlieren. Die Regierung hängt stark vom „good will“ der Armee und Polizei und den kommenden wirtschaftlichen Entwicklungen ab. Sie steht unter Druck der internationalen Gebergemeinde und auch die Mehrheit der Bevölkerung übt Druck aus und erwartet zurecht, dass sich ihre Lebensbedingungen verbessern.
Bolivien hält den weltweiten Putschrekord inne. Im letzten Jahr am 8.Oktober erlebte das Land den zwanzigsten Geburtstag seiner Demokratie und vergaß zu feiern. Nun stehen schwere Monate bevor.

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