Argentinien | Nummer 342 - Dezember 2002

Argentinien ist nicht pleite

Interview mit dem Ökonom Claudio Lozano

Claudio Lozano, Direktor des Informationsinstituts des unabhängigen Gewerkschaftsverbands CTA und Vorstandsmitglied des CTA, war auf Einladung des Entschuldungsbündnisses erlassjahr.de in Deutschland und hatte in Berlin Gelegenheit, seine Position vor dem Finanzausschuss des deutschen Bundestags darzustellen. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit dem Ökonomieprofessor der Universität von Buenos Aires über die verfehlte Wirtschaftspolitik der Regierung, die Versuche des IWF, in Argentinien einen Kurswechsel zu verhindern, sowie die Chancen eines linken Bündnisses unter Beteiligung des CTA. Der Gewerkschaftsverband Central de Trabajadores Argentinos (CTA) wurde 1992 als Alternative zu den traditionell peronistischen Gewerkschaftsverbänden gegründet und hat heute etwa 850.000 Mitglieder.

Gianni Bisaccia / Alexander Jachnow

Seit einem Jahr ist überall in den Tageszeitungen zu lesen: „Argentinien ist pleite.“ Wie kann ein Land denn pleite gehen?

Die Behauptung, Argentinien sei pleite, ist absolut subjektiv. So argumentieren die meisten Gläubiger Argentiniens und die führenden argentinischen Unternehmer. Damit wollen sie erreichen, dass nur ein einziger Ausweg als möglich erscheint: die Rückzahlung der Schulden so weit als möglich zu sichern und gleichzeitig die existierenden Institutionen zu erhalten. Das Argument, Argentinien sei bankrott, verhindert jede Diskussion über eine gerechtere Verteilung im Land selbst oder die Verhandlungen über die Entschuldung anders zu führen. Aber dieser Standpunkt ist falsch, denn Argentinien hat weiterhin beachtliche natürliche Ressourcen und einen hohen Bildungsstand der arbeitenden Bevölkerung. Selbst in den letzten Monaten hat die Regierung eine Kapitalflucht von etwa zwölf Milliarden US-Dollar zugelassen, obwohl das Land angeblich pleite ist.

Was bezwecken denn die argentinische Regierung und die Unternehmer, wenn sie behaupten, Argentinien sei zahlungsunfähig?

Es gibt eine ganze Kette von Argumenten, die das aktuelle Vorgehen der Regierung, um aus der Krise zu kommen, begründen sollen. Das zweite Argument, das von offizieller Seite ins Feld geführt wird, ist, dass Argentinien um jeden Preis eine Einigung mit dem IWF erzielen müsse. Nur so könne wieder Kapital ins Land fließen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Das ist auch falsch, denn das einzige, worüber mit dem IWF verhandelt wird, ist die Refinanzierung der fälligen Schuldtitel beim IWF und anderen ausländischen Gläubigern. Anders als noch zu Beginn der neunziger Jahre, gibt es im heutigen globalen Kontext keinerlei Interesse, in diese Region zu investieren und am wenigsten in Argentinien.
Damit verbunden ist auch das Argument, dass jede Investition sich automatisch positiv auf das Wirtschaftswachstum auswirke. Die Geschichte Argentiniens der letzten zehn Jahre beweist etwas anderes. Von 100 investierten US-Dollar trugen gerade mal vier zu einer Steigerung der Wirtschaftsleistung bei. Die restliche Summe kam entweder in Form staatlicher Kredite, die sich in öffentliche Schulden verwandelten und Kapitalflucht und Spekulation ermöglichten, oder wurde in den Kauf von Unternehmen investiert, die bereits existierten, ohne dass damit die Wirtschaftskapazität des Landes erhöht worden wäre. Den einzigen Effekt, den das hatte, war die Entnationalisierung der Produktion.
Das dritte falsche Argument ist, das Argentinien keine Ressourcen mehr besitze. Der Staat besitzt eine Devisenreserve von 9,5 Milliarden US-Dollar zur Stützung der eigenen Währung. Das ist eine völlig überzogene Höhe. Generell werden Währungen durch die vorhandenen Kapazitäten, die das Land durch seine Wirtschaft und natürlichen Ressourcen besitzt, gestützt und nicht durch Geldreserven in Fremdwährung. Argentinien könnte also seine Ökonomie wieder in Gang bringen. Aber das wird nicht getan.
Viertens wird behauptet, dass aufgrund der wirtschaftlichen Situation die soziale Ungleichheit nicht lösbar sei. Argentinien ist ein Land, das praktisch alle seine Gesellschaftsverträge gebrochen hat, die es einst hatte. 1975 hatte Argentinien 22 Millionen Einwohner und weniger als zwei Millionen Arme. Unter den heute 37 Millionen Argentiniern sind 20 Millionen Arme. In absoluten Zahlen ist in den letzten 26 Jahren die Armut mehr als fünf mal so stark gewachsen wie die Bevölkerung. Zwölf Millionen Verarmte stammen aus einer ehemals breiten Mittelschicht, die immer auch das hervorstechende Merkmal Argentiniens im lateinamerikanischen Vergleich gewesen ist. Wenn man jedoch den heutigen Konsum aller Haushalte zusammennimmt, so könnten 120 Millionen Menschen oberhalb der Armutsgrenze leben. Es gibt also eindeutig etwas in gerechterer Weise zu verteilen, sonst könnte es ja keine solche Fehlverteilung geben.
Das fünfte falsche Argument ist, dass Argentinien nicht selbstständig aus der Krise kommt, sondern dazu auf den IWF und die Weltbank angewiesen sei. Das Umgekehrte ist der Fall. Wenn Argentinien nicht allein seine inneren Strukturen aufzubauen in der Lage ist, wird es niemals aus der Krise kommen. Denn wenn es wie heute so weiter geht, also systematische Kapitalflucht ermöglicht und die eigene Wirtschaft von Importen abhängig gemacht wird, innerhalb von drei Jahren die gleichen Schulden erneut angehäuft.
Natürlich muss mit den Gläubigern verhandelt werden, aber es wird kritisch zu prüfen sein, wer Argentiniens Interessen letztendlich vertreten wird. Wenn man nur die Regierung wechselt, wird sich nichts ändern können. Eine politische Grunderneuerung ist die Voraussetzung, um aus der Verschuldung zu kommen.

In welcher Weise ist die neoliberale Wende Anfang der neunziger Jahre unter Menem, die schon unter der Militärdiktatur (1976-1983) angeschoben wurde, für die jetzige Situation verantwortlich?

Die handels- und finanzpolitische Öffnung des Landes unter der Militärdiktatur hat dazu geführt, dass sich ein neuer Typ der Politik- und Wirtschaftseliten durch das Konzept der Verschuldung etablieren konnte. Auf den internationalen Finanzmärkten wurde zu geringen Zinssätzen Geld aufgenommen, auf dem lokalen Markt zu hohen Zinssätzen verliehen und die Gewinne wurden ins Ausland geschafft. Daher gibt es für jeden Schuldendollar einen Dollar Fluchtkapital im Ausland. Die wirtschaftliche Macht der Anleger im Zusammenhang mit der Verschuldungskrise fand in Finanzspekulation und Kapitalflucht ihren Ausdruck. Investitionen in die Produktion haben sich zugunsten der Finanzinvestitionen verschoben. Das hat der nationalen Industrie geschadet, die wegen der fehlenden Innovation der Produkte an Wettbewerbsfähigkeit einbüßte. In der Folge stieg die Arbeitslosigkeit und sanken die Löhne.

Wäre es möglich gewesen, diesen Prozess aufzuhalten?

Die Geschichte lehrt uns, dass dies offensichtlich nicht möglich gewesen ist. Die politische und wirtschaftliche Elite des Landes schuf Mitte der 70er Jahre ein autoritäres Regime und setzte einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik in Gang. Die Unterdrückung der Gesellschaft hat den Einfluss der Unternehmer auf die Politik gestärkt. Die politische Klasse ist auch nach dem Ende der Diktatur 1983 in großem Maße durch die großen Unternehmen korrumpiert worden. Wir haben heute nicht nur eine Wirtschaftskrise, sondern auch eine tiefgreifende politische Krise, bedingt durch die Komplizenschaft der politischen Parteien, der Parlamentarier und der Justiz untereinander. Die einzigen, die versuchen, diese Entwicklung aufzuhalten, ist die Bevölkerung.

In welcher Weise drückt sich diese starke Ablehnung der Bevölkerung aus? Wir lesen häufig, dass physische Gewalt eine erhebliche Rolle spielt, zumal die Repression des Staates seit dem offenen Ausbruch der Krise vor einem Jahr stark angestiegen ist.

Der Staat und die Justiz haben jegliche Legitimation verloren, die Parteiverdrossenheit ist enorm. Teile der Bevölkerung machen dem Staat das Gewaltmonopol streitig. Es kam schon häufiger bei der Räumung von Straßensperrungen zu Toten. Insbesondere Staatsgebäude müssen geschützt werden, um nicht Ziel von Übergriffen zu werden, bei den Politikern ist es ähnlich. Politiker werden angespuckt, tätlich angegriffen, ihre Wohnorte sind nicht sicher. Einige können sich nicht auf die Straße trauen, ohne Angst haben zu müssen, angefeindet und verprügelt zu werden. Die Argentinier wissen, dass die Präsidentschaftswahlen am 30. März 2003 eine eingeschränkte institutionelle Lösung sind, da alle Kandidaten zusammen auf höchstens 30 Prozent kommen und die Mehrheit der Bevölkerung nicht wählt oder eine ungültige Stimme abgibt.

Sie haben davon gesprochen, dass eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik eine Grundlage schaffen könnte, um die argentinische Volkswirtschaft wieder zu beleben. Die etablierten Parteien sträuben sich gegen eine innere und inhaltliche Erneuerung. Wem aus den vielen Oppositionsparteien trauen sie neue Impulse zu?

Zuallererst muss ich nochmals betonen, dass die meisten Politiker gar keinen und einige Politiker ein wenig Zuspruch erhalten. Jedoch nur, wenn sie prinzipiell die aktuelle Form, Politik zu machen, in Frage stellen. Durch eine Parteienlandschaft ohne sichtbares Bemühen nach innerer Erneuerung, ein Wirtschaftssystem, das keine passenden Antworten auf die Bedürfnisse der Menschen gibt und die damit verbundenen gesellschaftlichen Erfahrungen der letzten zwei Jahrzehnte haben ein starkes Bedürfnis nach Veränderungen erzeugt. Die Oppositionsgruppen haben jedoch unterschiedliche Visionen von Politik und Gesellschaft, Konsens besteht lediglich darüber, den status quo abzulehnen und zu bekämpfen. Ein Wahlsieger aus der Opposition würde außerdem nicht nur gegen die Wirtschaftseliten ankämpfen sondern gegen ein feindlich gesinntes Parlament regieren müssen, das ebenfalls als Teil der Institutionen stark in Frage gestellt wird.

Wer könnte Teil eines Bündnisses sein und welche Rolle spielt dabei die CTA?

Angefangen von den Dissidenten aus der peronistischen (PJ) und der radikalen (UCR) Partei über die Mitte-Links-Vertreter wie Elisa Carrió von ARI bis zu Izquierda Unida, die einen Teil der Kommunisten umfasst, ist ein Bündnis möglich. Auch Luis Zamora als Vertreter der revisionistischen Linken und die Bewegungen, die aus den Protesten oder schon vorher entstanden sind wie die Arbeitslosen- und Stadtteilbewegungen, können sich als Teil eines breiten Bündnisses herauskristallisieren. Bisher haben jedoch persönliche Animositäten und ideologische Zwistigkeiten ein länger andauerndes Bündnis untergraben. Klar ist nur, dass die Argentinier zu wesentlich mehr bereit sind als die etablierte politische Klasse zu denken vermag. Die hohe Wählermobilität in Argentinien macht eine Prognose über den Wahlausgang sehr schwierig. Carrió hat eine echte Siegchance, wenn es gelingt, aus den vielen politischen Gruppen ein Bündnis zu schmieden.
Doch prinzipiell bin ich der Ansicht, dass jeder eine Siegchance hat, der eine andere Politik als die der etablierten Parteien vertritt. Auch das Beispiel Kirchner zeigt, dass, obwohl er zur PJ gehört, durch ein Ausscheren aus seiner Partei seine seit längerem kritischen Positionen auf fruchtbaren Boden fallen und ihm zum Sieg verhelfen könnten. Das sage ich ganz unabhängig davon, was ich mir nun wünsche. Überraschungen gibt es momentan sehr viele. Eine andere Möglichkeit wäre, dass es gar nicht zu Wahlen im März kommt.

Was gibt denn den Ausschlag, das deutsche Parlamentarier ihre Auffassung hören wollen, und nicht mehr allein den Einschätzungen der internationalen Organisationen vertrauen?

Noch 1998 haben der IWF, die Weltbank und die Interamerikanische Entwicklungsbank (BID) Menem international als den Macher des argentinischen Wirtschaftswunders vorgestellt, und damit eine weitere Verschuldung ermöglicht, während faktisch schon keinerlei Indikatoren mehr existierten, die eine Fortsetzung seiner Wirtschaftspolitik gerechtfertigt hätten. Damit haben sich diese Organisationen als Komplizen der argentinischen Oberschicht bekannt, deren Interesse nicht beständiges Wachstum, sondern kurzfristige finanzielle Gewinne waren. Die BID beispielsweise hat 70 Prozent ihres Kreditgeschäftes mit Argentinien gemacht. Sie sind Gläubiger mit Eigeninteressen. Ich schätze, dass den Deutschen das inzwischen klar ist.

Die CTA hat am 10. November einen Wirtschaftsplan („Shock Distributivo“) landesweit zur Diskussion gestellt. Er kann von der Internetseite der CTA heruntergeladen werden: www.cta.org.ar

KASTEN:
Deutsche Anleger schauen in die Röhre
Arbeitsgemeinschaft Argentinien Anleihen (AAA). Zumindest der Name spricht für Humor. AAA ist das höchste Rating, das öffentliche Schuldner bekommen können und steht für höchste Bonität, also für höchste Rückzahlungssicherheit. Viel mehr als Galgenhumor wird den Zeichnern von argentinischen Staatsanleihen wohl auch nicht bleiben. Seit sich Argentinien vor einem Jahr für zahlungsunfähig erklärt hat, bedient das Land den privaten Teil seiner rund 141 Milliarden US-Dollar Auslandsschulden nicht mehr, während bei öffentlichen, mulitlateralen Gläubigern wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Interamerikanischen Entwicklungsbank und der Weltbank zumindest die Zinszahlungen aufrecht erhalten wurden. Allein in Deutschland hat Argentinien Anleihen von sieben Miliarden Euro platziert – 385 Millionen davon werden von der AAA vertreten. Sie galten wegen der hohen Zinsen als Geheimtip – für sie gab es rund fünf Prozent mehr als für einen vergleichbaren Bundesschatzbrief, mit dem Hans Eichel seine Haushaltslöcher stopft. Doch das Synonym für Zins heißt Risikoprämie – eine Prämie für das Risiko des teilweisen oder totalen Forderungsausfalls. Die Anleger, darunter auch viele Kleinsparer, die Argentinien-Anleihen gezeichnet haben, haben auf das falsche Pferd gesetzt – ob aus falscher Beratung oder spekulativer Gier. Auch wenn Argentinien irgendwann wieder die Bedienung seiner privaten Staatsschulden aufnimmt, werden die Anleger nur noch einen Bruchteil ihrer investierten Summe zurückbekommen. Derzeit notieren die Anleihen bei 20 Prozent ihres Nennwerts. Der Versuch per Gerichtsklage wieder an sein Geld zu kommen, ist wenig aussichtsreich. Selbst wenn ein Gericht den Anlegern einen Rechtsanspruch auf ihr Geld einräumen würde, hätten sie praktisch keine Möglichkeit, das Geld vom Staat Argentinien tatsächlich einzutreiben. Einem nackten Staat kann man nicht in die Tasche greifen.

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