Brasilien | Nummer 315/316 - Sept./Okt. 2000

Aluminium hat einen matten Glanz

Teil 2: Das Megakraftwerk Tucuruí

Nachdem im ersten Teil die größte Bauxitmine der Welt im brasilianischen Amazonasbecken beschrieben wurde, führt uns der Autor im zweiten Teil der Reportage zum Megakraftwerk Tucuruí. Seit 16 Jahren liefert es die Energie zur Gewinnung des Aluminiums.

Andreas Missbach

Strom ist neben Bauxit der wichtigste „Rohstoff“ der Aluminiumproduktion. Knapp tausend Kilometer südöstlich von Trombetas liegt Tucuruí, das weltweit erste große Wasserkraftwerk in den Tropen. Es liefert die Energie für die Aluminiumgewinnung in Amazonien.
In den sechziger und frühen siebziger Jahren hatte die brasilianische Militärregierung mit Amazonien vor allem ein Problem: Das riesige Territorium war ihrer Ansicht nach zu leer und zu schlecht ins brasilianische Staatsgebiet integriert. Das könnte, so befürchteten die Strategen, die Gier der Nachbarn oder Industrieländer im Norden wecken. Amazonien sollte deshalb erschlossen und besiedelt werden, womit auch gleich noch die sozialen Spannungen im übrigen Brasilien gelöst werden könnten. Die ersten Pläne für ein Kraftwerk am Rio Tocantins bei Tucuruí stammen aus dieser Zeit. Es sollte Strom für die neuen Siedlungen entlang der Transamazônica und für Belém, die 300 Kilometer entfernte Hauptstadt des Bundesstaates Pará, liefern.
Nach der Ölpreiskrise von 1973 setzten die Technokraten in der Regierung neue Prioritäten. Mit der Energie von Tucuruí wollten sie die reichlich vorhandenen Erze in der Region verarbeiten und als Grundstoffe für die weitere Industrialisierung Brasiliens verwenden. Die internationalen Banken boten damals günstige Kredite für solche Großprojekte.

Vertreibung durch den Stausee

Als die Zinsen anzogen, änderten die Planer ihre Konzepte erneut. Die Ressourcen Amazoniens sollten nun exportiert werden, um vom Erlös die Kredite zu bedienen und die Auslandschulden zurückzuzahlen. Weil dem Staat das Geld fehlte, um die geplanten Fabriken selbst zu bauen, wurden Multis ins Land geholt. Nach diesem Plan wurde das Kraftwerk Tucuruí in Angriff genommen. Der Bau des Dammes lockte Zehntausende in die Gegend. 1970 lebten in der Gemeinde Tucuruí 8500 Menschen, zehn Jahre später waren es mehr als 60.000. Als die 78 Meter hohe und 6,5 Kilometer lange Staumauer 1984 geschlossen wurde, bildete sich ein See von 170 Kilometer Länge mit einer durchschnittlichen Breite von 17,3 Kilometern. Das Wasser überschwemmte ein Gebiet von 2875 Quadratkilometern, also die fünffache Fläche des Bodensees.
“Ich bin mit meiner Familie auf der Suche nach Land aus dem Nordosten Brasiliens gekommen. Wir erhielten eine Parzelle an der Transamazônica“, erzählt Maria Josefa de Lima, genannt Sefina. „Die ersten Jahre waren schrecklich. Es gab nichts. Keine Zufahrtsstraßen, keine Schulen, keine Gesundheitsposten, nur wilde Tiere und Malaria. Als wir nach Jahren harter Arbeit ein Haus gebaut und dem Wald unsere Pflanzungen abgerungen hatten, kam das Wasser“. Nach einem offiziellen Bericht wurden 4407 Familien umgesiedelt, mindestens 20.000 Personen. Betroffen waren vermutlich noch sehr viel mehr Menschen, denn viele hatten keinen Besitztitel und damit auch kein Anrecht auf Entschädigung.
Der klapprige Geländewagen biegt von der neuen Transamazônica (auch ein Stück dieser Straße verschwand in den Fluten) in eine kleine Dreckstraße voller Schlaglöcher ein. Während der nächsten zwanzig Kilometer durchquert die Straße die Viehweiden der Großgrundbesitzer. Erst dann erreichen wir das Gebiet, in das Sefina und viele andere Familien gebracht wurden. „Manche Böden waren für die Landwirtschaft unbrauchbar. An anderen Orten gab es nicht einmal Wasser auf den Parzellen“, sagt Sefina. Auch heute gibt es lediglich einen schlecht ausgestatteten Gesundheitsposten und eine Baracke mit einem Loch in der Wand, die als Schule dient. Ihr Dach ist aus Faserzement. “Eigentlich dürften Schulen gar keine solchen Dächer haben. Über Mittag wird es so heiß darin, dass die Kinder reihenweise in Ohnmacht fallen.“
Bis heute haben Sefina und ihre NachbarInnen in ihren Hütten keinen elektrischen Strom. „Viele Familien gaben auf und verkauften ihr Land“, sagt Sefina. „Meine Parzelle ist heute rundum von Großgrundbesitz eingeschlossen.“
Nicht nur die Umsiedelung der Menschen war chaotisch. Der Zeitplan und das Budget des Kraftwerks Tucuruí waren bereits überzogen, als die Verschuldung die Baukosten explodieren ließ. Der Bau allein kostete eine Milliarde US-Dollar mehr als geplant, hinzu kamen zwei Milliarden US-Dollar für Zinsen während des Baus. Insgesamt war Tucuruí mit 7,5 Milliarden US-Dollar fast doppelt so teuer wie geplant.
Seit dem Ausbruch der Verschuldungskrise Lateinamerikas 1982 ging es nur noch darum, die Stromproduktion so schnell wie möglich aufzunehmen. Dem Geldmangel wurde eine Schleuse im Staudamm geopfert, die den Schiffsverkehr auf dem Tocantins sichergestellt hätte. Die Rodungen im zukünftigen Seebecken wurden eingestellt, nur gerade fünfzehn Prozent des Waldes war abgeholzt.
Auf dem Grund des Sees blieben auch die Edelhölzer. Das brachte einen findigen Kopf auf die Idee, eine Motorsäge an eine Druckflasche zu hängen: Die Unterwasserholzfäller waren geboren. Heute haben sie Hightech-Konkurrenz erhalten: ein kanadisches Unternehmen bekam von der Eletronorte die Lizenz, auf dem See ein Floß mit einem ferngesteuerten Greifarm zu betreiben. Mahagoni und andere Edelholzstämme werden in einem Griff gepflückt. Das Holz blieb unter Wasser so gut konserviert, dass es sich immer noch teuer verkaufen lässt.
„Die ersten Jahre waren die schlimmsten, das Wasser stank grässlich, und die Moskitos quälten uns“, sagt Raimundo Nonato Silva, den hier alle Raimundinho (kleiner Raimundo) nennen. Er ist Koordinator des Centro Agroecológico de Assessoria e Educaçâo Popular (Agroökologisches Zentrum für Beratung und Volksbildung) in Tucuruí. Die Überflutung intakter Regenwaldgebiete bewirkte die schlechte Wasserqualität. Blätter und kleine Pflanzenteile verfaulten; in dem von der Biomasse überdüngten Wasser gediehen Algen, die wiederum den Moskitolarven optimale Lebensbedingungen boten. Auf dem Höhepunkt der Mückenplage zählten WissenschaftlerInnen in einem Umsiedlungsgebiet am geplagten Westufer des Sees am frühen Abend in einer Stunde 500 Einstiche pro Mensch.
Heute ist die Wasserqualität deutlich besser geworden. Für viele der Umgesiedelten sind die Auseinandersetzungen mit der Eletronorte nicht zu Ende. Wie viel die finanzielle Entschädigung, die damals bezahlt wurde, heute wert wäre, kann niemand mehr genau sagen, denn Brasilien hat in den letzten fünfzehn Jahren sechs verschiedene Währungen und über zehntausend Prozent Inflation erlebt. Die Auszahlung der Entschädigungen fiel in eine Hochinflationszeit. In der unsicheren Situation, in der die Menschen während der Umsiedlung lebten, konnten sie das Geld aber nicht gleich investieren, so dass sie hilflos mitansehen mussten, wie ihr Geld immer mehr an Wert verlor. Raimundinho stößt sich vor allem daran, dass die Regierung heute viel großzügiger ist, wenn sie Entschädigungen an Großgrundbesitzer bezahlt, deren Land für die Agrarreform enteignet wird. Zudem haben einige Umgesiedelte nur halb so viel Land erhalten, wie sie zuvor besaßen.“Die Parzellen, die die Familien bei der Kolonisierung entlang der Transamazônica erhielten, waren 21 Alqueires (zirka 100 Hektar) groß“, sagt Raimundinho. „Die Eletronorte hielt sich bei der Entschädigung an das Maß der Agrarreformbehörde und gab uns nur zehn Alqueires. Sie schuldet uns immer noch elf Alqueires.“

500 Moskitostiche pro Stunde

Tenysson de Matos Andrade, der Sprecher der Eletronorte in Tucuruí, sieht das anders. Die Eletronorte habe mit der finanziellen Entschädigung alle Ansprüche erfüllt, sie wäre rechtlich gar nicht verpflichtet gewesen, den Umgesiedelten auch Grundstücke zu geben. Nicht etwa untaugliche Böden oder fehlendes Wasser seien die Ursache der anhaltenden Proteste: „Der Brasilianer ist einfach nie zufrieden, er will immer etwas anderes als das, was er hat. Die Rückständigkeit der Menschen hier führt zu einer Abhängigkeit vom Staat, deshalb erwarten sie alles von der Eletronorte.“ Und einigen Führungsfiguren gehe es ohnehin nur um die persönliche Bereicherung.
Der Staudamm schadete auch den Menschen am Unterlauf des Tocantins. Im Unterschied zu den Umgesiedelten erkannte die Eletronorte aber hier gar keine Ansprüche an.
Als der Damm fertig war, starben die Fische, einige Sorten sind bis heute verschwunden. Auch die Crevettenbestände im Mündungsbereich des Tocantins haben sich nicht wieder erholt. Die Erträge der Landwirtschaft an den Flussufern gingen zurück, weil diese Gebiete nicht mehr regelmäßig überschwemmt werden. Schließlich ist auch Açai selten geworden – die Früchte dieser Palmenart sind ein Grundnahrungsmittel der Bevölkerung Amazoniens.

Ökotourismus für Sportfischer

Im Stausee passierte dagegen etwas Überraschendes: Als sich die Wasserqualität besserte, erwies sich der See als ausgesprochen fischreich. Die Algen hatten eine Nahrungskette genährt, an dessen Ende der Tucunaré, ein beliebter Speisefisch, steht. Wenn die Fischer vom Unterlauf des Tocantins ihre Netze und Haken im Stausee auswarfen, fingen sie mehr als im Fluss. Zuerst kamen sie nur zum Fischen hoch, doch irgendwann baute der Erste eine Hütte und nahm seine Familie mit. Ohne jemanden zu fragen, nahmen die Fischer vom Unterlauf die Inseln im Stausee in Besitz. Die Eletronorte mischte sich nicht ein, aber die Umweltbehörde griff manchmal durch, wenn die Fischerfamilien für ihren Eigenbedarf ein kleines Feld rodeten. „Wenn wir aber dagegen protestierten, dass Holzfäller das Edelholz von den Inseln holten, dann reagierten sie nicht“, beschwert sich der Fischer Joel Machado Rodrigues. Die Gemeinden leben von den Steuern auf den Holzexport, und der Bürgermeister von Tucuruí ist Besitzer eines Sägewerks.
Ein anderes Projekt des Bürgermeisters macht den Fischerfamilien auf den Inseln in der Nähe von Tucuruí Sorgen. „Ökotourismus“ soll Sportfischer nach Tucuruí bringen. „Davon profitieren doch nur die Reisebüros und die Hotels in Tucuruí“, meint Joel. „Letztes Jahr haben sie hier einen großen Wettkampf organisiert, und wir durften sechs Tage lang unsere Netze nicht ausbringen, um die Sportfischer nicht zu stören.“ Der Bürgermeister will den improvisierten Hafen der Fischer weitab aufs andere Ufer verlegen, um den TouristInnen den hässlichen Anblick zu ersparen. Das ganze Gebiet der Inseln will er zum Naturschutzgebiet erklären. „Wenn sie das durchsetzen, ist alles verboten, und wir können hier nicht mehr leben“, befürchtet der Fischer Joel.
Nur etwas ist für alle AnwohnerInnen des Stausees von Tucuruí noch bedrohlicher: Gegenwärtig wird in Tucuruí wieder gebaut, um die Leistung von 4000 Megawatt auf 8125 Megawatt zu verdoppeln. Trotz wiederholter Dementis der Eletronorte hält sich in der Region hartnäckig das Gerücht, dass nach dem Ende der Bauarbeiten der Spiegel des Sees angehoben wird. Die gesetzlich vorgeschriebene Umweltverträglichkeitsprüfung hat die Eletronorte nicht durchgeführt.
„Das ist heute der große Konflikt. Die Regierung und die Eletronorte behaupten, sie würden die Region entwickeln. Auf der anderen Seite sind die Basisorganisationen, die dies bestreiten. Hier glaubt niemand mehr, dass es reicht, einen Staudamm zu bauen und Strom zu produzieren“, sagt Raimundinho. Regionalentwicklung ist für die sozialen Bewegungen nicht einfach ein abstraktes Konzept, sondern es bedeutet Gesundheitsversorgung, Schulen, Zufahrtsstraßen, öffentlicher Verkehr und Kredite für die Produktion auf den landwirtschaftlichen Klein- und Familienbetrieben. Der jahrzehntelange Kampf um Lebenschancen wird am Verhandlungstisch und auf der Straße geführt, mal schickte die Eletronorte Unterhändler, mal die Militärpolizei und scharfe Hunde.
Die brasilianische Verfassung von 1988 verpflichtet die Betreiber von Wasserkraftwerken, an die betroffenen Gemeinden und Bundesstaaten Wasserzinsen zu zahlen. Für die Gemeinden um Tucuruí gab das jährlich ungefähr sieben Millionen US-Dollar. Raimundinho beklagt jedoch, dass die über sechzig Basisorganisationen der Region kaum Einfluss auf die Verwendung dieser Gelder haben. In den abgelegenen Landgebieten, wo viele der Umgesiedelten leben, ist vom Geldsegen jedenfalls nichts zu spüren.
In einem besonderen Fall zeigte sich die Eletronorte großzügig gegenüber der Lokalbevölkerung. Das traditionelle Gebiet der Parakanâ, eines Indianervolkes, dessen Lebensweise sich durch den Kontakt mit den Weißen schon stark verändert hatte, geriet durch den Stausee und die Umsiedelungen weiter unter Druck. Die Parakanâ erhielten deshalb ein neues Reservat zugewiesen, das mit 350.000 Hektar größer war als das alte. Die Eletronorte übernahm in Zusammenarbeit mit der staatlichen Indianerbehörde Funai für 25 Jahre die Verantwortung für ein Programm zur Unterstützung und Stärkung der Parakanâ. Gesundheitswesen, zweisprachige Schule, Überwachung der Grenzen des Reservats, Förderung der traditionellen Produktion und Unterstützung bei der Verwaltung gehört zu diesem Programm. Die Parakanâ haben heute die geringste Rate von Malariaerkrankungen in der ganzen Region zu verzeichnen. Die Großzügigkeit der Eletronorte hat neben den schönen Bildern, die die Parakanâ für den Geschäftsbericht hergeben, einen einfachen Grund: Es gab lediglich 247 Menschen zu unterstützen.

Dritter und letzter Teil
in der nächsten Ausgabe

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