Leben mit der Schiene
In Fortaleza organisieren sich von Räumung bedrohte Familien gegen den Neubau einer Straßenbahn
Die Bahnlinie Parangaba – Mucuripe verbindet den Stadtrand mit dem Hafen von Fortaleza. Seit vielen Jahren verkehrt nur noch einmal täglich ein Güterzug auf der etwa 15 Kilometer langen Strecke. Diesen Umstand nutzten zahlreiche Familien aus, die in den letzten Jahrzehnten nach Fortaleza kamen, um der Armut im Landesinneren zu entfliehen. Sie siedelten sich entlang des Schienenstrangs an und bauten ihre Häuser direkt an die Sicherheitsmauer, die entlang der Schiene verläuft. Die Familien wuchsen und mit ihnen die Gebäude. Heute haben sie an einigen Stellen vier Geschosse und beherbergen drei Generationen. Inzwischen haben sich die Viertel entlang der Bahnlinie konsolidiert und die sogenannten „Schienensiedlungen“ befinden sich heute zum Teil inmitten der wohlhabenden Vierteln der Stadt. Für die AnrainerInnen der Schiene ist ihre räumliche Nähe zu den Wohnanlagen der reichen Bevölkerung von entscheidender Bedeutung, da viele dort als Haushaltshilfen, Wäscherinnen oder Portiers arbeiten. Für die Strategen der Immobilienfirmen und weite Teilen der Mittel- und Oberschicht sind die Siedlungen dagegen Horte der Kriminalität und Schandflecken im modernen Gesicht der Tourismusmetropole Fortaleza.
Im letzten Jahr schreckten schlechte Nachrichten die BewohnerInnen an der Schiene auf: im Zuge der Vorbereitungen auf die Fußballweltmeisterschaft 2014 soll die alte Bahnlinie einer modernen Straßenbahn weichen und mit ihr die AnwohnerInnen. Von 3.500 Familien war in der Zeitung die Rede, doch die AnrainerInnen selbst gehen von weit mehr betroffenen Familien aus. „Die Landesregierung hat auf einem Luftbild einfach die Häuser gezählt ohne zu berücksichtigen, dass sich meistens mehrere Familien ein Dach teilen. „Wir gehen von bis zu 15.000 betroffenen Familien aus“, erläutert Ercilia Maia aus der Siedlung Aldaci Barbosa die Fehleinschätzung der Behörden.
MitarbeiterInnen der Landesregierung erschienen und begannen die Häuser zu markieren, die dem Projekt weichen sollten. Außerdem sollten die BewohnerInnen einen Katalog mit über 50 Fragen beantworten. Auf die Frage, was denn aus ihnen werden solle, wenn sie ihre Häuser verlieren würden, wurde ihnen eine Entschädigungszahlung versprochen, ohne dass man ihnen einen genauen Betrag nennen wollte.
Darauf hin begann sich in mehreren Stadtvierteln der Widerstand zu organisieren. Die BewohnerInnen forderten mehr Informationen und Mitsprache bei dem Projekt. Sie vertrieben kurzerhand die MitarbeiterInnen der Landesregierung, sodass die Registrierung zum Erliegen kam. Seitdem hat die Landesregierung in einigen Vierteln Informationsveranstaltungen durchgeführt, die aber wenig Konkretes brachten, dafür aber immer wieder die Notwendigkeit des Vorhabens für die WM und den Tourismus in Fortaleza hervorhoben. Die Straßenbahn soll den Flughafen und den Busbahnhof mit dem Hotelsektor der Stadt verbinden.
Ähnliche Erfahrungen wie in Fortaleza machen zur Zeit auch die anderen Austragungsorte der Weltmeisterschaft. In Belo Horizonte, Porto Alegre und Rio de Janeiro kam es bereits zu Zwangsräumungen im Zusammenhang mit Projekten der WM. In Rio de Janeiro soll mit der Transcarioca ein Straßenkorridor durch die Stadt geführt werden, der den Flughafen im Nordosten mit dem Hotelsektor und den Stätten für die Olympischen Spiele 2016 im Südwesten der Stadt verbindet. Das Projekt ist mit 2,33 Milliarden Reais veranschlagt und sieht die Enteignung einer Fläche vor, die mehr als 40 Fußballfeldern entspricht. Lokale Basisgruppen haben einen „Räumungszähler“ im Internet eingerichtet, der inzwischen über 2.000 Personen meldet, die durch Projekte der WM und der Olympischen Spiele vertrieben wurden.
Eigentlich ist die brasilianische Gesetzgebung eindeutig, wenn es um die Entwicklung und Durchführung von Infrastrukturprojekten solchen Ausmaßes geht: einerseits muss die Verträglichkeit der Projekte mit ihrer Nachbarschaft und der Umwelt geprüft werden und andererseits müssen die Betroffenen schon bei der Planung mit einbezogen werden. Nichts davon geschieht. Die von den Stadtverwaltungen eingesetzten lokalen Planungsstäbe sollen einzig garantieren, dass die von der FIFA geforderten hohen Standards in den Stadien, beim Transport und der Beherbergung der Fans während des vierwöchigen Großereignisses eingehalten werden. Die WM wird dabei genutzt, um für den Immobiliensektor strategische Strukturprojekte voranzubringen. Bisher abseits gelegene Stadtteile werden besser für den Markt erschlossen und dabei die ärmere Bevölkerung systematisch verdrängt. Diese Projekte liegen zum Teil schon seit Jahren in den Schubladen der Planungsämter, waren bisher aber politisch nicht durchsetzbar. Jetzt werden sie hervorgeholt und unter dem Banner der WM im Eilverfahren durchgesetzt. Die lästigen Verträglichkeitsprüfungen werden, wie in Fortaleza geschehen, durch Gesetzesänderungen quasi abgeschafft und die betroffene Bevölkerung wird so lange wie möglich im Unklaren gelassen, um den rigiden Zeitplan nicht zu gefährden und den Widerstand klein zu halten.
Dieser Stadtumbau zu Lasten der ärmeren Bevölkerung wird zum Großteil aus Steuergeldern finanziert. Der brasilianische Staat hat sich gegenüber der FIFA zu einer weitgehend öffentlichen Finanzierung der Stadionneu- und umbauten sowie der umfangreichen Infrastrukturmaßnahmen verpflichtet. Dazu kommen umfassende Steuerbefreiungen für die FIFA und die mit der WM verbundenen privaten Investitionen. Zudem wurde die gesetzliche Obergrenze der öffentlichen Verschuldung von Kommunen für die Infrastrukturprojekte im Rahmen der WM erheblich erweitert. Die öffentlichen Ausgaben im Zusammenhang mit der WM werden derzeit mit 23 Milliarden Reais veranschlagt.
Nach den Erfahrungen mit den Panamerikanischen Spielen 2007 in Rio de Janeiro, die von Unregelmäßigkeiten, Kostenexplosion und Fehlinvestitionen geprägt waren, gilt es bei einer so ungeheuren Summe wachsam zu sein. Ein aktueller Bericht des brasilianischen Rechnungshofes spricht von erheblichen Schwierigkeiten bei der Umsetzung der WM-Projekte. Neben Rückständen im Zeitplan weisen einzelne Projekte bereits jetzt um ein vielfaches höhere Kosten auf als ursprünglich geplant. Es ist von fehlender Transparenz und zum Teil gravierenden Unregelmäßigkeiten die Rede. Der Bericht nennt als Extrembeispiel eine Straßenbahnlinie in Brasilia, die statt der ursprünglich geplanten 364 Millionen Reais jetzt 1,55 Milliarden Reais kosten soll. Wegen Unregelmäßigkeiten bei der Auftragsvergabe ist das Projekt inzwischen gestoppt. Bei den Stadionneubauten steht Salvador mit 1,6 Milliarden Reais Baukosten an der Spitze. Ursprünglich sollte das Projekt 591 Millionen Reais kosten. Auch andere Stadien werden mit erheblichem Aufwand umgebaut, das Maracanã Stadion in Rio de Janeiro zum vierten Mal in elf Jahren.
Gerade hat die Regierung von Dilma Roussef angekündigt, dass sie in diesem Jahr 50 Milliarden Reais im Bundeshaushalt über alle Ressorts verteilt einsparen wolle, um die Inflation zu bekämpfen. Die Projekte der WM hat sie davon aber explizit ausgenommen. Ihre Regierung sieht die Infrastrukturprojekte als Maßnahmen zur Ankurbelung der Bauwirtschaft, einem Wirtschaftszweig mit großem Einfluss in der brasilianischen Politik. Infrastrukturkonzerne wie Odebrecht, Camargo Corrêa und Votorantim gehören zu den wichtigsten SpenderInnen für die Wahlkämpfe der Parteien in Dilmas Koalition. Und eben diese Konzerne sind nun maßgeblich an den Konsortien beteiligt, die Stadien, Straßen und Flughäfen bauen dürfen.
Neben Baukonzernen und Immobilienwirtschaft gibt es noch andere, die finanziell von der WM profitieren werden. Der Präsident des brasilianischen Fußballverbandes Ricardo Teixeira hat sich durch vertragliche Winkelzüge die Verfügungsgewalt über die Gewinne gesichert, die das lokale Organisationskomitee mit der WM erwirtschaften wird.
Während die Austragungsstädte versuchen, möglichst wenig Informationen über die WM Projekte an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, organisieren sich die Betroffenen im ganzen Land, um sich gegen die willkürlichen Zwangsräumungen und Vertreibungen zu wehren. In Fortaleza haben sich die AnwohnerInnen der Bahnlinie mit anderen Betroffenen und Basisbewegungen zum Bürgerkomitee Weltmeisterschaft zusammengeschlossen. In Belo Horizonte, Rio de Janeiro, Porto Alegre und Salvador haben sich ebenfalls lokale Komitees gegründet. Auf nationaler Ebene fanden im letzten Jahr zwei Seminare in Rio und São Paulo unter Beteiligung der lokalen Komitees statt, in denen TeilnehmerInnen aus Südafrika und Indien von ihren Erfahrungen mit der WM und den Commonwealth Spielen in Delhi berichteten. Diese Erfahrungen wollen die Komitees nun für sich nutzen.
Die WM Komitees befinden sich bei ihrer Arbeit in einem Dilemma. In einer Fußballnation wie Brasilien können und wollen sie sich nicht grundsätzlich gegen die Weltmeisterschaft in ihrem Land stellen. „Wir haben das Geld und die öffentliche Meinung gegen uns, denn alles was mit Fußball zu tun hat, ist bei uns schon von sich aus positiv,“ meint Auxiliadora Araripe vom Bürgerkomitee in Fortaleza. Deshalb treten sie mit der Forderung nach einer „WM für Alle und ohne Zwangsräumungen“ in die Öffentlichkeit. Wenn schon riesige Summen öffentlicher Mittel ohne eine öffentliche Debatte über das Wofür ausgegeben werden sollen, möchten sie zumindest dabei mitreden, wie die geplanten Projekte umgesetzt werden sollen.
In Fortaleza kämpfen die AnwohnerInnen der Bahnlinie dafür, dass die Straßenbahntrasse so geplant wird, dass möglichst wenige Familien umgesiedelt werden müssen. Dort wo Umsiedlungen notwendig werden, sollen die Familien einen Ersatz in der Nähe ihrer bisherigen Wohnung oder eine angemessene Entschädigung erhalten. Solange dies nicht garantiert wird, wollen sie sich weiter gegen das Projekt zur Wehr setzen. Ob sie damit Erfolg hatten, wird sich spätestens im Juni 2013 beim Probelauf zur WM, dem Confederation Cup, zeigen.