Jugend | Nummer 303/304 - Sept./Okt. 1999

Weiß und wohlhabend

Über das Alltagsleben auf der Sonnenseite der Gesellschaft

Sie sind zweifellos eine privilegierte Minderheit: die Jugendlichen aus den lateinamerikanischen Mittel- und Oberschichten. Das Klischee von den wohlhabenden Kids, die sich auf Kosten der Unterprivilegierten ein süßes Leben erlauben, greift aber zu kurz. In „bessere Verhältnisse“ hineingeboren worden zu sein, ist nicht ihre Schuld. Die Frage ist, was sie daraus machen.

Ulrich Goedeking

„Papa, kann ich heute Abend das Auto haben?“ Die 21-jährige Bolivianerin Jimena will noch ausgehen. Tagsüber studiert sie Betriebswirtschaft an der Universidad Católica Boliviana in La Paz, der renommiertesten privaten Universität der Stadt. An diesem Abend steht Interkulturelles auf dem Programm. Nach der Schule war Jimena mit einem Jugendaustausch für ein Jahr in den USA. Jetzt arbeitet sie im bolivianischen Komitee der Organisation mit und betreut die ausländischen Jugendlichen, die für ein Jahr in Bolivien sind. Jimena genießt es, in La Paz den Kontakt zu Ausländern zu halten. Heute wird eine kleine Begrüßungsfiesta stattfinden für die neuen Austauschjugendlichen. Noch ein kurzer Blick in die Mailbox, vielleicht hat Eddie aus Chicago eine Message geschickt, dann kann es losgehen.
Die Szene könnte sich ähnlich in Deutschland abspielen. In vielerlei Hinsicht unterscheidet sich das Alltagsleben lateinamerikanischer Mittelschichts-Jugendlicher kaum von dem Gleichaltriger aus der hiesigen Mittelschicht: Freiheit von existentiellen Sorgen, Studium, nebenbei vielleicht ehrenamtliches Engagement oder auch nicht… Den Unterschied macht der Kontext: In Gesellschaften, in denen sich die große Mehrheit der Menschen diesen Lebensstil nicht leisten kann, wird für unsereins fast Selbstverständliches zu Privilegien einer Minderheit.
Jimenas Eltern haben mehrere tausend Dollar für den USA-Aufenthalt ihrer Tochter hingeblättert, eine Investition in die Zukunft ihrer Tochter. Nicht daß die Familie diese Summe aus der Portokasse bezahlt hätte. Der Vater ist Beamter, die Mutter arbeitet schon lange nicht mehr, hat aber Vermögen mit in die Ehe gebracht. Es reicht für ein großzügiges Einfamilienhaus in guter Lage und für zwei Autos. Auch die Präsenz der empleada, die sich um die Hausarbeit kümmert, ist selbstverständlich, für Mittelschichts-Jugendliche in Lateinamerika so normal, wie für Deutsche das Vorhandensein einer Waschmaschine.

Sicherheit gibt Freiheit

Die Risiken des Lebens werden privat abgesichert. Das Vermögen liegt sicher vor eventuellen Revolutionen auf einem Auslandskonto. Bei Krankheit stehen die teuren Privatkliniken der Stadt bereit, die über die besten Ärzte verfügen, schließlich ist von diesen kaum einer bereit, für einen Hungerlohn in einem staatlichen Krankenhaus zu arbeiten.
Solche Sicherheit verleiht die Freiheit, sich in seiner Freizeit anderweitig zu engagieren oder sich ganz der Karriere zu widmen. Andere leisten sich ein umfangreiches Nachtleben. Die einschlägigen Bohème-Kneipen lateinamerikanischer Großstädte liegen in der Regel nicht – wie meist in Deutschland – in vergleichsweise ärmeren, „szenigen“ Innenstadtbereichen, sondern in teureren Vierteln. Die Preise sind dementsprechend und sorgen dafür, daß die Jugendlichen aus besseren Kreisen unter sich bleiben.
Das Wohlstandsgefälle führt dazu, daß auch Sicherheit vor Überfällen und Diebstahl privat organisiert werden muß. Bestimmte Regeln sind ohnehin in Fleisch und Blut übergegangen. Abends werden unsichere Gegenden gemieden, Papiere und Geld rund um die Uhr sicher vor Taschendieben verwahrt. In Städten wie Rio oder Bogotá, in denen bewaffnete Kriminalität ein ernsthaftes Risiko darstellt, gelten auch tagsüber ganze Stadtviertel als no-go-areas. Zahlreiche privat bezahlte Wächter patrouillieren durch die besseren Wohnviertel, wenn nicht gleich ganze Straßenzüge abgesperrt sind, in die nur Zutritt erhält, wer angemeldet ist.

Unsichtbare Grenzen

Das soziale Leben von Jugendlichen aus wohlhabenden Familien findet dementsprechend wenig im öffentlichen Raum und umso mehr in privaten Bereichen statt: im Haus der Eltern, in den Wohnungen von Freunden oder in privaten Clubs und Discos, neben denen das Auto auf dem privat bewachten Parkplatz steht. Nur in den oft räumlich sehr überschaubaren Kneipenvierteln flaniert man auf der Straße.
So beschränkt sich die „Szene“ in Limas Ausgehviertel Barranco auf vier, fünf Straßen. Erste „Risikozonen“ sind nicht weit, aber kaum jemand hätte einen Grund, die unsichtbaren Grenzen zu überschreiten. Man kennt niemanden in den ärmeren Stadtvierteln. Die extremen sozialen Unterschiede manifestieren sich in lateinamerikanischen Metropolen als stadträumliche Trennung. Kaum eine Stadt, in der es nicht Straßen gäbe, die als „Grenzen“ gelten: Bis hier hin und nicht weiter, drüben fängt die Welt „der anderen“ an.
Schon im Bildungssystem ist die Trennung angelegt. Für Mittelschichtsfamilien geht es nicht darum, ob das Kind in eine Privatschule kommt, sondern in welche. Staatliche Schulen gelten dagegen aus gutem Grund als indiskutabel. Das Niveau des Unterrichtes ist dort in der Regel mit völlig unterbezahlten Lehrkräften sehr niedrig. Dazu kommt die Frage der sozialen Verortung: In welche „Kreise“ geriete ein Kind in einer staatlichen Schule? Im privaten Bildungssystem bleibt man unter sich, und gleichzeitig ist die Wahl der Schule eine Prestigefrage für die Eltern.
Ähnliches gilt für die universitäre Bildung. Zwar gibt es auch in einigen Ländern Lateinamerikas staatliche Universitäten mit einem guten Ruf, aber auch sie kämpfen oft mit Finanzknappheit und mit dem Problem der niedrigen Gehälter für die Lehrkräfte. So blickt die staatliche San Marcos in Lima als älteste Universität Südamerikas auf eine lange Tradition zurück. Mit den finanziellen Möglichkeiten der privaten Católica aber kann sie nicht mithalten, ganz zu schweigen von Eliteuniversitäten wie der Universidad de Lima. Folgen für die Qualität des angebotenen Studiums sind unvermeidlich.

Beziehungen sind alles

Die Wahl der Universität bedeutet für lateinamerikanische Jugendliche nicht nur eine Entscheidung für eine gute Ausbildung, sondern auch die Weichenstellung für eine spätere Karriere. Zum einen ist ein Abschluß der Universidad de Lima bei der Jobsuche unendlich viel mehr wert als der einer staatlichen Universität. Zum anderen werden auf den Universitäten Netzwerke geknüpft. An einer teuren Eliteuniversität zu studieren bedeutet, später im Berufsleben überall auf alte Bekannte von der Uni zu treffen. In Gesellschaften, in denen persönliche Beziehungen eine so überragende Bedeutung für Karrieren haben wie in Lateinamerika, wird die Entscheidung für die Investition in die private Bildung zu einer Schlüsselfrage für die berufliche Zukunft.
Auch im Ausland entstehen Netzwerke. Die Kinder der Wohlhabenden treffen sich an den prestigereichen Universitäten in den USA und Europa und greifen nach der Rückkehr ins Heimatland gerne auf diese Bekanntschaften zurück. Es muß dabei nicht immer die berufliche Zukunft sein, die in dieser Phase im Ausland vorbereitet wird, auch politische Bewegungen können ihren Anfang unter Gruppen von lateinamerikanischen Studenten im Ausland nehmen.
Ein Beispiel dafür bieten die Gründer des bolivianischen MIR, der „Bewegung der Revolutionären Linken“. Mehrere von ihnen erlebten die 68er-Zeit als Studenten an der Universität von Leuven in Belgien, darunter Jaime Paz Zamora, der von 1989 bis 1993 Präsident Boliviens war. Anfang der 70er nahmen sie in Bolivien die politische Arbeit im Widerstand gegen die Militärs auf. Sie bilden dabei, was ihre soziale Herkunft angeht, keine Ausnahme unter den Führungspersönlichkeiten der politischen Linken in Lateinamerika. Ob in El Salvador oder Nicaragua, Peru oder Bolivien: Die Namen von Elitefamilien sind unter – mehr oder weniger – revolutionären Spitzenpolitikern keine Seltenheit.
Beziehungen sind auch für die Lösung anderer Probleme von entscheidender Bedeutung. So gilt in vielen lateinamerikanischen Staaten die allgemeine Wehrpflicht. Wer unter jungen Männern aus besseren Kreisen fragt, wie es denn bei der Armee war, erntet allerdings kaum mehr als ein Grinsen. Militärdienst ist etwas für Jugendliche, die nicht über Beziehungen oder über Geld verfügen. Wer eines von beidem hat, der organisiert sich die im Alltag so wichtige libreta militar als angeblichen Beleg für den abgeleisteten Militärdienst, ohne ein einziges Mal stramm gestanden zu haben.

Kulturelle Distanz

Die strikte Trennung der Lebenswelten lateinamerikanischer Jugendlicher nach sozialer Herkunft hat eine kulturelle Dimension. Es ist kein Zufall, daß Jimena im Zuge ihres Engagements in Sachen Interkulturalität mit ausländischen Jugendlichen Kontakt hat und nicht etwa mit Aymaras oder Quechuas. Europäische Jugendliche sind ihr, trotz aller Unterschiede, kulturell viel näher, der Vorrat an Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkten ist um vieles größer als mit indianischen Jugendlichen, die wie sie in La Paz aufgewachsen sind. Es ist nicht leicht, die kulturelle Distanz unter Jugendlichen verschiedener Herkunft zu überwinden.
Diese Orientierung als elitär und als Ausdruck fehlender Bereitschaft zu denunzieren, sich mit den Kulturen innerhalb der eigenen Gesellschaft auseinanderzusetzen, würde zu kurz greifen. Zwar gibt es die Miami-Boys und -Girls, die es als eine Art biographischen Unfall betrachten, in Lateinamerika geboren worden zu sein und die jede Identifikation mit ihrem Heimatland ablehnen. Aber sie taugen nicht als Klischeebild für die lateinamerikanischen Mittel- und Oberschichten insgesamt.
Jimena ist eine ebenso „echte“ Bolivianerin wie jede andere. Lateinamerikanische Mittelschichten sind kulturell fest in der europäisch-christlich geprägten Welt verankert, angereichert durch die zweifellos vorhandenen Einflüsse aus den USA. Sie stellen keinen „kolonialen Fremdkörper“ in ihren Gesellschaften dar gegenüber einer vermeintlich „authentischen“ Kultur der Unterprivilegierten, sondern sind Teil des kulturellen Spektrums dieser Gesellschaften. So macht es keinen Sinn, diesen Jugendlichen ihre Herkunft und ihre kulturelle Prägung zum Vorwurf zu machen.
Bleibt die Tatsache, daß Wohlstand und Sicherheit, Bildungs- und Karrierechancen entlang der kulturellen Grenzen eindeutig verteilt sind. Auch hier hat allzu platte Kritik daran, daß Jugendliche ihre Privilegien nutzen, schnell einen Beigeschmack der Unehrlichkeit. Wer würde schon freiwillig zur Armee gehen, wenn er sich herauskaufen kann, und wer würde darauf verzichten, die Qualität privater Schulen und Universitäten zu nutzen?
Eine andere Frage ist, ob qua Geburt privilegierte Jugendliche über eine Vorstellung darüber verfügen, daß Ungerechtigkeit, soziale Ausgrenzung und Rassismus existieren und ob sich diese Erkenntnis – in welcher Form auch immer – in ihrem Alltagshandeln niederschlägt. Diese Frage allerdings richtet sich nicht nur an die privilegierten Minderheiten in Lateinamerika, sondern eben auch an Jugendliche in Europa.

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