Brasilien | Nummer 456 - Juni 2012

742 Tage bis zum Anstoß

WM-Vorbereitung zwischen Verkehrsinfarkt und Ordnungsschock

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Salvador da Bahia steht kurz vor dem Verkehrskollaps. Auch die 2014 bevorstehende Fussballweltmeisterschaft im eigenen Land und die damit verbundenen öffentlichen Finanzspritzen werden daran kaum etwas ändern. Es fehlt ein sinnvolles und effizientes öffentliches Nahverkehrsnetz. Und ob das rechtzeitig fertig gestellt werden kann, ist äußerst fraglich.

Claudia Fix

„Dieser Verkehr ist komplett verrückt, wirklich total aus dem Ruder gelaufen!“. Immer wieder ist dieser Kommentar zu hören: in Taxis, von brasilianischen Kolleg_innen, im Bus, in Salvador da Bahia, Recife und aus Fortaleza. „Es gibt keine Hauptverkehrszeit mehr, überall und jederzeit kann es Stau geben“, das ist die eher analytische Variante dieser Einschätzung – und sie ist zutreffend. Nur sehr spät in der Nacht, in den ganz frühen Morgenstunden oder an Feiertagen ist ein normales Verkehrsaufkommen wahrscheinlich. Die brasilianischen Städte haben kein Verkehrsproblem – sie stehen kurz vor einem Verkehrskollaps. Allein im Zentrum von Salvador da Bahia steigt die Zahl der privaten Pkws jedes Jahr um mindestens 6 Prozent, in den letzten zehn Jahren hat sie sich verdoppelt.
Die Ursache liegt zum einen in der gestiegenen Kaufkraft, von der weite Teile der unteren und mittleren Schichten der brasilianischen Gesellschaft profitiert haben. Und überall gehört zum Traum vom sozialen Aufstieg das eigene Auto unbedingt dazu, auch weil das öffentliche Nahverkehrssystem teuer, unzuverlässig und unbequem ist. „Außerdem können die jungen Leute heute ein Auto so kaufen, wie wir früher einen Kühlschrank“, erklärte mir Isaura aus Recife, die sich lange für öffentlichen Fährverkehr engagiert hat. „Sie zahlen den Kaufpreis in günstigen Raten über fünf, zehn oder sogar fünfzehn Jahre ab und sie brauchen keine Sicherheiten mehr, nicht mal einen festen Job“.
Doppelt so viele Pkw in nur zehn Jahren, während die Zahl der Straßenkilometer in den Innenstädten nur wenig anstieg – das führt unausweichlich in jeder Stadt der Welt zu einem Verkehrsinfarkt. Es sei denn, die Stadtverwaltungen ergreifen entschiedene Maßnahmen, um die öffentlichen Verkehrsmittel deutlich attraktiver zu machen und den privaten Verkehr zu beschränken. Doch das öffentliche Nahverkehrssystem in den brasilianischen Metropolen hat sich in den letzten Jahren nicht verbessert, es ist nur immer teurer geworden.
So bleibt der Transport „à la Sardinenbüchse“ für alle unausweichlich, die zu den Hauptverkehrszeiten aus der Peripherie ins Stadtzentrum oder in ein anderes Viertel müssen und kein eigenes Auto besitzen. Die überfüllten, veralteten Busse der privaten Busunternehmen fahren unregelmäßig und unzuverlässig, aber es gibt keine Alternative. Da in der Regel pro Busfahrt gezahlt wird, nehmen die meisten lange Fahrtzeiten und Umwege in Kauf, um nicht umsteigen zu müssen. Wer zwei oder gar drei Buslinien benutzen muss, um ans Ziel zu kommen, zahlt oft weniger an Benzingeld im eigenen Auto.
Nur wenige brasilianische Städte besitzen gut funktionierende und sichere U-Bahnlinien in der Innenstadt, allen voran São Paulo. Doch auch die Schienenstränge der Mega-Stadt São Paulo sind knapp halb so lang wie die der Berliner U-Bahn und es gibt nur ein Drittel der Haltestellen. Deshalb werden auch in São Paulo immer noch 70 Prozent aller Fahrgäste des öffentlichen Nahverkehrs mit dem Bus transportiert. Um den vollständigen Verkehrskollaps zu verhindern, wurde dort bereits 1997 der sogenannte „rodízio“ eingeführt, der die Nutzung des eigenen Pkws nach den Kennziffern des Nummernschildes auf bestimmte Wochentage beschränkt. Sinnvoll, aber sozial ungerecht: wer mehr als ein Auto besitzt, beantragt einfach die passenden Kennzeichen. Und die Superreichen gehen dem Straßenverkehr gleich ganz aus dem Weg: über 200 Helikopter-Landeplätze sollen sich in der Stadt befinden, weltweit liegt São Paulo beim Hubschrauberverkehr auf Platz zwei.
„Se a copa for boa, eu também quero!“ („Wenn die Weltmeisterschaft gut ist, will ich auch etwas davon haben!“) – lautete der Slogan der ersten zivilgesellschaftlichen Initiative zur WM in Salvador da Bahia. Inzwischen ist daraus das Basiskomitee der WM 2014 (Comitê Popular da Copa 2014) entstanden, an dem sich rund 50 soziale Bewegungen, Vereine und Nichtregierungsorganisationen beteiligen. Doch die Idee ist dieselbe geblieben: Die enormen Ressourcen für die WM sollen so in die Infrastruktur investiert werden, dass die Bewohner_innen der Austragungsstädte auch nach dem letzten Abpfiff etwas davon haben. Dabei geht es den Aktiven in Salvador und anderen Städten besonders um Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr.
Doch obwohl die offizielle WM-Website der brasilianischen Regierung die Verbesserungen im öffentlichen Transportwesen als „wichtigstes Legat“ der WM 2014 nennt, hat sich in diesem Bereich in Salvador da Bahia noch nichts getan. Trotz ursprünglich umfangreicher Planungen, die unter anderem eine U-Bahnlinie mit vier Stationen sowie ein Schnellbus-System im gesamten Großraum Salvador vorsahen, wird aktuell auf der offiziellen Website nur noch ein Projekt genannt: Ein BRT (Schnellbus) in einem Korridor zwischen Flughafen und einem Anschlussbahnhof nördlich des WM-Stadions. Und das ohne einen konkreten Etat. Zum Vergleich: auf der Baustelle des Stadions „Fonte Nova“ in Salvador wurden bereits 325 Millionen der geplanten 591 Millionen Reais (rund 237 Millionen Euro) verbaut.
„Es gibt drei öffentliche Gewalten in Salvador da Bahia: das Immobilienkapital, die Lobby der privaten Busunternehmen und die Lobby der Stadtreinigung,“ sagte dazu ein Mitglied des Basiskomitees der WM 2014, das in diesem Zusammenhang lieber ungenannt bleiben möchte. Und in der Tat scheint es so, dass sich die privaten Busunternehmen in Salvador wieder einmal durchsetzen konnten und den Bau einer – wenn auch nur kurzen – U-Bahnstrecke vor der WM 2014 ein weiteres Mal erfolgreich verhindert haben.
Mehr als zwölf Jahre hat der Bau der ersten sechs Kilometer U-Bahn im Zentrum Salvadors gedauert – und sie wurde immer noch nicht eingeweiht. Schon 2003 sollten zwölf Kilometer fertig gestellt sein, mehrere Bahnhöfe sind bereits gebaut worden, Waggons wurden gekauft und jahrelang gelagert, insgesamt 700 Millionen Reais öffentlicher Gelder ausgegeben. Im Dezember 2011 fanden immerhin erste Testfahrten statt, nachdem sich die Stadtverwaltung von Salvador und die Landesregierung von Bahia monatelang darum gestritten hatten, wer die Betriebskosten der U-Bahn zukünftig übernimmt. Nun hat das Bundesministerium der Städte angekündigt, 33 Millionen Reais für die ersten sechs Monate nach der Inbetriebnahme zur Verfügung zu stellen. Während dieser Testphase wird die Fahrt kostenlos sein. Ob die U-Bahn anschließend wieder stillgelegt wird? Der Staatsanwalt ermittelt wegen Verschwendung öffentlicher Gelder und der Bildung eines illegalen Konsortiums. Offenbar lässt sich mit einer U-Bahn, die nicht fährt, sehr viel Geld verdienen.
Der Taxifahrer Marcos da Silva hat für das ganze Projekt nichts als Hohn und Spott übrig: „Diese U-Bahn beginnt im Nirgendwo und endet im Nichts. Das ist eine U-Bahnlinie, zu der man am Wochenende mal fahren kann, wenn man nichts zu tun hat und mit der Freundin oder Frau und Kind einen Ausflug machen möchte. Aber sie löst kein einziges Transportproblem, denn sie fährt nicht dort, wo viele Leute hin müssen“.
Angesichts der langen Bauphase für die U-Bahn scheint es fraglich, ob wenigstens der Schnellbuskorridor bis zur WM noch fertig gestellt werden kann. Líliam Pitanga, Büroleiterin der SECOPA, die für die WM-Vorbereitungen in Salvador zuständig ist, war im Interview im April 2012 noch sehr zuversichtlich: „Es gibt zwar noch keine Ausschreibung, aber dass liegt daran, dass eine Arbeitsgruppe ein Gesamtkonzept für den öffentlichen Nahverkehr berät, das auch die Region Lauro de Freitas und andere Viertel am Stadtrand miteinschließen soll.“
Aber falls es nicht klappt, hat man in Salvador schon einen Joker in der Hinterhand: Alle WM-Austragungstermine werden zu Feiertagen erklärt. Dann rollt der Verkehr problemlos. Und nachher, ja nachher, ist alles leider wie zuvor. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.

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