Abgewürgt
Die zunehmend eingeschränkte Pressefreiheit in Mexiko erreicht mit der Entlassung der Journalistin Carmen Aristegui einen neuen Höhepunkt
Ihre Stimme begleitete den Alltag von Millionen Zuhörer*innen. Seit sechs Jahren berichtete Carmen Aristegui täglich vier Stunden lang im Radiosender MVS, informierte und deckte Skandale in Mexiko auf. Dabei machte Aristegui weder vor der Kirche, hochrangigen Politiker*innen noch vor den jeweils amtierenden Präsidenten Felipe Calderón und Enrique Peña Nieto halt. Mit ihrem investigativen Journalismus war die 51-Jährige aus Mexiko Stadt eine der bekanntesten Stimmen der mexikanischen Medienlandschaft und sprach Themen an, um die andere einen weiten Bogen machten. Es ist daher wenig erstaunlich, dass Aristegui und ihr Team auch an der Informationsplattform Méxioleaks teilnehmen. Die Internetseite ermöglicht es Bürger*innen, Korruptionsfälle anonym anzuzeigen und gibt Journalist*innen zugleich einen Raum zum geschützten Informationsaustausch. MVS Radio reagierte verärgert und bezeichnete das Engagement seiner Mitarbeiter als „Vertrauensbruch“ und „Beleidigung“. Zwei Mitarbeitern wurde nach dieser Erklärung 13. März fristlos gekündigt. Aristegui kritisierte die Entlassung ihrer Kollegen Daniel Lizarraga und Irving Huerta in ihrer morgendlichen Radioshow scharf: „Anstatt sie zu entlassen, müssten wir ihnen Preise verleihen.“ Die beiden hätten „mutige, verantwortliche Arbeit“ geleistet und sie selbst könne ihre Arbeit ohne sie nicht fortsetzen. Zwei Tage später wurde auch Aristegui gefeuert. Weitere Kolleg*innen, die zum Recherche- und Produktionsteam gehörten, verloren unter dem Vorwand der Beendigung von Honorarverträgen ebenfalls ihre Stelle. Zensur sei das nicht, beteuerte MVS. Méxicoleaks verdiene ihren Respekt: „Wir begrüßen Méxicoleaks als eine legitime Initiative der Gesellschaft und heißen diese wie jede andere Informationsplattform willkommen.“ Jedoch sei es inakzeptabel, „dass Mitarbeiter die Geldmittel und Marke unserer Firma verwenden, um diesen Zusammenschluss [mit Méxicoleaks, Anm. der Red.] zu verwirklichen., schrieb die MVS in einer Pressemitteilung.
Eine bloß juristische Sache also, bei der es allenfalls um formale Angelegenheiten geht? Um die illegitime Verwendung einer Marke? So will MVS es zumindest vertanden wissen und wird darin auch von der mexikanischen Regierung bestätigt. Es handele sich um arbeitsvertragsrechtliche Formalitäten, heißt es. Die Vorgeschichte der betroffenen Journalist*innen lässt allerdings andere Zusammenhänge vermuten. Aristeguis Nachrichten waren vor allem in den letzten Monaten ungemütlich für die Regierung geworden. Während der Proteste nach dem Verschwinden von 43 Studenten aus Ayotzinapa deckte die unnachgiebige Journalistin auf, dass Präsident Peña Nieto und seine Ehefrau ein milliardenschweres, nicht deklariertes Haus besitzen. Dieses hatte das prominente Ehepaar von der Firma HIGA erhalten, die seit Jahren von der Regierung mit Unsummen von eingenommenen Steuergeldern abgefüttert wurde. Die Affäre sorgte unter dem Namen „Weißes Haus“ (Casa blanca) im November 2014 für landesweites Aufsehen und tat dem Ruf von Peña Nieto großen Abbruch. Dass nun vor Aristegui ausgerechnet jene ihrer beiden Kollegen entlassen wurden, die an der Aufdeckung des Falls „Weißes Haus“ maßgeblich beteiligt waren, scheint ein nur allzu verdächtiger Zufall. Hat die Regierung sich eingemischt? Die betroffenen Journalist*innen vermuten den Eingriff einer höheren Instanz, unter deren Druck der MVS-Vorsitzende Joaquìn Vargas gehandelt habe. „Der Familie Vargas muss etwas Schlimmes oder sogar sehr Schlimmes passiert sein“, erklärte Aristegui am 19. März, vier Tage nach ihrer Entlassung in einem öffentlichen Streaming im Internet. Die Unternehmer hätten Aggressivität und Virulenz an den Tag gelegt, „wobei sie die klare Absicht zeigten, nicht nur das Arbeitsverhältnis zu brechen, sondern diese Journalistengruppe zu vernichten. Dieses Verhalten entspricht nicht den Vargas, die ich kenne.“ Ihre Kündigung fand Aristegui auf Büschen am Fußgängerweg vor ihrem Haus ohne vorab zum Gespräch berufen worden zu sein.
Auch für viele Hörer*innen der MVS-Nachrichten besteht kein Zweifel, dass die Entlassung Aristeguis ein gewaltsamer und von der Regierung eingeleiteter Einschnitt in die Pressefreiheit ist, die in Mexiko ohnehin schon extrem eingeschränkt ist. Innerhalb einer Woche wurden mit Protestaktionen mehr als 185.000 Unterschriften gesammelt, um die Sendung von Aristegui zu retten.
Die Berühmtheit der preisgekrönten Journalistin war ihr bisher zweifellos eine Art Schutzschild gewesen: Es gab zu viel Öffentlichkeit um sie herum, um sich ihrer zu entledigen – im Gegensatz zu zahlreichen anderen kritischen Journalist*innen, die in Mexiko ums Leben kommen, im Exil oder in ständiger Angst unter Morddrohungen leben. Umso deutlicher wird durch die jetzige Entlassung, dass die aktuelle Regierung in Mexiko vor nichts mehr Halt macht.
Bereits 2011 war Aristegui einmal suspendiert worden, nachdem man dem damaligen Präsidenten Calderón Alkoholismus vorwarf und sie eine öffentliche Stellungnahme forderte. Massive Proteste bewirkten die Wiedereinstellung der mutigen Journalistin. Die jüngste Entlassung kommt daher einem letzten Tabubruch gleich.
Aristeguis Forderung nach einer Wiedereinstellung des gesamten Teams begegnete MVS mit Ablehnung. Auch andere Medien mit vergleichbarer öffentlicher Aufmerksamkeit werden für Aristgeuis Vorhaben schwer zu finden sein, da in den meisten mexikanischen Sendern kein Platz für kritische Berichterstattung gegeben ist. Die Regierung setzt repressive Maßnahmen auch ohne offizielle Verbote durch: Journalist*innen werden bedroht und die Verbreitung kritischer Medien wird oftmals von vornherein unterbunden.
Aristeguis Entlassung ist daher nicht nur eine Frage des Arbeitsplatzes, sondern bedeutet die völlige Auslöschung eines kompletten Investigationsteams aus den mexikanischen Medien. Es scheint als verschwinde mit der Entlassung der Journalist*innen auch der letzte Funken Demokratie in Mexiko, da es auch eine indirekte Drohung an andere kritische Medien und Berichterstatter*innen ist. Doch Aristegui lässt sich den Mund nicht verbieten und versucht ihre Botschaft auch ohne eigene Radiosendung an die Menschen zu bringen: „Wir werden diesen Kampf gemeinsam führen, der ohne jeden Zweifel ein Kampf um unsere Freiheit ist.“