Mexiko | Nummer 476 - Februar 2014

Alles raus, was kann

Die Privatisierung des mexikanischen Energiesektors geht Hand in Hand mit dem neuen alten autoritären Stil der Regierungspartei PRI

Im Schnelldurchlauf haben im Dezember 2013 Senat und Abgeordnetenkammer die umstrittene Energiereform mit einhergehender Änderung der Verfassung verabschiedet. Sie bedeutet die Öffnung der Sektoren für den internationalen Markt und die Privatisierung. Seit 1938 hatten sie sich ausschließlich unter staatlicher Regulierung befunden.

Timo Dorsch

Auch wenn Staatsoberhaupt Enrique Peña Nieto von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) vergangenen August die Gesetzesinitiative in die Runde brachte, ist die nun verabschiedete Fassung der Energiereform vor allem ein großer Erfolg für die Partei der Nationalen Aktion (PAN). Vor 74 Jahren gründete sie sich als Protest gegenüber dem Erstarken der staatlichen Regulierung und verfolgt seitdem einen radikal wirtschaftsliberalen Kurs. Die erhofften ausländischen Direktinvestitionen sollen das Bruttoinlandsprodukt nach oben schrauben: Bis zum Jahr 2018 wird jährlich ein Prozent Wachstum vorausgesagt, bis 2025 jährliche 1,6 Prozent, so die knapp 300 Seiten dicke Gesetzesvorlage. Gleichzeitig wird der ökonomische Wert der mexikanischen Erdölreserven zurzeit auf satte drei Billionen US-Dollar geschätzt. Der Wunsch nach mehr Wirtschaftswachstum fordert jedoch Opfer. In Mexiko ist dies gewöhnlicherweise zuallererst die Verfassung von 1917.
Es sind die Artikel 25, 27 und 28 der Verfassung, die nun einer Änderung unterzogen wurden. Insbesondere Artikel 27, in dem Territorium und natürliche Ressourcen als Eigentum der Nation definiert werden, gilt als ein starker symbolischer Bezugspunkt des sogenannten revolutionären Nationalismus, den sich die PRI eigentlich immer noch auf ihre Fahne schreibt. Garantierte der Artikel PEMEX bisher das alleinige Recht auf die Erdölausbeutung, ist das Exklusivrecht in der neuen Fassung nicht mehr vorhanden.
Fortan dürfen ausländische Unternehmen ebenfalls aktiv in der Energieproduktion sowie Erdöl- und Gasförderung mitwirken – ein Bereich, der 75 Jahre lang ausschließlich dem mexikanischen Staat vorbehalten war.
Darüber hinaus werden die beiden (ehemals) parastaatlichen Unternehmen Petróleos Mexicanos (PEMEX) sowie die Föderale Elektrizitätskommission (CFE), Kinder des Nationalisierungsdekrets von 1938, in sogenannte produktive öffentliche Akteure umgewandelt.
Doch die Krux liegt bekanntlich im Detail. So verpflichtet der siebte Übergangsartikel dazu, die nationalen Bedingungen und Gesetze im Energiesektor den internationalen Verträgen anzupassen, die Mexiko unterschrieben hatte. Konkret wird sich hierbei auf das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) zwischen den USA, Kanada und Mexiko bezogen, welches zum 1. Januar 1994 in Kraft trat. Der mexikanische Staat verliert damit endgültig das Recht, Enteignungen im und Eingriffe in den Erdölsektor vornehmen zu können. Es ist ein gravierender Wandel im Bereich der Eigentumsrechte, den die Energiereform hiermit anstößt. Und schließlich auch ein entscheidender Schritt hin zu einer umfassenden Privatisierung des Sektors.
Im allerletzten Moment wurde darüber hinaus in den Gesetzesentwurf mit aufgenommen, dass die derzeitig vergebenen Minenkonzessionen ebenso für die Gasausbeutung gültig sind. Und dies in einem Landschaftsszenario, welches einen hohen Grad an territorialer Zersplitterung aufweist. Je nach Studie sind derzeit zwischen 16 und 28 Prozent des nationalen Territoriums bereits durch Konzessionen an Privatunternehmen vergeben. Im mexikanischen Bergbausektor stellen ausländische Investorengruppen knapp 70 Prozent der Konzessionsträger dar, von denen die große Mehrheit ihren Sitz in Kanada hat.
Das Präsidentschaftsamt geht jedoch alles andere als geschwächt aus der Umstrukturierung hervor. Dem Präsidenten obliegt es zukünftig, die neu geschaffenen Institutionen mit Führungspersonal zu besetzen. Die Einflussnahme wird auch dadurch vereinfacht, dass dem Kongress die Kontrollmöglichkeiten über PEMEX und CFE entzogen werden. Auf der einen Seite geht die Reform also mit einer Verschlankung des Staates einher, wie es sich die PAN von jeher wünschte. Auf der anderen Seite bedeutet sie ein Erstarken des Präsidentenamtes im Sinne der PRI. Mexiko als neoliberaler autoritärer Staat in neuem Glanze.
Doch die staatliche Politik provoziert hohen Wellengang. So kann das Auftreten einer neuen Guerilla im Bundesstaat Guerrero als symptomatische Reaktion auf die gegenwärtigen Reformen verstanden werden. Die Bewaffneten Revolutionären Kräfte – Befreiung des Volkes (FAR-LP) bezeichnen in ihrem Kommuniqué vom Dezember all diejenigen ausländischen Energieunternehmen als legitime „militärische Objekte“, die sich zukünftig produktiv in Mexiko niederlassen wollen. Die Echtheit der Guerilla ist in der unübersichtlichen politischen Landschaft jedoch ungewiss. Dennoch ist das öffentliche Erscheinen ausdrucksstarkes Zeichen für die soziale Anspannung, die sich im Land immer weiter ausbreitet.
Der Brisanz der Lage sind sich wohl auch die Abgeordneten und Senator_innen in der Hauptstadt bewusst. In Mexiko-Stadt, Anziehungs- und Konzentrationspunkt für unzählige öffentliche Protest- und Mobilisierungsmärsche, wurde fast zeitgleich mit der Energiereform ein neues Demonstrationsrecht verabschiedet – zynischerweise am 10. Dezember, dem internationalen Tag der Menschenrechte.
Die neue Fassung besagt, dass Demonstrationen 48 Stunden vorher angemeldet werden müssen, lediglich zwischen 11 bis 18 Uhr stattfinden dürfen, die Demonstrationsroute von den Behörden festgelegt werden kann, zentrale Verkehrsachsen nicht mehr blockiert werden dürfen und bei Verstößen gegen die öffentliche Ordnung – die Interpretation obliegt der Staatsgewalt – aufgelöst werden können. Unzählige nationale wie internationale Organisationen laufen dagegen Sturm. Amnesty International ließ gegenüber der Menschenrechtskommission der Abgeordnetenkammer verlauten, dass das neue Gesetz die freie Meinungsäußerung in Gefahr bringe und zu einem „verstärkten Einsatz übermäßiger Gewalt durch die Polizei“ führen könne. Einen gleichen Tenor schlägt das 74 Gruppen und Organisationen umfassende landesweite Menschenrechtsnetzwerk Alle Rechte für Alle (Todos los Derechos para Todas y Todos) an. Das Gesetz verstoße „gegen die Verfassung und internationale Menschenrechtsverträge.“
Mit dem neuen Demonstrationsrecht geht zugleich eine neue Welle polizeilicher Repression in Mexiko-Stadt einher. Und dies sowohl gegenüber den Demonstrierenden als auch gegenüber Medienvertreter_innen. Die unabhängige Medienorganisation Artículo 19 hat unlängst in einem Bericht festgehalten, dass die Einsatzkräfte in der Hauptstadt losgelöst von jeglichen Vorschriften gewalttätig gegen die Berichterstatter_innen vorgehen. Diese Praktiken scheinen sich seit dem Amtsantritt Peña Nietos und dem Regierungschef der Hauptstadt, Miguel Mancera von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD), im Dezember 2012 immer mehr zu etablieren.
Die Entrüstung ist auch aufgrund der abschottenden Haltung der Politiker_innen groß. In den kalten Dezembernächten der Abstimmung zur Energiereform trennten meterhohe Metallzäune um Senat und Abgeordnetenkammer die Demonstrierenden von ihren gewählten Repräsentant_innen. Ihre Apathie gegenüber jenen, die sie scheinbar vertreten sollen, treibt die Politiker_innen dazu, sich selbst einzuschließen. In der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember trommeln die Menschen mit Schüsseln, Steinen und Skateboards gegen den Wall vor dem Senat. Am darauf folgenden Tag schaffen es Gewerkschafter_innen einen Teil der Trennwand vor der Abgeordnetenkammer nieder zu reißen. Sogleich füllen anrückende Polizist_innen das Loch und körperliche Auseinandersetzungen beginnen.
Zwei Tage später wird am Nachmittag eine Demonstration auf Reforma, einer der Hauptverkehrsstraßen Mexiko-Stadts, abgehalten. Anlass sind die Energiereform und die 66-prozentige Erhöhung der U-Bahntickets. Unbekannte zünden plötzlich einen riesigen Coca-Cola Plastik-Weihnachtsbaum an. Dunkle große Rauchwolken steigen gen Himmel und sind noch aus einigen Kilometern Entfernung zu sehen. Sie sind Ausdruck einer tiefen Kluft zwischen Regierungspolitik und Bevölkerung.

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