„Juanito“ – Eishändler der Machtinteressen
In Mexiko-Stadts Bezirk Iztapalapa konnte AMLO die parteiinterne Gegenspielerin mit einem zweifelhaften Schachzug austricksen
Juanito sei nun „ein Stern mehr auf dem Kanal der Sternchen“, lästerte Andrés Manuel López Obrador (AMLO) in Anspielung auf die nicht enden wollende Berichterstattung des omnipotenten TV-Senders Televisa. Der in den Präsidentschaftswahlen von 2006 knapp unterlegene Kandidat der Partei der demokratischen Revolution (PRD) wirft der Regierung Wahlbetrug vor und bezeichnet sich seitdem als „legitimer Präsident“.
Juanito wurde allerdings von niemand anderem als López Obrador selbst in den Medienhimmel katapultiert. Denn noch vor drei Monaten kannte kaum jemand den Betreiber einer Eisdiele, der mit bürgerlichem Namen Rafael Acosta heißt. Irgendwie hatte er es geschafft, zum – freilich aussichtslosen – Kandidaten der PT für das Amt des Regierungschefs des von Armut, Wassermangel und hohen Kriminalitätsraten gezeichneten Bezirks Iztapalapa aufzusteigen. Ins Rampenlicht rückte Acosta im Nachspiel eines folgenschweren Urteils des mexikanischen Wahlgerichts. Das Gericht hatte zum wiederholten Mal in die weiterhin erbittert geführten Kämpfe um die Führung der PRD eingegriffen, indem es Clara Brugada, der AMLO-nahen Kandidatin der PRD für das zwei Millionen EinwohnerInnen zählende Iztapalapa aus formalen Gründen den Sieg bei den parteiinternen Wahlen aberkannte. In dem ganz offensichtlich politisch motivierten Urteil zog das Wahlgericht den Schluss, dass der unterlegenen Silvia Oliva die Kandidatur für das Amt des Regierungschefs in der traditionellen PRD-Hochburg gebühre. Oliva zählt ihres Zeichens zu dem López Obrador feindlich gesonnenen Interessen- und Machtblock „Neue Linke“, der im vergangenen Jahr – ebenfalls mit Hilfe des Wahlgerichts – die Macht innerhalb der PRD übernahm.
Anstatt die Wahl zu boykottieren oder das politische Urteil des Wahlgerichts durch Märsche und Blockaden anzufechten, überraschte der „legitime Präsident“ López Obrador die Basis der PRD und der PT und sogar die geschasste Kandidatin selbst mit einer ganz anderen Strategie. Es schlug die Stunde Rafael Acostas: In einer öffentlichen Veranstaltung rang AMLO dem Kandidaten der kleinen PT das Versprechen ab, im Falle eines Wahlsieges sofort zurückzutreten und daraufhin Clara Brugada das Amt zu überlassen. Mit dem „Ticket“ der Partei der Arbeit wollte der ehemalige Präsidentschaftskandidat seine Getreuen aus der PRD in Iztapalapa positionieren. In den darauf folgenden Tagen und Wochen vor den Wahlen setzte er eine eindrucksvolle Mobilisierungskampagne in Gang, in der er bei den BürgerInnen Iztapalapas um Stimmen für die PT warb – und damit gegen seine eigene Partei, die PRD. Dabei schien für López Obrador der Name „seines“ Kandidaten eher Nebensache zu sein. Als ihm dieser auf einer Wahlveranstaltung entfiel, rief er nämlich dazu auf, man solle seine Stimme doch „Juanito“ geben – Rafael Acostas Pseudonym war geboren.
Dennoch ging zumindest der erste Teil von AMLOs Rechnung auf: Juanito wurde am 5. Juli mit 50.000 Stimmen Vorsprung vor der Rivalin Oliva zum Regierungschef gewählt. Für López Obrador war Iztapalapa damit zu einem „Laboratorium der Demokratie“ aufgestiegen, welches den dunklen Machenschaften der mexikanischen Institutionen ein Schnippchen geschlagen hatte. Und während kritische Stimmen fragten, was die hinter verschlossenen Türen getroffenen Absprachen, das Abkanzeln der PT in Iztapalapa und das autoritäre Gebaren AMLOs gegenüber Rafael Acosta eigentlich mit Demokratie zu tun hätten, feierte das Gros der lopezobradoristas ihren Juanito als Mann des einfachen Volkes, der sich im richtigen Moment den Interessen der großen Politik unterzuordnen weiß. Die Medienlandschaft hingegen fand in den Tagen und Wochen nach dem 5. Juli ihren eigenen Juanito: Den Straßenhändler, der nicht mehr nachzählen kann, wie vielen PolizistInnen er im Laufe seines Lebens die Schlagstöcke entrissen und sie damit verdroschen hat. Juanito, der Fidel Castro, Hugo Chávez und Rambo im selben Atemzug als seine Vorbilder bezeichnet, und Juanito, der kein anständiges Interview geben kann, ohne sein Notizbuch heraus zu kramen. Inmitten der elitären mexikanischen Politikerkaste war Juanito eine Ausgeburt der Unterklasse, des populacho. Die Medien behandelten ihn wie einen Freak, den die Widrigkeiten der großen Politik in eine Welt gespült haben, in der er nichts zu suchen hat.
Für Clara Brugada und López Obrador ging die Sache so lange gut wie Juanito das tat, was man gemeinhin von Menschen wie ihm erwartet: stillhalten und Befehle ausführen. Eben das tat er jedoch nur ein paar Tage lang, dann entwickelte Juanito, der doch eigentlich nur als Vehikel für die Ambitionen López Obradors hätte dienen sollen, ein Eigenleben. Anstatt seinen Platz still und heimlich für Brugada zu räumen, erklärte er knapp einen Monat nach den Wahlen, dass er – dem bis zu dem Deal mit López Obrador etwa drei Prozent der Stimmen in Iztapalapa vorausgesagt worden waren – über ausreichend Rückhalt in der Bevölkerung verfüge, um das Amt selber anzutreten. Während die AnhängerInnen Carla Brugadas Sturm gegen den Wortbruch liefen, verhandelte Juanito unter steter Ägide der Medien mit PolitikerInnen der „Neuen Linken“, mit Abgeordneten der ultrarechten Regierungspartei PAN und mit VetreterInnen der PRI. Ihnen allen war gemein, dass sie Juanito vom Verbleib im Amt überzeugen wollten, um auf diese Weise die Machtsphäre López Obradors weiter einzudämmen.
Rafael Acosta sonnte sich nicht nur im Rampenlicht, sondern verlor sich zusehends in dem vom Medienzirkus kreierten Bild Juanitos. Mit jedem Tag wurde Acosta sich sicherer: „Juanito“ – von dem er selbst stets in der dritten Person spricht – hatte die Wahlen gewonnen, nicht Clara Brugada und auch nicht López Obrador. So verlangte Juanito zunächst, im Gegenzug für seinen Amtsverzicht die Hälfte der Verwaltungsstellen mit seinen Leuten zu besetzen. Als Brugada dies ablehnte, kündigte er seine Solidarität mit dem „legitimen Präsidenten“ auf und erklärte, sein Amt selbst antreten zu wollen.
Für die AnhängerInnen von Andrés Manuel López Obrador war Juanitos Verhalten ein Beweis dafür, dass er von einer „Mafia“ manipuliert worden sei. Die PT wandte sich gegen ihren ehemaligen Kandidaten, und die lopezobradoristas sahen in ihm nur noch einen funktionalen Analphabeten, der nicht versteht, was um ihn und mit ihm geschieht. Für den Lopezobradorismus verkam Juanito vom nützlichen Idioten zu einem manipulierten Nichtsnutz. Dabei tat Juanito die gesamte Zeit über nichts anderes als das, was Mexikos angesehene PolitikerInnen in Bluse oder Sakko tagtäglich tun: frei von ideologischen Bedenken um Macht und Geld schachern und versuchen, in der Demokratiesimulation mexikanischer Institutionalität einen angenehmen Posten zu erheischen. Juanito tat dies alles freilich auf seine Art, ein wenig zu naiv, zu offen und vor allem ohne Anzug und Krawatte. Am Ende hat er, der sich schon als Regierungschef der Hauptstadt und sogar als nächster Präsident Mexikos sah, scheinbar zu hoch gepokert. Nach einem halbstündigen Treffen mit Marcelo Ebrard, dem AMLO-treuen Regierungschef von Mexiko-Stadt, erklärte Juanito Ende September, seiner Vereidigung nun doch den sofortigen, wenn auch einstweilen vorläufigen, Rücktritt folgen zu lassen. Nachdem er seinen Schwur auf die Verfassung geleistet hatte riss er sich die rote Krawatte vom Hals, trat sie mit den Füßen und rief „Tod der PT – Verräter!“ in den tobenden Saal. Eine knappe Stunde später erklärte er seinen vorläufigen Verzicht auf das Amt, welches er der PRD-Politikerin Clara Brugada übertrug. Ein paar Posten in der neuen Administration hat Juanito für die Seinen zwar herausschlagen können, ansonsten aber wurde der populacho an seinen angestammten Ort fernab der Macht verwiesen. Der Glaubwürdigkeit von López Obrador und seinen Gefolgsleuten dürfte das Spektakel um Juanito geschadet haben wie kaum ein anderes Ereignis der letzten Jahre. Mexikos ranziger politischer Elite als ganzer hat es derweil wahrscheinlich sogar genutzt: Wie gut – so das Credo der Medienberichterstattung – dass das Schicksal des Landes in den Händen derjenigen liegt, die auch in schwierigen Momenten weder den Schlips noch den guten Ton links liegen lassen.