“Alles, was wir gelernt haben, war falsch”
Walter Klier erzählt „eine Geschichte aus dem 20. Jahrhundert”
Sozusagen”,, meint einer, „trifft alles Unglück dieser Welt zu einer Zeit, an einem Ort zusammen.” Diesen Ort scheint das Unglück mit de Sierra”, Walter Kliers fiktiver bolivianischer Stadt, sorgfältig gewählt zu haben. 1982 treffen hier, unter der schwülen Hitze des Südens, neben allen Übeln der Welt auch Kliers zwielichtige, erwartungsvolle und düstere, in jedem Fall aber ahnungslose Gestalten aufeinander.
„Eine Stadt, dort sei nicht nur Bolivien, dort sei Lateinamerika am allerwirklichsten, wirklicher bekomme man es nicht”, uns ein US-amerikanischer Backpacker, und liefert den „Übernachtungs -Geheimtip für Reisende mit eher wenig Geld”, gleich mit: das Hotel Bayer, benannt nach einer Werbekampagne des gleichnamigen konzerns: „Si es Bayer, es bueno!”
Hier wohnen „auf Nummer eins der Franzose, auf zwei die Mädchen, auf drei der junge Deutsche, auf vier der Vertreter, auf fünf der dicke Italiener, auf sechs bis neun die üblichen Stammgäste” sowie, auf der elf, ein Bostoner Schriftsteller, der mit dem Zug nach Patagonien reisen und ein Buch darüber schreiben will, was ihm nach Meinung des schottischen Hotelmanagers nie gelingen wird. Das ist wenig aller wirklichstes Lateinamerika” und viel Hotel, wie man zu Recht feststellen wird.
Tür an Tür
Der Franzose von der eins, das ist Goldberg, ein Spätberufener der Resistance. Er will den von den Nazis ermordeten Vater rächen, indem er Altmann erschießt, eine der Nazigrößen die hier ihren Lebensabend in teuren Villen genießen. Sein Zimmer liegt neben dem zweier Backpackerinnen: Susanne, die meint, der auserwählten Generation anzugehören, „die als erste entschlossen und unnachgiebig nachdachte” und doch an ihrem Gewissen schwerer trägt als an ihrem Rucksack. Und Julie, US-Amerikanerin und fast gewissenlos naiv. Der Italiener Giovanelli von Zimmer sechs ist seines Zeichens ein von Gott verlassener Priester auf der Suche nach den Überbleibseln einer „frühchristlichen Tierschutzreligion”.
Die Menschen, die in Nuestra Senora aufeinander treffen, sind Suchende, die dem Glück, dem Geld, ihren Göttern oder Träumen hinterher jagen, die sie in der Neuen Welt zu finden hoffen -die üblichen Aussteiger, Goldgräber und Wanderer, wie es scheint. Doch sie steigen nicht aus und finden kein Gold, ja, sie suchen nicht einmal danach. Stattdessen drehen die Figuren sich um ihre eigene Achse und verheddern sich in den Fäden, die zwischen ihnen und der Alten Welt geknüpft sind.
Nach und nach wird den Charakteren bewusst, dass sie eigentlich „hier“ sind, um nicht mehr „dort“u zu sein, um sich und ihrer eigenen Geschichte zu entfliehen, die sie doch nicht loslässt.
Bedenken- und gedankenträge wanken sie durch den Dschungel ihrer Existenz, ihre Gewissheiten hinter sich herschleppend wie eine Bleikugel, ohne je das auszuführen, was sie auszuführen sich vorgenommen hatten.
Der Scherbenhaufen einer ,,sinnlosen
Der Rächer Goldberg vermasselt seinen Showdown, weil „dieser ungeheure Schwall von Hass, von dem er geträumt hatte, und der ihn hätte antreiben sollen“ sich nicht einstellt. Die deutsche sacktouristin, auf der Suche nach der Wirklichkeit, stellt resigniert fest, „der geringste Umweg wäre gewesen, daheim in Burghausen an der Salzach zu bleiben”. Und Giovanelli, der Priester, reduziert sich aufs nackte Dasein -kein Gott, keine „frühchristliche schutzreligion”. Er will nur noch „nicht hier sterben”, im südamerikanischen Nichts. „Alles, was wir gelernt haben, war falsch”, resümiert der Ex-Revolutionär. Und all die anderen Charaktere würden ihm sicher Recht geben. Mit dem Zusatz, dass wohl auch alles, was sie gedacht haben, falsch war. eine Neue Welt gefunden zu haben finden sie sich selbst in einem Scherbenhaufen einer „sinnlosen Stadt”.
Walter Klier erzählt „eine Geschichte aus dem 20. Jahrhundert”, wie der Untertitel uns verrät, und es ist „dieses Jahrhundert, dieser Alptraum, aus dem sie nicht mehr erwachen würden”, welches die absolute Sinnlosigkeit der Existenz von vornherein vor-zugeben scheint. So ist die Tragik des Buches und seiner Geschichten nicht in der Handlung zu suchen -sie liegt gerade in der Nicht-Handlung. Das Unglück musste nie zusammentreffen -es war immer da.
Trost findet man allein in den übrig gebliebenen Hotelbewohnern. Der junge Deutsche von Zimmer drei tauscht Prousts The Prisonergegen gegen Die Ästhetikdes Widerstands von Peter Weiss, und der Bostoner von der elf hat sein Buch unter dem Titel The Old Patagonian Express schließlich doch noch geschrieben. Aber das steht -natürlich -nicht im Buch.
Börries Nehe
Walter Klier: ,,Hotel Bayer -Eine Geschichte aus dem 20. Jahrhundert”. Haymon Verlag, 2003, 176. S, 17,90 Euro