Alltäglicher Faschismus aus Kindersicht: Tapfere Großmütter, gute und böse Onkel
Der haitianische Spielfilm “Der Mann auf dem Quai”
Als die zehnjährige Sarah in ihrem Versteck auf dem Dachboden der Großeltern spielt, gehen ihr Gedankenfetzen durch den Kopf: makaber-unschuldige Schüttelreime, diffuse Erinnerungen, die sich zu Szenen von bedrohlicher Rätselhaftigkeit verdichten. Gleißende Sonne dringt durch die Ritzen der verriegelten Fensterläden und wirft ein staubiges Licht auf das Durcheinander aus alten Möbeln und Kleidungsstücken, vergilbten Illustrierten, Spielzeug und einer Pistole.
Mit Schrecken und Verwirrung erinnert Sarah sich an einen Tag vor ungefähr zwei Jahren: Einer Ahnung folgend, trat das Mädchen damals auf den Balkon des Dachbodens und erblickte auf dem benachbarten Hinterhof einen leibhaftigen Tonton Macoute, der gerade ihren Patenonkel Sorel zusammenschlug. Auch der dabeistehende Militärhauptmann war der Kleinen bestens bekannt: Jansson, ihr eigener Vater. Nach einer Schrecksekunde löst sich aus Sarahs Kehle ein Schrei. “Bring sie zum Schweigen”, befiehlt Janvier, der Tonton Macoute, dem Vater.
Mehr als dreißig Jahre nach diesem Vorfall versucht Sarah, sich zu erinnern: Daran, was in den folgenden zwei Jahren passierte und wie sie diese Ereignisse als Kind wahrnahm.
Collagenhaft und assoziativ, in ruhig durchkomponierten, mit satten Farben getränkten Bildern erzählt Raoul Peck die Geschichte Sarahs und ihrer Familie. Schauplatz ist eine haitianische Kleinstadt zu Beginn der sechziger Jahre, also in der Anfangsphase der Duvalier-Diktatur. Noch rivalisieren die Tonton Macoutes, “Papa Docs” berüchtigte paramilitärische Terrorbande, mit dem offiziellen Militär um die Vorherrschaft in der Hafenstadt. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Sarahs Vater, dem aus wohlhabender Familie stammenden lokalen Kommandanten und seinem Untergebenen Janvier, einem ehrgeizigen und skrupellosen Mann, der aus der Unterschicht stammt.
Nach der Verhaftung von Sarahs Pate Sorel wegen angeblicher subversiver Tätigkeiten und dem Vorfall im Hinterhof, dessen Zeugin das Mädchen wird, fliehen Jansson und seine Frau. Ihre drei Töchter lassen sie in der Obhut der Großmutter Camille zurück, die sie zunächst im Kloster, später auf dem Dachboden versteckt. Ein Versuch der couragierten Frau, die Kinder heimlich außer Landes zu schaffen, scheitert auf dramatische Weise. Erst nach einem Amnestieerlaß Duvaliers wagen sich die Mädchen wieder ans Tageslicht. Die zurückgewonnene Bewegungsfreiheit beinhaltet neue Gefahren, denn die Stadt ist mittlerweile vollständig unter der Kontrolle der Tontons Macoutes.
Der Film “Der Mann auf dem Quai” verdichtet verschiedene Erlebnisse Sarahs und ihrer Großmutter Camille, Fragmente alltäglicher Erfahrungen zu einem Szenario des Alltags in einem totalitären System. Offener Terror, das Foltern und “Verschwindenlassen” mißliebiger Personen gehen einher mit subtileren Einschüchterungs- und Erpressungsversuchen. Dies zeigt sich besonders in den Auseinandersetzungen zwischen Janvier und Camille. Dazu Regisseur Raoul Peck: “Die einzelnen Sätze werden immer durch eine Stille unterbrochen. Man wartet auf die Anwort, um wieder anzugreifen. Es ist ein Pokerspiel, das jedesmal gespielt wird. Da ist der Ursprung all dieser Angst. Es ist dieses Etwas, das in der Luft liegt und einem jeden Moment auf den Kopf fallen kann.”
Jede mißliebige Handlung kann zum Verhängnis werden. Als Camille, die einen Laden besitzt, sich weigert, die getragenen Stöckelschuhe von Janviers zickiger Frau umzutauschen, ahnt sie im gleichen Moment, daß sie damit wahrscheinlich zu weit gegangen ist…
Der einzige Mensch, der innerhalb dieser beklemmenden Atmosphäre eine gewisse Narrenfreiheit besitzt, ist zynischerweise Sarahs Pate Sorel, jetzt von allen “Gracieux” genannt. Durch die Folter wurde er zum schwachsinnigen Krüppel, der in einer Hütte am Quai haust. Täglich humpelt er durch die Straßen, eine tragische Gestalt, die auch bei alten Freunden wie Camille nur auf eine Mischung aus Mitleid, Ekel und Angst stößt. Manchmal vertreibt sich Janvier damit die Zeit, Sorel zu demütigen, indem er ihn zum Beispiel um einen Zigarettenstummel betteln läßt. Sorels zerstörte Gestalt ist ein lebendiges Zeugnis des allgegenwärtigen Terrors, trägt zur Einschüchterung bei. Entsprechend wird sogar geduldet, daß der Schwachsinnige sich am Nationalfeiertag eines der überall aushängenden Plakate von “Papa Doc” an den Hintern heftet und damit durch die beflaggten Straßen zieht.
Sarah versucht, die Bruchstücke ihrer Erinnerung zusammenzufügen. Die zehnjährige versteht nicht, wie aus dem Paten Sorel der Kretin Gracieux wurde, warum ihre Eltern sie fluchtartig im Stich ließen, warum der gutaussehende Janvier sich ihr mit dem Charme eines Wolfes aus dem Märchen zu nähern versucht.
“Der Mann auf dem Quai” ist ein Spielfilm, den Regisseur und Drehbuchautor Raoul Peck aus authentischen Details, aus den Erinnerungen verschiedener Personen zusammensetzte. Ende der fünfziger Jahre, als Peck ungefähr in Sarahs Alter war, emigrierte seine Familie aus Haiti nach Afrika. Nach längeren Aufenthalten in Zaire, den Vereinigten Staaten und Frankreich studierte er in Berlin an der Deutschen Film- und Fernsehakademie.
Als der Filmemacher 1991 das Drehbuch zu “Der Mann auf dem Quai” fertigstellte, sah es so aus, als sei das Szenario der Handlung Geschichte: 1986 hatte Haiti die Duvalier-Diktatur abgeschüttelt. Nach einer Zeit der Instabilität ging 1991 aus den ersten freien Wahlen in der Geschichte des Landes der progressive Priester Jean-Bertrand Aristide als Sieger hervor. Die Aufbruchstimmung färbte auch auf das Filmprojekt ab: Der neugewählte Präsident sagte seine Unterstützung für die Dreharbeiten auf Haiti zu. Parallel dazu waren laut Peck eine Reihe von Initiativen im Film- und Videobereich geplant, um der haitianischen Medienkultur auf die Beine zu helfen. Der Militärputsch im gleichen Jahr warf alles über den Haufen. Das Drehteam von “Der Mann auf dem Quai” war gezwungen, in die benachbarte Dominikanische Republik auszuweichen.
Die Tatsache, daß sein zweiter Spielfilm international zahlreiche Filmpreise und positive Kritiken erntete, ist für Peck nicht nur Grund zur Euphorie: “Ich war erstaunt über die positive Kritik gewisser Zeitungen, bis ich verstand, was sie fasziniert. Es ist dieses Bild der Dritten Welt, die sich Leid zufügt, die Barbarei eines exotischen Landes, und das mußte ich dann immer wieder korrigieren.” Der Filmemacher betont, daß “Der Mann auf dem Quai” sich keineswegs nur auf Haiti bezieht: “Es ging zu allererst darum, das kollektive Gedächtnis eines Volkes wiederherzustellen, bevor es verloren geht – natürlich für alle Haitianer, aber auch für alle, die diese Art von Willkür erleiden, die die menschlchen Beziehungen beeinnträchtigt, Familien zerstört und Gesellschaften destabilisiert: in Jugoslawien, in Südamerika und sogar in der Pariser Metro…”
Pecks derzeitiger Wohnort Paris ist für ihn – ähnlich wie Berlin – ein Ort des multikulturellen Austausches, aber auch des alltäglichen Rassismus. In der ersten Version von “Der Mann auf dem Quai” sollte diese Stadt hoffnungsvoller Endpunkt der Handlung sein: Nach gelungener Flucht werden Sarah und ihre Schwester auf dem Pariser Flughafen von ihrem Vater in Empfang genommen. “Ich konnte so schließen, weil sich die Realität geändert hatte und ich nicht mehr in der Perspektive des Exils lebte.” – Nach Aristides Sturz und der Rückkehr der Diktatur beschloß Peck, das Ende des Films noch einmal umzuschreiben.