Mexiko | Nummer 500 - Februar 2016

ALLTAG OHNE ÜBERLEBENSGARANTIE

Vor dem Papstbesuch im Februar beklagen Journalist*innen die fehlende Unterstützung der Kirche

In Mexiko werden ganze Landesteile und Bereiche der Gesellschaft von Gruppen der Organisierten Kriminalität kontrolliert. Aber auch Behörden und Amtsinhaber*innen schrecken oft nicht davor zurück, ihre Interessen und Privilegien mit Gewalt zu verteidigen. Für Journalist*innen ist es gefährlich, in mexikanischen Medien über Korruption und Missbrauch zu berichten. Trotzdem wagen es einige, gegen diese Zustände anzuschreiben. Sie wollen nicht untätig bleiben angesichts des Leids der Opfer.

Andreas Boueke

„Angst liegt in der Luft“, sagt der mexikanische Menschenrechtsanwalt Gabriel Soto. „Journalisten wissen nicht, ob sie durch die Veröffentlichung ihrer Artikel in Gefahr geraten könnten.“ Nach Pakistan und dem Irak gilt Mexiko als der weltweit gefährlichste Arbeitsplatz für Medienmacher*innen. „Man weiß nie, wer sich über was ärgert. Du fragst dich: ‚Könnte es sein, dass jemand wütend ist, weil ich dieses oder jenes Foto einer Schießerei ver­­öffentlicht habe?‘ So entsteht eine Atmosphäre der Selbstzensur.“
Seit dem Jahr 2000 wurden in Mexiko 89 Reporter*innen, Fotograf*innen und Korrespondent*innen ermordet, viele erschossen, andere gefoltert, erwürgt und ihre Leichen in Müllbeuteln weggeworfen. Gabriel Soto weiß, dass die Aggressionen in den meisten Fällen von Staatsangestellten ausgehen: „Von Leuten, die für die öffentliche Sicherheit arbeiten sollen, für das Justizsystem. In dieser Situation stellt sich für Journalisten die Frage, bei wem sie Unterstützung suchen können.“
Eine der einflussreichsten Institutionen in der ­mexikanischen Gesellschaft ist die katholische Kirche. Sie hätte die Möglichkeit, einen deutlichen Beitrag zu leisten, damit Journalist*innen ohne Angst ihrer Arbeit nachgehen können, meint Schwester Leticia Gutierrez, Missionarin und Direktorin einer Flüchtlingsorganisation: „Doch es gibt dieses verquere Denken, dass die Kirche sich nicht in die sozialen Probleme der Menschen einmischen soll, weil das schnell politisch wird. Angeblich müssen Politik und Religion strikt getrennt bleiben. Das halte ich für eine der schlechtesten Ausreden, die ein Priester vorbringen kann, um nicht Stellung für die Opfer zu beziehen und für die Menschen, die in diesem Land misshandelt werden.“
Diese passive Haltung der Kirche sieht Schwester Leticia historisch begründet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Katholiken in Mexiko verfolgt, Gläubige und Priester ermordet. Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche blieb lange sehr distanziert: „Zu einer wirklichen Veränderung kam es erst im Jahr 1994, als die Ein-Parteien-Diktatur der Partei PRI beendet wurde. Danach begann eine Phase der Versöhnung zwischen Staat und Kirche. Damit kann man erklären, weshalb sich die Kirche heute so sehr zurückhält. Sie will eine erneute Verfolgung vermeiden.“
Im Jahr 2012 kam die PRI-Partei erneut an die Macht. Seitdem hat die Gewalt gegen Journalist*innen deutlich zugenommen, aber die Kirche schweigt. Nach Meinung Gabriel Sotos hat das ganz profane Gründe: „Die Kirchenoberen haben sich daran gewöhnt, in der Kuppel der Macht zu leben. Dort, wo die Menschen eine Bildung an Privatschulen genießen und zu der Oberschicht Mexikos gehören. Der Klerus ist Teil dieses Zirkels, in dem es unangenehm ist, bestimmte Themen anzusprechen. Man will ja nicht den Platz am Tisch der Macht gefährden.“
Die katholische Reporterin Yohali Reséndiz hat sich trotz Gefahr und mangelnder Unterstützung entschieden, in ihrer Berichterstattung eindeutig Stellung zu beziehen für die wehrlosesten Opfer und gegen die Täter: „Vor Kurzem habe ich die Geschichte eines dreizehnjährigen Mädchens erzählt, das von einem Kongressabgeordneten misshandelt wurde. Der Politiker hat sie eindeutig vergewaltigt. Aufgrund meines Berichts verlor er sein Amt und hat heute keine politische Zukunft mehr.“
Solche Recherchen sind gefährlich. Yohali Reséndiz bekommt immer wieder Morddrohungen oder einschüchternde Emails mit Fotos von Vergewaltigungen. Einmal lag ein Leichensack vor dem Haus ihrer Mutter, mit der Ankündigung, den könne sie bald für den Körper ihrer Tochter nutzen.
Auf Unterstützung der katholischen Kirche kann Yohali Reséndiz bei ihrer Arbeit nicht zählen. Sie ist enttäuscht, wie wenig die Kirche den Opfern von Menschenrechtsverletzungen beisteht: „Wer in eine Kirche geht, sucht Trost. Der Priester sollte sagen: ‚Mein Kind, was brauchst du? Wie kann ich dir helfen?‘ Aber er sagt: ‚Geh‘ hin und bete.‘ Das bringt keine Lösung.”
Schwester Leticia Gutierrez kann die Kritik der Journalist*innen gut verstehen: „Die katholische Kirche schweigt nun schon seit zwei Jahrzehnten. Dieses Schweigen macht sie zur Komplizin der Gewalt im Land. Es fehlt an Priestern, die uns verteidigen, die sich gegen die Ungerechtigkeiten aussprechen und gegen das Böse. Zum Beispiel kann ich mich nicht an eine einzige Äußerung eines Bischofs zu den Morden an Journalisten erinnern.“
Aber Schwester Leticia weiß, dass die Kirche nicht nur aus Bischöfen und Priestern besteht. In ihren Reihen finden sich auch mutige Menschen, die sich solidarisch zeigen: „An der Basis gibt es viele Katholiken, die Journalisten dabei unterstützen, wahrhaftige Nachrichten zu verbreiten. Ich kann ihnen nur raten, über die offizielle Haltung der Kirche hinauszuschauen, dann werden sie Menschen finden, die mit ihnen gehen wollen. Sie sind nicht allein.“

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