Als Präsident unbesiegbar
Mit dem Tod Hugo Chávez‘ verliert Venezuela einen Ausnahmepolitiker
Es seien „zwei grundverschiedene Männer“ gewesen, mit denen er sich unterhalten habe. „Der eine jemand, dem sein unverwüstliches Glück die Chance präsentiert hatte, sein Land zu retten; der andere ein Traumtänzer, der sehr wohl einmal als ein weiterer Despot in die Geschichte eingehen könnte.“
Im Jahr 2000 veröffentlichte der kolumbianische Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez einen Text über Hugo Chávez, der die Ambivalenz des damals erst kurz amtierenden venezolanischen Präsidenten herausstellte. In dem Essay deutet sich bereits die gesellschaftliche Polarisierung an, die Venezuela in den 14 Jahren, die Chávez das Land regierte, prägen sollten. Die Mehrheit der ärmeren Bevölkerung verehrte ihren Präsidenten leidenschaftlich. Die Eliten des Landes, deren kulturelles Vorbild seit jeher die USA waren, hassten ihn hingegen inbrünstig. Für beide Seiten war Chávez spätestens seit seiner ersten Wahl 1998 der politische Fixpunkt. Dabei wurde Venezuela unter Chávez weder zu einem sozialistischen Paradies noch zu einer kommunistischen Diktatur, wohl aber zu einer Alternative zum Neoliberalismus in Lateinamerika. Es darf nicht vergessen werden, dass der Kontinent zu diesem Zeitpunkt eine lange Phase neoliberaler Umstrukturierung durchlebt hatte, in der selbst sozialdemokratische Positionen völlig an den Rand gedrängt waren. Die gesellschaftlich ohnehin bestehende Polarisierung bekam durch Chávez ein Gesicht, die Unterprivilegierten ein Sprachrohr.
Hugo Chávez Frías stammte selbst aus einfachen Verhältnissen. Geboren am 28. Juli 1954 in Sabaneta im südwestlich gelegenen Bundesstaat Barinas, konnte er dank seiner Militärausbildung studieren. Sein politischer Aufstieg ist eng mit dem Niedergang des paktierten venezolanischen Zweiparteiensystems verknüpft. Nach dem Sturz von Diktator Marco Pérez Jiménez 1958 hatten die christdemokratische Copei und die sozialdemokratische AD im Wechsel regiert. Gegenüber den Militärdiktaturen, die in in den meisten Ländern des Kontinents in den 1960er und 70er Jahren herrschten, stilisierte sich Venezuela als „Musterdemokratie“. Die vermeintliche politische Stabilität basierte auf dem elitären Pakt von Punto Fijo, den die großen Parteien, Unternehmerverbände und die Gewerkschaften 1958 unter Ausschluss der Kommunist_innen und linker Sozialdemokrat_innen eingingen. Dank der Erdöleinnahmen blieb in einem ausgeprägten Klientelsystem auch Geld für die Unter- und Mittelschichten übrig. Als der Ölpreis in den 1980er Jahren fiel, geriet Venezuela wie die übrigen Länder Lateinamerikas in die Schuldenkrise. Die Auswirkungen wälzten die Eliten auf die Unterschichten ab, massenhafte Verarmung war die Folge. Am 27. Februar 1989 kam es in Folge von Fahrpreiserhöhungen zu spontanen Plünderungen, dem so genannten Caracazo. Die erste große Revolte gegen den Neoliberalismus überraschte die politischen und wirtschaftlichen Eliten Venezuelas völlig und gilt als der eigentliche Beginn der bolivarianischen Bewegung.
Bereits 1983 hatte Chávez eine klandestine linke Gruppierung in den Reihen des Militärs gegründet. 1992 scheiterte Hugo Chávez mit einem Putschversuch gegen den damaligen Präsidenten Carlos Andrés Pérez, der die Niederschlagung des Caracazo politisch zu verantworten hatte. Nach seiner Festnahme reichte ihm eine knappe Minute, um ihn augenblicklich im ganzen Land bekannt zu machen. In seiner auf allen Kanälen übertragenen Ansprache übernahm er persönlich die Verantwortung für das Scheitern des Putsches und sagte, die Ziele seien „vorläufig“ nicht erreicht worden. Nach seiner Begnadigung 1994 arbeitete Chávez landesweit am Ausbau einer politischen Massenbewegung und gewann die Wahlen mit 56 Prozent der Stimmen. Er hatte es geschafft, als erster Politiker in Venezuela glaubhaft die Armut und Ausgrenzung der Mehrheit der Bevölkerung auf die politische Agenda zu setzen. Es folgte die Ausarbeitung einer progressiven Verfassung, die Ende 1999 per Referendum angenommen wurde. Diese stärkte die Position des Staatspräsidenten und baute gleichzeitig die Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung aus.
Statt mit verfassungsgemäßen Mitteln Einfluss auf die Politik zu nehmen, sahen Opposition und private Medien ihre Rolle darin, Chávez um jeden Preis wieder aus dem Amt des Staatspräsidenten zu vertreiben. Im April 2002 scheiterten die Chávez-Gegner_innen mit einem kurzzeitigen Putsch. Chávez überstand auch einen zweimonatigen Unternehmer_innenstreik in der Erdölindustrie zum Jahreswechsel 2002/2003 und ein Abwahlreferendum 2004. Die wichtigsten Oppositionsparteien erklärten im Dezember 2005 drei Tage vor den Parlamentswahlen deren Boykott und waren in der Nationalversammlung für die darauf folgenden fünf Jahre nicht mehr vertreten. 2006 wurde Chávez mit 63 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. Erst der Totalausfall der Opposition und die Übernahme der Kontrolle bei dem staatlichen Ölkonzern PDVSA nach der gescheiterten Erdölsabotage, ermöglichte es der bolivarianischen Regierung, umfassend Politik zu machen. Die als misiones bekannten Sozialprogramme, die vor allem im Gesundheits- und Bildungsbereich große Erfolge verzeichnen konnten, begannen erst 2003. Sie bauten die Grundversorgung der Bevölkerung merklich aus. Auch die meisten wirtschaftlichen Indikatoren verbesserten sich seit 2002, die Armutsrate ging deutlich zurück und Venezuela hat heute die niedrigste Ungleichheit in Südamerika. Die Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung wurden ebenfalls rapide ausgeweitet. Seit 2005 entstehen landesweit Kommunale Räte als Bündelung der vielfältigen sozialen, kulturellen und politischen Basisinitiativen. Die Räte entscheiden basisdemokratisch über die Verwendung von staatlichen Geldern und können sich zu einer höheren Ebene, der Comuna , zusammenschließen.
Der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ wird in Venezuela als Schlagwort seit 2005 debattiert, ohne dass daraus bis heute ein konkretes Ziel erwachsen ist. Neben der Verstaatlichung von Schlüsselindustrien experimentierte die Regierung mit der Förderung unterschiedlicher Unternehmensformen wie Kooperativen oder selbst- und mitverwalteten Betrieben. Dreh- und Angelpunkt der Wirtschaft bleibt das Öl. Eine mögliche Abkehr vom extraktivistischen Wirtschaftsmodell, das auf der Förderung von Rohstoffen basiert, ist derzeit schwer vorstellbar. Der offiziell niedrig gehaltene Wechselkurs sorgt dafür, dass die Importe bezahlbar bleiben, die heimische Produktion wird jedoch kaum ausgebaut, da sie auch auf dem Binnenmarkt nicht wettbewerbsfähig ist.
Außenpolitisch hat sich Chávez vor allem für eine stärkere lateinamerikanische Integration, multipolare Weltordnung und die Stärkung der Organisation erdölexportierender Staaten (Opec) eingesetzt. Die antikoloniale und antiimperialistische Außenpolitik trug unter Chávez jedoch auch kritikwürdige Züge. Die realpolitisch motivierte Annäherung an Weißrussland oder Iran ist mit den innenpolitischen Debatten in Venezuela kaum vereinbar, spielte dort aber auch nie eine größere Rolle. In Europa oder USA hingegen reduzierten viele, nicht zuletzt innerhalb der deutschen Linken, Chávez schlicht auf diese außenpolitischen Bündnisse. Dabei wird bei genauerer Betrachtung deutlich, dass Venezuela in den vergangenen Jahren mit den unterschiedlichsten Ländern außerhalb Lateinamerikas rein interessengeleitete Beziehungen eingegangen ist, darunter Russland, China oder Portugal.
Selbstverständlich sind Chávez Verdienste ambivalent. Sein eigenwilliger Politikstil, seine langen Reden und teils aggressive Wortwahl, sein Messianismus und die Nähe zur ärmeren Bevölkerung, all das mag durch eine europäische Brille betrachtet befremdlich erscheinen. In Venezuela jedoch sind dies Gründe dafür, warum Chávez in den letzten 14 Jahren vor seinem Tod fast alle Wahlen und Abstimmungen gewonnen hat. Einzig das Referendum über eine umfangreiche Verfassungsreform konnte die Opposition 2007 knapp für sich entscheiden. Chávez hat keine technokratische Politik für eine Minderheit vertreten, sondern die arme Bevölkerungsmehrheit in den Mittelpunkt gestellt. Entgegen verbreiteten und medial inszenierten Ansichten ist Venezuela unter ihm demokratischer geworden. Beim parallelen Bestehen von Transformationsstrategien von oben und unten, sowie einer teilweise offen undemokratischen Opposition, muss die Demokratie jedoch ständig neu erkämpft werden.
Am 5.März erlag Chávez seiner Krebserkrankung, gegen die er sich mehr als anderthalb Jahre lang zu Wehr gesetzt hatte. Nachdem er erst im vergangenen Oktober wiedergewählt worden war, wird er als unbesiegter Präsident in die Geschichte eingehen. Er hinterlässt ein verändertes Venezuela und einen veränderten Kontinent. Trotz aller bevorstehenden Probleme wird es wahrscheinlich kein Zurück in alte, neoliberale Zeiten geben. Denn die venezolanische Bevölkerung ist auch dank Chávez heute politisierter und organisierter als je zuvor. Die starke Fixierung auf seine Person stellt nun sowohl seine Anhänger_innen als auch die Opposition vor Herausforderungen. Eine kollektive Führung des bolivarianischen Prozesses wurde nie aufgebaut. Chávez war stets ein wichtiger Garant dafür, dass Positionen von unten nach oben durchdringen. Sein Wunschnachfolger Nicolás Maduro verfügt nicht annäherend über Chávez‘ Charisma, wird die Neuwahlen am 14.April aber höchstwahrscheinlich für sich entscheiden. Es ist absehbar, dass die Politik in Venezuela in allen politischen Lagern noch eine ganze Weile um die Person des comandante kreisen wird. Eine Zersplitterung des bolivarianischen Lagers in Gruppierungen und Parteien, die alle etwas anderes unter Chavismus verstehen, ist mittelfristig durchaus möglich. Ebenso könnten sich die neuen, als boliburgues bekannten Eliten den alten Eliten annähern, um radikaldemokratische Ideen zurückzudrängen. Der Chavismus als politische Option wird voraussichtlich lange überdauern. Die Frage ist, in welcher Form.