Nummer 393 - März 2007 | Venezuela

Verarmte Demokratie?

Interview mit Edgardo Lander, Soziologe an der Zentraluniversität in Caracas

Regieren per Dekret und die Bildung einer Einheitspartei sorgten für Diskussionsstoff über den zukünftigen Weg Venezuelas. Aber auch die impulsive Außenpolitik von Hugo Chávez, zunehmende Umweltprobleme und die Korruptionsbekämpfung werden thematisiert. Edgardo Lander, einer der profiliertesten Linksintellektuellen Venezuelas, versucht Antworten zu finden.

Gerhard Dilger

Herr Lander, Venezuelas Präsident Hugo Chávez hat die Gründung einer sozialistischen Einheitspartei angekündigt und will sich unbegrenzt wiederwählen lassen. Wohin steuert Venezuela?

Die nächsten Monate werden entscheidend sein. Ausgehend von der wichtigen Relegitimierung durch den Wahlsieg im Dezember gibt es derzeit eine Offensive von Chávez und seinen Vertrauten, die den Wandel vertiefen und radikalisieren wollen. Viel hängt davon ab, wie die venezolanische Gesellschaft auf diese Vorstöße reagiert und ob eine offene Debatte stattfindet. Die unbegrenzte Wiederwahl oder die Art und Weise, wie die Einheitspartei propagiert wird, ähneln allzusehr dem alten real existierenden Sozialismus. Eine der schönsten Erfahrungen der letzten Jahre war ja gerade, dass es kein falsches strategisches Projekt gab. Da das venezolanische Projekt etwa zeitgleich mit dem Mauerfall und dem Zusammenbruch der Sowjetunion begann, knüpfte es eben nicht an den Sozialismus des 20. Jahrhunderts an.

Sondern?

Es ist offen für Experimente, für Vielfalt, es hat seine Wurzeln in der Geschichte Lateienamerikas, bei Bolívar, im Urchristentum, in den Kämpfen der indigenen Völker. Es ist also heterogen und sehr reichhaltig, etwa in den Organisationen um das Wasser, den Gesundheits- und Bildungskomitees, den Kämpfen der Bauern um das Land. Wenn die Umsetzung der jetzigen Ankündigungen diese Experimente beschneiden oder bremsen sollte, sie in ein Einheitsmodell gepresst würden, wäre das eine außerordentliche Verarmung des demokratischen Prozesses.

Welche Reaktionen gibt es auf Chávez‘ Ankündigungen?

Es gibt bedingungslose, unkritische Reaktionen, Leute, die sich der Debatte verweigern. Aber viele Politiker, Intellektuelle und Sozialaktivisten sagen auch, dass man nicht alles über einen Kamm scheren darf. Abgesehen von der Chávez-Partei „Bewegung der 5. Republik“ (MVR) sind die Organisationen, die sofort ihre Bereitschaft erklärt haben, sich in das neue Projekt einzugliedern, sehr klein. Die drei wichtigsten Gruppen, die Chávez außerhalb der MVR unterstützen, Podemos, PPT und die KP, haben Kongresse angekündigt, auf denen sie die Ankündigungen Chávez diskutieren und Stellung beziehen wollen.

Und werden sie sich wehren können?

Es ist klar, dass sie mit dem Rücken zur Wand stehen. Chávez hat zwar gesagt, diese Organisationen können bestehen bleiben, aber nur außerhalb der Regierung. In der derzeitigen Situation, in der die Regierung der Motor des politischen Prozesses ist, käme das einer Marginalisierung gleich. Es ist sehr viel verlangt, eher seiner Geschichte treu zu bleiben als in der Regierung zu bleiben. Spaltungen sind fast unvermeidlich.

Wie bewerten Sie das neue Kabinett? Umringt sich Chávez noch mehr mit bedingungslosen Gefolgs­leuten?

Im neuen Kabinett hat niemand mehr eine politischen Geschichte vor Chávez, noch gibt es Personen, die ihm etwas entgegensetzen könnten. Das ist schädlich und führt dazu, dass es keine Debatte gibt.

Und im Parlament, wo nach dem Wahlboykott der Oppostion im Dezember 2005 nur Chavistas sitzen?

Es ist schwer zu erklären, warum der Präsident dem Parlament, wo er die Mehrheit bereits hat, die Erlaubnis abverlangt, per Dekret regieren zu dürfen. Im Parlament könnte diese öffentliche Debatte über die Zukunft des Landes stattfinden! Stattdessen läuft sie in kleinen Gruppen über das Internet. Die Polarisierung der Gesellschaft hat viel Unheil angerichtet, denn in den Medien beschränkt man sich sich auf den Streit zwischen Regierung und Opposition. Gehaltvolle Diskussionen sind da sehr schwer zu führen.

Wie beurteilen Sie die Entscheidung, die Lizenz des Fernsehsenders RCTV nicht zu verlängern?

Einerseits halte ich es nicht für zulässig, dass ein wichtiger Teil der Sendefrequenzen über Jahrzehnte hinweg in den Händen privater Monopole liegt, ohne dass man daran etwas ändern dürfte. Lange waren ja auch in Europa Radio und Fernsehen in öffentlicher Hand. Andererseits hat es Venezuela noch nicht verstanden, ein echtes öffentliches Fernsehen zu entwickeln. Das sieht man am wichtigsten Regierungskanal, der wie ein Spiegelbild der Oppositionssender ist, die in ständiger Konfrontation mit der Regierung stehen. Wenn eine Konzession ausläuft, ist es legitim, eine Debatte darüber zu führen, was am angebrachtesten ist. Aber wenn die Entscheidung über etwas, was allen gehört, einfach verkündet wird, erscheint das als Ungerechtigkeit. Das ist kontraproduktiv.

Ebenso wie die Form, in der Chávez öffentlich andere Politiker kritisiert, etwa George W. Bush oder kürzlich den OAS-Generalsekretär José Miguel Insulza?

Ja. Das venezolanische Projekt ist in der Welt immer noch ziemlich einsam, also brauchen wir die größtmögliche Anzahl von Freunden. Wenn man keine Freunde hat, schwächt das den Prozess. Und um Freunde zu gewinnen, muss man vorsichtiger sein. Wenn man alles sagt, was einem gerade einfällt, ist das unverantwortlich. Teile der Regierungen Brasiliens, Chiles oder Uruguays haben sowieso schon eine – vorsichtig gesagt – unbequeme Beziehung zur venezolanischen Regierung.

Steckt hinter solchen Äußerungen System?

Eine absichtsvolle Strategie ist das wohl nicht. Manchmal gibt Chávez zu, er hätte vorsichtiger sein sollen, etwa im Falle Insulzas. Es hängt eher mit seiner Gewohnheit zusammen, einfach zu sagen, was er denkt, ohne dabei an die politischen Folgen zu denken.

Warum verbündet sich Chávez mit solch zweifelhaften Gestalten wie dem iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad?

Das liegt an einer zu einseitigen Sichtweise der Weltpolitik. Weil man die imperiale Politik der USA als die größte Bedrohung sieht, werden Allianzen mit den Feinden der USA geschmiedet. In manchen Situationen mag das durchaus sinnvoll sein, aber die Ziele des iranischen Regimes haben mit jenen Venezuelas ziemlich wenig gemeinsam.

Welches ökonomische Modell schwebt der Regierung vor?

Eine wichtige Dimension ist die staatskapitalistische. Das reicht bis ins Jahr 1975 zurück, als der Erdölsektor verstaatlicht wurde. Ich bin auch damit einverstanden, dass solch ein wichtiger Bereich wie die Telekommunikation sich nicht in den Händen von Multis befinden sollte. Die interne Kommunikation der Regierung darf einfach nicht über die Netze einer US-Firma laufen. Im übrigen waren ja bis vor kurzem öffentliche Dienstleistungen und die öffentliche Kontrolle von strategischen Wirtschaftsbereichen eine Selbstverständlichkeit. Erst wegen der neoliberalen Veränderungen der letzten Jahrzehnte erscheint es als natürlich, dass alles in privaten Händen ist und dass es als autoritärer Etatismus erscheint, wenn sie in staatlicher Hand sind. Der Neoliberalismus hat eine wichtige ideologische Verschiebung in den Köpfen bewirkt: Selbst sozialdemokratische Vorstellungen erscheinen aus dieser Perpektive als radikal.

Chávez wettert immer wieder gegen Korruption und Bürokratie. Gibt es Erfolge im Kampf gegen die Korruption?

Das ist einer der größten Schwachpunkte. Nach der Demontierung des Staates befindet sich Venezuela in einem Übergang von einer Form der öffentlichen Verwaltung zu einer anderen. Es gibt kaum Kontrollmechanismen. An der Basis gibt es eine gewisse Kontrolle, aber auf dem Weg vom nationalen Haushalt bis zu den Gemeinschaften fehlt sie fast völlig.

Müsste ein moderner Sozialismus nicht das umweltzerstörerische Entwicklungsmodell des 20. Jahrhunderts überwinden?

Unser innerer Widerspruch ist das Erdöl. Alles, was in Venezuela in den letzten Jahren passiert ist – die Sozialprogramme, die öffentlichen Ausgaben für Bildung und Gesundheit, die internationale Politik – hängt an den Erdöleinkünften. Es gibt eine sehr starke Spannung zwischen dieser Tatsache und der Gewissheit, dass für eine zivilisatorische Veränderung, andere Konsumgewohnheiten und eine andere Ener­giepolitik nötig sind. Unser Lebensstil ist nicht nachhaltig, wir rasen auf die Katastrophe zu.

Wie reagiert man in Venezuela darauf?

Leider hat die politische und geopolitische Dimension die Oberhand behalten. Die andere Dimension taucht in Reden und einzelnen Maßnahmen auf, etwa in der Amazonienpolitik oder der „Energie-Mission“, wo die Verwendung sparsamer Glühbirnen propagiert wird. Es gibt große Investitionen in öffentliche Verkehrssysteme, um den Autoverkehr zurückzudrängen, aber gleichzeitig Anreize für den Autokauf. Das Benzin ist fast umsonst, ein Liter kostet immer noch 5 US-Cent. Hinzu kommt die Trägheit einer erdölabhängigen Wirtschaft: 80 Prozent unserer Exporte sind Erdöl. Fast die Hälfte der Staatseinnahmen stammt vom Erdöl.

Befindet sich Venezuela unwiderruflich auf dem Holzpfad?

Nein, das ist noch nicht entschieden. Es gibt Tendenzen, die in verschiedene Richtungen weisen. Wir haben heute ein solch breites Spektrum sozialer Organisation, dass es sehr schwer sein wird, Einheitsmodelle durchzusetzen. Überall gibt es sehr politisierte Basisorganisationen. Das ist der Ort der Demokratie, des Widerstandes gegen vertikale Kontrollmechanismen.

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