Aktuell | Kollektive | Nummer 594 - Dezember 2023

„Anmeldung für Alle!“

Über die Initiative Ciudad Migrante und ihre wohnungspolitische Kampagne in Berlin

Derzeit erleben viele Städte der Welt eine Wohnungskrise, wie man sie noch nie zuvor gesehen hat. In Deutschland fehlt es laut einer Studie der Social Housing Alliance an 700.000 Wohnungen. Das Problem trifft vor allem die Ballungsräume großer Städte, in denen auch die Mehrheit geflüchteter und migrantischer Menschen lebt. So auch Mitglieder der Initiative Ciudad Migrante in Berlin, die in diesem Text von ihrer aktuellen Arbeit berichten.

Von Laura Gallo Tapias & Jasón Bustos (Übersetzung: Susanne Brust)

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“Wohnen ist ein Recht, keine Ware” Ciudad Migrante auf einer Demo in Berlin-Kreuzberg (Foto: Ian Clotworthy / @ianshotworthy)

Der Anstieg und die Spekulation mit Mieten, die Inflation und die Gentrifizierung bestimmter Stadtteile haben für die Berliner*innen in den vergangenen Jahren ein alarmierendes Ausmaß erreicht. Die Folgen bekommen Menschen aus dem Ausland am stärksten zu spüren. Denn Migrant*innen und vor allem wir, die wir aus dem Globalen Süden kommen, finden uns beim Zugang zu Wohnraum in einer besonders nachteiligen Ausgangssituation wieder: Dazu gehören nicht nur die Sprachbarrieren, das Unwissen über die Bürokratie, die prekarisierten Arbeitsbedingungen und die fehlenden Unterstützungsnetzwerke. Wenn es darum geht, eine Wohnung zu finden, erleben wir systematische Ausgrenzung und Diskriminierung.
Aus dieser schwierigen rechtlichen Arbeits- und emotionalen Situation heraus haben sich Mitglieder des Bloque Latinoamericano im April 2022 zusammengeschlossen, um über das Recht auf Wohnraum zu sprechen. Zuerst fanden offene Workshops statt, zu denen Dutzende Menschen kamen, um ihre Geschichten zu erzählen und gemeinsame Lösungen zu diskutieren. Als wir diese Erfahrungen in einem systematischen Zusammenhang betrachteten, wurde uns klar, dass es mehr braucht als ein kollektives Zuhören: Wie können wir die Wohnungssituation der migrantischen Gemeinschaft konkret verbessern?
So haben lateinamerikanische und spanisch-muttersprachliche Migrant*innen Anfang 2023 den offenen Raum Ciudad Migrante geschaffen. Er ist das Ergebnis eines mühsamen kollektiven Prozesses und entstand aus der Überzeugung, dass wir Migrant*innen in Berlin durch Solidarität und politische Teilhabe ein Gefühl der Zugehörigkeit erzeugen können. Unsere Arbeit folgt zwei zentralen Prinzipien: dem Kampf für gleichen Zugang zu Wohnraum und dem Recht auf Stadt.

Zuallererst begreifen wir den Zugang zu Wohnraum als Grundbedürfnis für ein Leben in Würde. Deshalb treiben wir Antidiskriminierungs- und Inklusionspraktiken voran. Dazu gehört auch, Migrant*innen auf Wohnungssuche mit Informationstools auszustatten. Im September dieses Jahres haben wir dafür das Guía migrante de supervivencia urbana („Migrantisches Handbuch für das Überleben in der Stadt“) mit dem Untertitel „Werkzeuge für den Wohnungsmarkt und die Berliner Bürokratie“ herausgebracht. Darin stellen wir Verfahren vor, mit denen man ein Zimmer finden kann; erklären Charakteristiken, Rechte und Pflichten unterschiedlicher Mietverträge und gehen darauf ein, auf welche üblichen Betrugsmaschen man achten muss. Wir thematisieren auch mögliche Angebote bei Erfahrungen sexualisierter Gewalt im eigenen Wohnraum und geben weitere unerlässliche Informationen, die nicht immer offensichtlich sind, wenn man in eine unbekannte Stadt kommt.

Das Recht auf Stadt bezieht sich auf das Recht der Bewohner*innen, die Stadt aufzubauen, über sie zu entscheiden und sie zu gestalten. Dabei werden die Bedürfnisse der Gemeinschaft über marktwirtschaftliche Interessen gestellt. Unsere beiden Prinzipien machen Ciudad Migrante zu einer antikapitalistischen Gruppe, die sich auf die politische Aktion konzentriert. Damit wollen wir jenen Menschen, deren unmittelbare Situation sie in die Entpolitisierung zwingt, den Zugang zu Wohnraum und die gesellschaftliche Entwicklung erleichtern. Statt nur individuelle Lösungen anzubieten, geht es darum, strukturellen Wandel herbeizuführen und die Lebensrealitäten von Migrant*innen sichtbar zu machen. Dabei adressieren wir auch die deutsche Gemeinschaft und wirken politisch auf die Entscheidungen ein, die das Leben aller Menschen in Berlin betreffen. Zu den materiellen und psychologischen Hürden kommt für Migrant*innen vor allem eine Reihe bürokratischer Mechanismen, die den Zugang zu grundlegenden Diensten und Mitteln rund um das Thema Wohnen erschweren. Besonders schwierig: die Anmeldung. Nachdem wir über diese bürokratische Formalität gesprochen und mit verschiedenen Werkzeugen der kritischen Kartografie gearbeitet haben, hat sich die Anmeldung zum zentralen Thema unserer politischen Arbeit entwickelt. Diese offizielle Registrierung spielt bei der Legalisierung und Einrichtung des privaten Lebens in Deutschland eine Schlüsselrolle. In der Theorie ist sie ein progressives Werkzeug für die Bevölkerungszählung, Behördenkommunikation und den Zugang zu Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsdiensten. Im Kontext der Wohnungskrise in Berlin führt die strikt erforderliche, aber selten zu findende Anmeldung jedoch zum grundlegenden Ausschluss migrantischer Leben. Ohne Anmeldung gibt es keinen Zugang zu Gesundheitsdiensten, zu legaler Beschäftigung oder zu Finanzdiensten. Man braucht sie, um eine Krankenversicherung abzuschließen, eine Steuernummer anzufordern, ein Bankkonto zu eröffnen, einen Arbeitsvertrag zu unterschreiben und für viele weitere wichtige Aspekte und Rechte des urbanen Lebens.

Die Möglichkeit, an den Staat und die politischen Parteien zu appellieren, ist ein wichtiger Aspekt der Arbeit von Ciudad Migrante. Deshalb sind wir mit klaren politischen Forderungen auch auf den Straßen präsent: Wir fordern von den zuständigen Institutionen konkrete Lösungen für die verschiedenen Arten der Prekarisierung migran- tischen Lebens. Um gegen die bürokratischen Hindernisse anzukämpfen, startet Ciudad Migrante Ende dieses Jahres die Kampagne „Anmeldung für alle!“. Zu unseren Vorschlägen gehört die Einrichtung einer universellen Postadresse, an der man sich unabhängig vom eigentlichen Wohnort anmelden kann; die Abschaffung der Wohnungsgeberbestätigung und die Entkriminalisierung von Scheinanmeldungen. Um diese Ziele zu erreichen, zu denen auch die Modifizierung des gültigen Meldegesetzes gehören könnte, ist die Zusammenarbeit mit anderen Mieter*innenbewegungen in Berlin und der parlamentarischen Linken ungemein wichtig. Deshalb laden wir alle Einzelpersonen und Initiativen ein, sich dem Kampf gegen die Bürokratisierung und Kommerzialisierung von Wohnraum anzuschließen: Für das Recht auf eine migrantische Stadt!

CIUDAD MIGRANTE

Das im Text erwähnte Handbuch zum Download gibt es hier.

Kontakt zu Ciudad Migrante und mehr Infos: ciudadmigrante@riseup.net (Mail) oder ciudad.migrante (Instagram)

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