Bäume für die Zukunft
Der Überlebenskampf der Asháninka im peruanischen Amazonasgebiet
Marcos Luna ist stolz auf seine Mahagonibäume. Die zarten Pflanzen, von denen er kürzlich ein halbes Dutzend gesetzt hat, reichen ihm gerade bis zur Brust, aber sie sollen einmal zu richtigen Tropenriesen heranwachsen. „Damit hinterlasse ich etwas für meine Söhne und meine Enkel. Sie können das Holz verkaufen oder sich daraus Möbel bauen. Es sind Bäume für unsere Zukunft!“ Marcos ist 21 Jahre alt, Vater einer kleinen Tochter und lebt in Milagro, einer 30 Familien starken Gemeinde der Asháninka im peruanischen Amazonasgebiet. Marcos weiß nicht, wie teuer Mahagoni wirklich ist: Während in Deutschland das Holz eines ausgewachsenen Baumes etwa 10.000 Euro kostet, bekäme er in Milagro nicht einmal den hundertsten Teil davon.
Die peruanische Amazonasregion wird bis heute von den Einheimischen selva, also Wald, genannt. Dabei verdient die Gegend um Milagro diese Bezeichnung längst nicht mehr. Wer aus Lima mit dem Auto dorthin reist, muss sich zwar über einen 4.800 Meter hohen Andenpass winden, kann aber bequem in sechs Stunden auf einer asphaltierten Piste die Provinzhauptstadt Satipo erreichen, die nur 30 Kilometer von Milagro entfernt liegt. Und wo es im Amazonasgebiet Straßen gibt, da ist kein Wald mehr. Längs der Asphaltpiste erstrecken sich auf den letzten hundert Kilometern vor Satipo nur noch Kaffeeplantagen, Bananenstauden, Orangen- oder Zitronenhaine. Vor wenigen Jahrzehnten, so erzählt Don Rafael, selbst Besitzer von Zitrusplantagen in Satipo, stand hier noch dichter Urwald. Heute sind dessen spärliche Reste höchstens auf Berghängen zu besichtigen.
Der Lebensraum der Asháninka ist rund um Satipo zerstört. Zuerst kamen die Holzfirmen. Die bauten Straßen und Wege, auf denen schon bald SiedlerInnen aus dem peruanischen Hochland eintrafen. Milagro mutierte zu einer Asháninka-Enklave inmitten von Siedlerkolonien. Fast alle heimischen Tiere wurden durch Brandrodung vertrieben. Ab und zu, berichtet Marcos, kann er auf der Jagd noch Affen erwischen. Deren Fleisch findet er besonders schmackhaft. Hinter den wenigen Wildschweinen, die es noch gibt, sind auch die SiedlerInnen her. Selbst aus dem Río Satipo, an dem Milagro liegt, ist kaum etwas herauszuholen. Denn die SiedlerInnen töten die Fische mit Dynamit. „Früher aßen wir täglich Fleisch,“ erinnert sich Jorge Díaz, der ehemalige Dorfchef von Milagro, an seine Kindheit. Heute sind Fisch oder Fleisch Luxusgüter, die nur noch alle zwei Wochen auf den Tisch kommen.
Milagro besteht aus etwa dreißig Hütten und einem Fußballplatz. Die Hütten sind aus Zuckerrohrstangen oder Brettern gebaut, ihre Dächer aus Palmblättern oder Wellblech. An einer Bretterwand lädt ein Plakat zum Tanz im Nachbardorf: Amerik und seine sexy Tänzerinnen treten auf. Das Häuschen, das Jorge mit seiner sechsköpfigen Familie bewohnt, ist relativ geräumig. Während ein tropischer Regenschauer auf das Dach prasselt, serviert seine Frau das Frühstück: Maniok, Bananen, Reis, ein Spiegelei und eine Tasse wässerigen Kaffee. Zum Mittagessen oder Abendbrot gibt es das gleiche, vielleicht noch einen Schlag Bohnen dazu. Die Gelegenheit mit Jorge zu plaudern ist günstig. Denn draußen steht alles unter Wasser, und Jorge kann an diesem Tag nicht auf sein Feld gehen. Dort baut er neben den Grundnahrungsmitteln auch ein paar Produkte für den Markt an. Die Preise dafür sind schlecht: Ein Kilo Kaffee oder Kakao verkauft Jorge im Nachbardorf für etwa 0,70 Euro, die gleiche Menge Bananen für 0,05 Euro, 10 Kilo Orangen für 0,50 Euro. Das reicht vorne und hinten nicht.
Vor allem Arzneimittel oder gar eine Behandlung in der Klinik von Satipo sind teuer. Während die DorfbewohnerInnen Malaria noch mit Heilkräutern behandeln können, sind sie bei Tuberkulose, Amöbenruhr oder den diversen Folgekrankheiten der Mangelernährung machtlos. An Durchfallerkrankungen gewöhnen sich die DorfbewohnerInnen von Kindesbeinen an: Das Trinkwasser aus dem Río Satipo ist eigentlich nicht für den Konsum geeignet. Unter solchen Bedingungen zählt Jorge mit seinen 41 Jahren schon zu den Dorfältesten. Über 45 Jahre alt wird hier so gut wie niemand.
Versteck in den Bäumen
Die BewohnerInnen von Milagro kultivieren eine Fläche von etwa 100 Hektar Land. Ein Gemeinderat, in den jede Familie eine(n) Vertreter(in) entsendet, sorgt dafür, dass diese Anbaufläche gerecht unter den EinwohnerInnen verteilt wird. „Unsere Großeltern besaßen viel mehr Land,“ klagt Jorge. „Aber die Siedler vertrieben uns und errichteten Kaffeeplantagen.“ Die Asháninkas, die den Wert ihrer Ländereien nicht kannten, hatten keine Chance im Streit mit den SiedlerInnen oder der Justiz. Auch die Guerrilleros und Guerilleras des Leuchtenden Pfades, die Ende der achtziger Jahre in Milagro auftauchten, standen den DorfbewohnerInnen nicht bei. „Die erklärten uns: ihr müsst euch organisieren, um den Staat zu zerstören und das Land zu entwickeln!“ erinnert sich Jorge. Aber wer seine Rekrutierung zum Volkskrieg verweigerte, den die Maoisten damals ausgerufen hatten, der wurde bedroht oder umgebracht. Die EinwohnerInnen von Milagro wehrten sich mit Macheten und Knüppeln, mit Pfeil und Bogen. Fast 4000 Asháninkas, acht Prozent ihrer Gesamtbevölkerung, starben im peruanischen Bürgerkrieg, weil sie im strategischen Rückzugsgebiet des Leuchtenden Pfads lebten. „In Milagro hatten wir zum Glück keine Toten. Dafür mussten wir uns drei Monate unten am Fluss in den Bäumen verstecken“, ergänzt Héctor, ein Vetter von Jorge, und kann seine Tränen nur mühsam unterdrücken.
Schule auf Spanisch
Die EinwohnerInnen Milagros haben sich trotz allem ihre Fröhlichkeit bewahrt. Auf Dorffesten trinken sie ihren selbst gebrauten Maniokschnaps Masato, spielen auf selbst gebauten Trommeln und Flöten, singen und tanzen zu selbst komponierter Musik. Hectors fünfjährige Tochter Elsbet ist so etwas wie die Tanzkönigin im Dorf. Zusammen mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester stiehlt sie auf Feiern allen die Schau. Demnächst muss Elsbet zur Schule ins Nachbardorf. Dort wird sie es schwerer haben als auf dem Tanzboden, denn sie spricht bislang kaum ein Wort Spanisch. Weder die Sprache, noch die Traditionen und die Kultur der Asháninkas werden in der Schule respektiert. Dennoch kommen die Kinder um die Schule nicht herum, wenn sie sich im späteren Leben behaupten wollen. Sonst werden sie es eines Tages so schwer haben wie ihr heutiger Dorfchef. Der trägt zwar ein T-Shirt mit dem Kopf von Marylin Manson, kann sich aber mangels Sprachkenntnissen nicht einmal mit den BewohnerInnen der Nachbardörfer unterhalten.
Schlimmer als in der Vergangenheit, so sehen es Jorge und Hector, kann es in der Zukunft nicht werden. Die Gemeinde ist entschlossen zusammenzubleiben und ihre Traditionen weiter zu pflegen. Die Nichtregierungsorganisation PROCAM, die unter anderem von der WHH finanziert wird, versucht dabei zu helfen. Sie hat die Asháninkas überzeugt, wieder vom Anbau von Monokulturen abzukommen, den sie von den benachbarten SiedlerInnen kopiert hatten. Wie Marcos pflanzen die meisten Familien heute sogar wieder Bäume an. Aber ihr Anbaugebiet ist einfach zu klein. Andere Asháninka-Gemeinden, die tiefer im Amazonasgebiet leben, haben es da besser. Bei denen steht der Regenwald noch, doch die Holzfirmen sind schon unterwegs. Von dort kommt sonntags manchmal eine Fußballauswahl nach Milagro, um sich mit der örtlichen Elf zu messen. Bei der Gelegenheit können sich die Gäste über das informieren, was ihnen vermutlich noch bevorsteht. Auch PROCAM berät und unterstützt einige dieser Gemeinden im Kampf um ihre Rechte.