Migration | Nummer 251 - Mai 1995

“Bereichernde Metamorphose”

Marianne Frenk-Westheim über das Leben in zwei Kulturen

Übersetzung: Bettina Bremme

Vor vielen Jahren unter­hielt ich mich in meiner Geburtsstadt Hamburg mit einem Herrn aus Lis­sabon auf Portugiesisch. Ein Verwand­ter sagte mir später, ihn habe sehr der Wandel be­eindruckt, der sich während dieser Minuten bei mir vollzogen habe: In meiner Stimme, meiner Art, die Hände zu bewegen und meinem Gesichtsausdruck.
Seitdem habe ich dann und wann über diese Be­obachtung nachgedacht. Wenn es stimmt, daß in dem Moment, wo eine Person in einer fremden Sprache redet, sich ein sichtbarer Wandel in Ge­stik und Mimik vollzieht: Können wir dann nicht auch anneh­men, daß sich in einem Schriftsteller, der sein Werk in einer Sprache ver­faßt, die nicht die Mutter­sprache ist, eine tiefge­hende seelische und geistige Veränderung vollzieht? Oder, um das glei­che von einem anderen Gesichtspunkt zu betrach­ten: Ist, um in ei­ner anderen Sprache schrei­ben zu können, nicht eine grundlegende Än­derung des Charakters notwendig?
Gut, ich glaube nicht an die Möglichkeit einer radi­kalen Veränderung der Per­sönlichkeit. Wie sollte es möglich sein, die Eindrücke der ersten Stunden, Wochen, Jahre unseres Lebens aus­zulöschen, die für die For­mung unseres Charakters so entscheidend sind! Der Pole Josef Conrad, Schöpfer von Meisterwerken in einer “ausländischen” Sprache, kam in den englischen Sprach­raum, als er schon erwachsen war, mit 21 Jahren. Wieviele Erfahrungen häuft ein Mensch im Laufe von 21 Lebens­jahren an, die schon zu entscheidenden Bestandteilen seiner Persönlich­keit ge­worden sind!
Wir sind uns bewußt, daß die Sprache Produkt und Produzentin, Geschöpf und Schöpferin eines ganzen kulturellen Universums ist. Um uns ihrer auf litera­rische Weise in einer frem­den Sprache zu bedienen, muß sie aufhören, dies zu sein. Das be­deutet, daß wir uns einem langen und schwierigen Prozeß des Lernens und der Anpassung unterzie­hen müs­sen. Ich frage mich: Was für eine Art von Leuten sind wir, daß wir uns gegen Wind und Ge­zeiten in ein Aben­teuer von solcher Größe stür­zen? Und warum tun wir dies? Jetzt antwortet mir aber nicht: “Naja, aus Notwendigkeit oder Bequem­lichkeit.” – Klar, bis zu einem gewissen Punkt hättet ihr recht. Beispielsweise, wenn es sich um Schriftsteller handelt, die aus Ländern stammen, deren Sprache wenig bekannt ist. Oder bei Umständen wie in meinem Fall, der ähnlich für viele gilt.
Ich begann, in die Sprache Mexikos zu überset­zen, des Landes, in das ich emigriert war, weil mein erstes Vaterland in die lange Nacht des Dritten Reiches getaucht war, und ich als Jüdin nicht die geringste Möglichkeit hatte, auf deutsch zu pu­blizieren. Und auch wenn es diese gegeben hätte, hätte ich es um nichts in der Welt getan. Aber jen­seits aller praktischen und materiellen Gründe gab und gibt es für uns noch etwas sehr viel Tieferge­hendes.
Ich glaube, daß die menschlichen Wesen mit vie­len Begabungen, Berufungen und Talenten ge­boren werden, mit der Möglichkeit, ver­schiedene sehr unterschied­liche Persönlichkeiten im großen Welttheater zu ver­körpern.
Das Leben zwingt uns al­lerdings, eine davon auszu­suchen. Du bist Maler und glücklich, einer zu sein. Aber du hättest auch Tänzer oder Dichter sein wollen oder werden können. Aus je­nem ge­nialen Physiker hätte vielleicht ein virtuoser Gei­ger werden können, wenn er sich für diesen Weg ent­schieden hätte.
Im Grunde sind wir alle, Frauen und Männer, frus­trierte Wesen. Wesen mit einer Wunde, klein oder furchtbar tief, die nie vernarbt. Als schmerzlin­derndes Mittel degradieren einige das zum Hobby, was vielleicht ihre vollkommene Selbstverwirklichung hätte werden können. Beim Schrei­ben in einer anderen Spra­che, beim Leben in einer anderen Kultur, verwirk­lichen wir eine der viel­fältigen Lebensmöglichkei­ten, die uns un­sere Schick­salspatin sanft und groß­zügig in die Wiege gelegt hat.
Zusammengefaßt: Wir, die wir in einer Sprache schreiben, die nicht die­jenige ist, in der wir als Baby unseren ersten Satz plapperten, erleben des­halb eine Metamorphose. Man kann uns keine Ab­sage an unsere ursprüngliche Kultur vor­werfen, keine Untreue, und erst recht keinen Verrat. Im Inneren bleibt der unaus­löschliche Kern unseres Seins, Teil unserer Mutter­sprache und der Kultur, in deren Schoß wir aufwuchsen. Aber dieser Kul­tur haben wir eine andere hinzugefügt.
Welch’ wundervolle Berei­cherung unserer Persön­lichkeit, welch’ immense Erweiterung un­seres Horizontes!
gekürzt aus “La Jornada”, 23.5.1993

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren