“Bereichernde Metamorphose”
Marianne Frenk-Westheim über das Leben in zwei Kulturen
Vor vielen Jahren unterhielt ich mich in meiner Geburtsstadt Hamburg mit einem Herrn aus Lissabon auf Portugiesisch. Ein Verwandter sagte mir später, ihn habe sehr der Wandel beeindruckt, der sich während dieser Minuten bei mir vollzogen habe: In meiner Stimme, meiner Art, die Hände zu bewegen und meinem Gesichtsausdruck.
Seitdem habe ich dann und wann über diese Beobachtung nachgedacht. Wenn es stimmt, daß in dem Moment, wo eine Person in einer fremden Sprache redet, sich ein sichtbarer Wandel in Gestik und Mimik vollzieht: Können wir dann nicht auch annehmen, daß sich in einem Schriftsteller, der sein Werk in einer Sprache verfaßt, die nicht die Muttersprache ist, eine tiefgehende seelische und geistige Veränderung vollzieht? Oder, um das gleiche von einem anderen Gesichtspunkt zu betrachten: Ist, um in einer anderen Sprache schreiben zu können, nicht eine grundlegende Änderung des Charakters notwendig?
Gut, ich glaube nicht an die Möglichkeit einer radikalen Veränderung der Persönlichkeit. Wie sollte es möglich sein, die Eindrücke der ersten Stunden, Wochen, Jahre unseres Lebens auszulöschen, die für die Formung unseres Charakters so entscheidend sind! Der Pole Josef Conrad, Schöpfer von Meisterwerken in einer “ausländischen” Sprache, kam in den englischen Sprachraum, als er schon erwachsen war, mit 21 Jahren. Wieviele Erfahrungen häuft ein Mensch im Laufe von 21 Lebensjahren an, die schon zu entscheidenden Bestandteilen seiner Persönlichkeit geworden sind!
Wir sind uns bewußt, daß die Sprache Produkt und Produzentin, Geschöpf und Schöpferin eines ganzen kulturellen Universums ist. Um uns ihrer auf literarische Weise in einer fremden Sprache zu bedienen, muß sie aufhören, dies zu sein. Das bedeutet, daß wir uns einem langen und schwierigen Prozeß des Lernens und der Anpassung unterziehen müssen. Ich frage mich: Was für eine Art von Leuten sind wir, daß wir uns gegen Wind und Gezeiten in ein Abenteuer von solcher Größe stürzen? Und warum tun wir dies? Jetzt antwortet mir aber nicht: “Naja, aus Notwendigkeit oder Bequemlichkeit.” – Klar, bis zu einem gewissen Punkt hättet ihr recht. Beispielsweise, wenn es sich um Schriftsteller handelt, die aus Ländern stammen, deren Sprache wenig bekannt ist. Oder bei Umständen wie in meinem Fall, der ähnlich für viele gilt.
Ich begann, in die Sprache Mexikos zu übersetzen, des Landes, in das ich emigriert war, weil mein erstes Vaterland in die lange Nacht des Dritten Reiches getaucht war, und ich als Jüdin nicht die geringste Möglichkeit hatte, auf deutsch zu publizieren. Und auch wenn es diese gegeben hätte, hätte ich es um nichts in der Welt getan. Aber jenseits aller praktischen und materiellen Gründe gab und gibt es für uns noch etwas sehr viel Tiefergehendes.
Ich glaube, daß die menschlichen Wesen mit vielen Begabungen, Berufungen und Talenten geboren werden, mit der Möglichkeit, verschiedene sehr unterschiedliche Persönlichkeiten im großen Welttheater zu verkörpern.
Das Leben zwingt uns allerdings, eine davon auszusuchen. Du bist Maler und glücklich, einer zu sein. Aber du hättest auch Tänzer oder Dichter sein wollen oder werden können. Aus jenem genialen Physiker hätte vielleicht ein virtuoser Geiger werden können, wenn er sich für diesen Weg entschieden hätte.
Im Grunde sind wir alle, Frauen und Männer, frustrierte Wesen. Wesen mit einer Wunde, klein oder furchtbar tief, die nie vernarbt. Als schmerzlinderndes Mittel degradieren einige das zum Hobby, was vielleicht ihre vollkommene Selbstverwirklichung hätte werden können. Beim Schreiben in einer anderen Sprache, beim Leben in einer anderen Kultur, verwirklichen wir eine der vielfältigen Lebensmöglichkeiten, die uns unsere Schicksalspatin sanft und großzügig in die Wiege gelegt hat.
Zusammengefaßt: Wir, die wir in einer Sprache schreiben, die nicht diejenige ist, in der wir als Baby unseren ersten Satz plapperten, erleben deshalb eine Metamorphose. Man kann uns keine Absage an unsere ursprüngliche Kultur vorwerfen, keine Untreue, und erst recht keinen Verrat. Im Inneren bleibt der unauslöschliche Kern unseres Seins, Teil unserer Muttersprache und der Kultur, in deren Schoß wir aufwuchsen. Aber dieser Kultur haben wir eine andere hinzugefügt.
Welch’ wundervolle Bereicherung unserer Persönlichkeit, welch’ immense Erweiterung unseres Horizontes!
gekürzt aus “La Jornada”, 23.5.1993