Migration | Nummer 426 - Dezember 2009

Permanent temporär

Lateinamerikanische ArbeitsmigrantInnen in Kanada

Die Zahl lateinamerikanischer ArbeitsmigrantInnen in Kanada ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Während ihre Arbeitskraft für unattraktive Arbeiten gerne genommen wird, verwehren Staat und Unternehmen ihnen langfristige Aufenthaltstitel und grundlegende Arbeitsrechte. Doch inzwischen wehren sich die MigrantInnen mit wachsendem Erfolg.

Antonia Blau

Albert verdreht die Augen. Wieder hat die Polizei von Ontario in der Nacht Razzien auf Farmen in der Nähe von Toronto durchgeführt, bei denen illegale mexikanische Arbeiter festgenommen wurden, die nun in Abschiebehaft sitzen. Nachdem er einige Telefonate auf Englisch und Spanisch geführt hat, haut er wütend mit seiner großen Hand auf den Tisch. „Natürlich interessiert es wieder keinen, wie die Mexikaner überhaupt in diese Lage geraten konnten und welche Rolle der kanadische Arbeitgeber und der Staat in dem ganzen Schlamassel spielen!“
Albert selbst kam vor 25 Jahren als Student aus El Salvador nach Toronto, in das er wegen des dort herrschenden blutigen Bürgerkriegs nicht mehr zurückkehren konnte. Er stellte einen Asylantrag in Kanada und blieb. Trotz der langen Winter und der Verschlossenheit der Bevölkerung ist Toronto heute für Albert ein Zuhause geworden, die Stadt, in der mehr als 50 Prozent ihrer BewohnerInnen an anderen Orten der Welt geboren wurden. Sicher auch, weil er sich seit seiner Ankunft für die Rechte anderer lateinamerikanischer ImmigrantInnen einsetzt. Zunächst als Freiwilliger, wurde Albert schnell hauptberuflich im Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung tätig und organisiert heute gezielt Kampagnen einer der größten kanadischen Gewerkschaften, um ArbeitsmigrantInnen zu rekrutieren. Etwas mehr grau um die Schläfen, scheint er kein bisschen weniger wütend als vor 20 Jahren, wenn er erklärt: „Die kanadische Regierung hat lange versäumt, auf die problematische Situation der temporären Arbeitsmigranten zu reagieren, die ohne ausreichenden Schutz in große Abhängigkeit von ihrem Arbeitgeber gezwungen werden.“
Seit der Unterzeichnung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA), das 1994 in Kraft trat, vervielfachte sich nicht nur der grenzüberschreitende Verkehr von Waren und Kapital zwischen Mexiko, Kanada und den USA. Auch die Migrationsströme stiegen an, obwohl dies nicht vorgesehen war. Ursprünglich war gerade deren Begrenzung ein zentrales Anliegen der BefürworterInnen von NAFTA gewesen. Die Realität sieht jedoch anders aus: Während die Emigration aus Mexiko von 1980 bis 1994 um 95 Prozent anstieg, spricht die Le Monde Diplomatique für den Zeitraum von 1994 bis 2006 von 452 Prozent. Gründe dafür liegen unter anderem in der katastrophalen Situation der mexikanischen Landwirtschaft, die viele zur Emigration Richtung Norden zwingt, um ihre Familien versorgen zu können. Als Anfang 2008 die letzten Zollbarrieren für landwirtschaftliche Produkte zwischen Kanada, den USA und Mexiko fielen, wurden Mais, Bohnen, Zucker und Milchpulver – grundlegende mexikanische Nahrungsmittel – bei ihrer Einfuhr nicht mehr besteuert (siehe LN 404). Die Auswirkungen auf die mexikanischen Bauern und Bäuerinnen sind vorstellbar. Während das Freihandelsabkommen den grenzüberschreitenden Verkehr von Waren und Kapital erleichtert, wird die Bewegungsfreiheit der zur Migration gezwungenen ArbeiterInnen erschwert. Sich verschärfende Einkommensunterschiede und untergrabene Arbeitsrechte in den drei NAFTA-Ländern sind weitere Auswirkungen.
Wenn Albert über seine Arbeit spricht, erklärt er konzentriert und geduldig die Zusammenhänge. Die lateinamerikanischen, größtenteils mexikanischen ArbeitsmigrantInnen, kommen im Rahmen des staatlichen Programms für saisonale Arbeitskräfte in der Landwirtschaft (SAWP) nach Kanada. Dieses regelt den Bedarf, die Rekrutierung und den Aufenthalt landwirtschaftlicher ArbeiterInnen, garantiert den MigrantInnen jedoch keine Arbeitsrechte und zwingt sie stattdessen in abhängige, menschen- und arbeitsrechtlich bedenkliche Situationen. Im letzten Jahr kamen laut Immigrationsministerium über 250.000 temporäre ArbeitsmigrantInnen nach Kanada, um in der Landwirtschaft, Fleischindustrie oder als Putz- und Pflegekräfte zu arbeiten. Tätigkeiten, die die meisten KanadierInnen für den gezahlten Lohn nicht annehmen würden. Erstmals überstieg die Zahl temporärer ArbeitsmigrantInnen damit diejenige der ImmigrantInnen, die sich permanent in Kanada niederlassen.
Das Ziel der staatlichen Programme ist, die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit kanadischer Landwirte zu garantieren. Das Wohl der ArbeitsmigrantInnen spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Gesundheitsrisiken wie Pestizide, Hitze, Verletzungen durch falsche Bewegungen oder inakkurate Benutzung von Maschinen sowie die bei ErntehelferInnen auftretenden Grüne Tabakkrankheit gefährden ArbeitsmigrantInnen in der Landwirtschaft. Kranke werden jedoch nach Mexiko zurückgeschickt, anstatt in Kanada behandelt zu werden. Darüber hinaus zahlen die temporären ArbeitsmigrantInnen Steuern, konsumieren kanadische Produkte und sind Teil der Gesellschaft, ohne dass sie die Möglichkeit haben, Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen zu bekommen. Kanada gestaltet seine Immigrationspolitik geschickt so, dass gering qualifizierte ArbeiterInnen zwar harte und unattraktive Arbeit in Kanada ausführen können, jedoch nie die Möglichkeit einer Aufenthaltserlaubnis bekommen oder ihre Familie nachholen zu können.
Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise wirkt sich zusätzlich negativ auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der MigrantInnen am unteren Ende der Versorgungskette aus. Die Zahl temporärer ArbeitsmigrantInnen reißt jedoch nicht ab. Sie werden viel mehr für noch geringeren Lohn arbeiten und weiterhin Wege finden, nach Kanada zu gelangen, auf legalem oder illegalem Weg.
Albert meint daher, die Zivilgesellschaft – Gewerkschaften, NGOs und Vereine – spiele eine zunehmend wichtige Rolle, um sich für die Rechte der saisonalen ArbeitsmigrantInnen einzusetzen. Unmittelbar vor Ort, können sie auf die ausbeuterischen und unmenschlichen Bedingungen reagieren, unter denen die ArbeitsmigrantInnen arbeiten müssen. Albert war einer derjenigen, die sich für die mittlerweile neun Zentren in verschiedenen kanadischen Provinzen stark gemacht haben, in denen ArbeiterInnen rechtliche, medizinische, sprachliche und administrative Hilfe erhalten. Außerdem betreibt er mit kirchlichen, akademischen und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren Lobbyarbeit für die mehrfach benachteiligten MigrantInnen. Eine weitere Strategie, die sich in der Vergangenheit bereits als erfolgreich herausgestellt hat, sind Gerichtsprozesse, durch die versucht wird, gegen Gesetze vorzugehen, die die meist saisonal und temporär eingesetzten Arbeitskräfte diskriminieren. So gewann Alberts Gewerkschaft im November 2008 den Prozess für das Recht landwirtschaftlicher ArbeiterInnen in der Provinz Ontario, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Ontarios Berufungsgericht entschied, das bisherige Gesetz zum Schutz der Landwirtschaftsarbeiter (Ontario Agricultural Employees Protection Act) verstoße gegen die Charta der Rechte und Freiheiten, da er landwirtschaftlichen ArbeiterInnen das Recht verweigere, sich gewerkschaftlich zu organisieren und Kollektivtarifverhandlungen zu führen. Das Gericht gab der Regierung Ontarios zwölf Monate Zeit zur Umsetzung des Urteils. Diese weigerte sich jedoch und legte Berufung ein. Alberts Gewerkschaft wandte sich daraufhin an die Internationale Organisation für Arbeit (ILO) und hofft, mit ihrer Klage den internationalen Druck auf Ontarios Regierung zu erhöhen.
Albert hebt jedoch hervor: „Besonders wichtig ist unser enges Verhältnis zu den Migranten – sowohl hier in Kanada als auch in ihren Herkunftsregionen.“ Auf transnationalem Niveau existieren seit kurzem erstmals Abmachungen zwischen der kanadischen Gewerkschaft und den mexikanischen Entsenderegionen, den Bundesstaatsregierungen von Michoacan und Tlaxcala. Albert erklärt, eine Kooperationsübeinkunft regele Bildungs- und Informationskampagnen für Arbeiter vor Ort sowie eine bessere Koordinierung des SAWP. Eine umfassende Betreuung und Unterstützung der ArbeiterInnen sowohl vor als auch nach dem Aufenthalt in Kanada kann so gewährleistet und auf konkrete Probleme oder Diskriminierungen unmittelbar eingegangen werden.
Das Engagement von Menschen wie Albert scheint langsam Früchte zu tragen. Der zuständige Minister für Einwanderung, Jason Kenney, schlug Anfang Oktober vor, die Situation der temporären ArbeitsmigrantInnen in Kanada durch Zusätze im bestehenden Programm zu verbessern. Danach würden kanadische Unternehmen, die MigrantInnen beschäftigen, strenger kontrolliert werden. Falls Gehalt und Arbeitsbedingungen nicht den Vereinbarungen entsprächen, die im Vorfeld mit den ArbeitsmigrantInnen getroffen wurden, würden diese Unternehmen für zwei Jahre vom staatlichen Programm ausgeschlossen und ihre Namen auf der Homepage des Ministeriums veröffentlicht. Der Vorschlag kam just zwei Tage, nachdem das Arbeitsministerium der Provinz Manitoba eine Untersuchung gestartet hatte, da vier philippinische Arbeitsmigranten von Einschüchterungsversuchen und gebrochenen Versprechen ihres kanadischen Arbeitgebers berichtet hatten. Vielen zivilgesellschaftlichen Akteuren gehen die Änderungsvorschläge des Ministers nicht weit genug. Sie kritisieren, dass keine arbeitsrechtlichen Standards festgeschrieben werden und monieren den fehlenden politischen Willen der konservativen Regierung. Albert schimpft auch. Doch er sagt: „Wenigstens werden die Arbeitsmigranten ganz allmählich aus ihrer unsichtbaren Sprachlosigkeit befreit.“ Und schmunzelt.

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