Literatur | Nummer 391 - Januar 2007

Bosque ist überall

Antonio Dal Masettos Porträt eines eitlen, verbrecherischen Dorfes

Anderthalb Jahre nach dem Bankraub in Bosque, von dem Antonio Dal Masetto in Noch eine Nacht erzählt (siehe LN 385/386), reist ein Mann in dieses argentinische Dorf und rollt die ganze Geschichte noch einmal auf. Blut und Spiele ist Thriller und Psychogramm zugleich, dem man – wie der Protagonist – nicht entkommen kann, ohne etwas daraus mitzunehmen.

Valentin Schönherr

Wahrscheinlich waren die vier Männer, die an einem heißen Sommertag die Bank von Bos­que ausraubten, nur Gelegenheits­diebe. Jedenfalls gingen sie nicht sehr professionell vor – anders als die BewohnerInnen von Bosque, die die Räuber in den Stunden darauf mit kollektiver Entschlossenheit zur Strecke brachten.
Dies ist die Vorgeschichte von Blut und Spiele. Auch hier fährt, wie schon in Noch eine Nacht, zu Beginn jemand nach Bosque. Dies­mal ist es Muto, dem in einem Zeitungsbericht über die Vorfälle von Bosque der Name eines der Bankräuber aufgefallen ist. Die­ser hatte ihm vor langer Zeit die Frau ausgespannt. Jetzt will er den Ort sehen, an dem sein Erzfeind umkam.
Um den DorfbewohnerInnen ein paar Informationen über jenen Mann zu entlocken, erfindet Muto aus dem Stegreif eine Geschichte: Er sei Drehbuchautor, es solle ein großer Film über die Ereignisse gedreht werden, und alle, die dabei waren, sollten mitspielen. Der „Glanz in den Augen“, die Türen, die sich nun überall öffnen, geben den Blick frei auf die Eitelkeit eines jeden und in die verrücktesten, abgründigsten Geschichten. Einer der Honoratioren der Stadt entpuppt sich als Mafiapate im Dorfformat; der unbescholtene Bankdirektor als Feigling, der seine Schlachten im Hinterzimmer schlägt (in maßstabs- und detailgetreuer Zinnsoldatenrekonstruktion von Waterloo); die nymphomanische Schuldirektorin, die in Noch eine Nacht ihren halbwüchsigen Neffen missbraucht hatte, wird mittlerweile von diesem tyrannisiert. Man sollte das erste Buch gelesen haben, um die vielen Bezüge des zweiten erkennen zu können: Wie die tatsächlichen Ereignisse von damals nun beschönigt und verdreht werden, ist schon atemberaubend. Aber – bei aller Konstruiertheit – doch wahr, oder wenigstens unangenehm wahrscheinlich, zumal das Buch frei ist von allen exotisierenden Beigaben, die das Geschehen in einer fremden Welt ansiedeln würden.
Am Ende lässt Muto den Bankdirektor die Raubszene noch einmal nachspielen, um ein paar Fotos zu machen – und er nutzt die Gelegenheit, um den Tresor tatsächlich auszurauben. Nur stellt er sich schlauer an als die vier Räuber vor ihm. Neben dem Geld nimmt er auch eine Mörderin mit aus dem Dorf hinaus, und – wie schon in Noch eine Nacht ein Dreh im allerletzten Satz – „das Gift“, über das wir rätseln dürfen. Muto ist vom Beobachter längst zum Mitwisser und schließlich zum Beteiligten geworden, hat von dem „Gift“ genossen. Wir haben ihm dabei mit Abscheu für das eine, mit Anteilnahme für das andere Unrecht zugeschaut: Den einen Mord halten wir für entsetzlich, den anderen schon fast für verständlich. Bosque ist überall, denn vergiftet sind auch wir.

Antonio Dal Masetto: Blut und Spiele. Aus dem Spanischen von Susanna Mende. Rotpunktverlag, Zürich 2006, 231 Seiten, 19,80 Euro.

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