Brasilien | Nummer 228 - Juni 1993

Brasilien macht mobil gegen Hunger

“Der Hunger hat Eile. Daran ist nicht mehr zu zweifeln.” Das ist der Grundkonsens, der verschiedenste Gruppen in Brasilien zusammengeführt hat, um eine große Kampagne gegen den Hunger im Lande ins Leben zu rufen. Sie gründeten die “Bürgeraktion gegen das Elend – für das Leben.” Initiator und Sprecher ist der Soziologe Herbert de Souza (“Betinho”), Präsident der angesehenen Nichtregierungsorganisation (NGO) IBASE. Die Kampagne versteht sich als Fortsetzung der Mobilisierung “Für die Ethik in der Politik”, die im letzten Jahr für die Absetzung von Präsident Collor kämpfte. Sie wandte sich gegen die Komplizenschaft der Armut und hat bisher zumindest einen Teil der Medien bewegt. Die angesehene Tageszeitung ” Jornal do Brasil ” bezeichnete Betinho als “Heiligen”, neben dem Rennfahrer Ayrton Senna die große nationale Symbolgestalt: Senna für Effizienz und Erfolg, Betinho für die Menschlichkeit. Die Illustrierte ” Vieja “, eine Art brasilianischer “Spiegel”, widmete der Kampagne, insbesondere aber Betinho, zwei lange Artikel. Betinho ist zu einer nationalen Figur geworden. Tatsächlich eignet er sich für solche Personalisierungen gut. Er ist HIV-positiv und sagt: “Auch ich habe wenig Zeit.”

Thomas W. Fatheuer

Die Zahlen und Berichte zeichnen ein düsteres Bild von der sozialen Lage in Brasilien. Hunger ist nicht länger nur ein Phänomen Afrikas, sondern findet sich auch in der achtgrößten kapitalistischen Wirtschaft der Welt. 31 Millionen Menschen leben in Brasilien in absolutem Elend, unterhalb der Armutsgrenze. Das heißt nach den gängigsten Indikatoren, daß das pro Kopf Einkommen in einer Familie maximal 25 Prozent des Mindestlohnes (der etwa bei 120 DM liegt) erreicht. Die extreme Armut ist sowohl ein Phänomen der Städte wie des Landes, aber die größte Konzentration von Armut und absolutem Elend findet sich auf dem Land: Nur 20 Prozent der brasilianischen Bevölkerung leben auf dem Land, aber jedeR zweite Arme kommt von dort. Im Nordosten des Landes, dem “Armenhaus Brasiliens” lebt über die Hälfte der Armen. Mehr vielleicht noch als solche Zahlen haben Bilder von der Dürre im Nordosten die Nation wachgerüttelt: Menschen ziehen in die Städte auf der Suche nach Wasser und Nahrung, viele treibt der nackte Hunger.

Hunger und Dürre im Nordosten

Der Vorsitzende der Arbeiterpartei (PT) Lula, ist jüngst in einer großen Karawane vom Pernambuco im Nordosten Brasiliens nach Sao Paulo gezogen, den selben Weg, der ihn als jungen Mann auf der Suche nach Arbeit in die Küstenmetropole führte, direkt in die Fabriken multinationaler Konzerne. Viele haben die Karawane als Wahlkampfmanöver verurteilt: 1994 wird ein neuer Präsident gewählt, und Lula führt die ersten Umfragen an. Aber wenigstens hat die Karawane das Augenmerk der Öffentlichkeit auf das blanke Elend im Nordosten gelenkt. Und die PT (bzw. die von ihr geführte “Parallelregierung”) hat bereits vor einem halben Jahr einen Aktionsplan zum Kampf gegen den Hunger veröffentlicht, der in seinen Grundzügen von Präsident Itamar akzeptiert worden ist. Nun sind Hunger, Elend und Dürre nichts Neues, aber in Brasilien gibt es seit jeher eine Doppelstrategie, darauf zu reagieren. Zum einen gilt Armut als traditionelles und quasi natürliches Phänomen, das es immer gegeben hat und auch weiter geben wird. Zum anderen haben verschiedene Regierungen und internationale Organisationen ein ganzes Arsenal von Unterstützungs – und Entwicklungsprogrammen gestartet, die vor allem eins eint: ihre sekundäre Erfolgslosigkeit – im Kampf gegen die Armut. Aber das heißt nicht, daß sie effektlos blieben. In den meisten Fällen haben diese Programme lokalen Eliten und politischen Zwecken gedient und genützt. Im Nordosten spricht man inzwischen von einer “Industrie der Dürre”, die das Netz der Oligarchie meint, die sich der Hilfsprogramme bemächtigt. So wird der mit öffentlichen Geldern bezahlte Brunnenbau in der Regel auf dem Land von Großgrundbesitzern vorgenommen. Ein jüngster Fall hat diese Praxis wieder in das Bewußtsein gebracht: Inocêncio, seines Zeichens Parlamentspräsident (d.h. die Nr. 2 in der aktuellen Ämterhierarchie) und Großgrundbesitzer, hat mehrere Brunnen auf Staatskosten auf seinen Fazendas anlegen lassen.
Erstes Ziel der Kampagne ist es, eine weitgehend hingenommene Tatsache, die immense Armut im Land, wieder zu “skandalisieren”, zu einem Stein des Anstoßes zu machen. Und zu Recht verweisen die InitiatorInnen darauf, daß Brasilien zu den Ländern mit der höchsten Einkommenskonzentration der Welt gehört: die ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung vereinigen gerade einmal 2,3 Prozent des Nationaleinkommens auf sich (in der BRD sind es 6.8 Prozent, in Indien 8.1 Prozent). Soweit ist die Stoßrichtung und das Ziel der Kampagne sicherlich nachzuvollziehen. Aber was soll nun konkret gemacht werden? Die SprecherInnen der Kampagne betonen stark die Notwendigkeit von Sofortmaßnahmen. Gerade da erheben sich auch kritische Stimmen , die befürchten , die Kampagne könne in die alten Fallen einer reinen Nahrungsverteilungspolitik geraten. Wie dem auch sei: die Kampagne hat es geschafft, ein aus der Öffentlichkeit weitgehend verdrängtes Thema in die Diskussion zu bringen – und zwar nicht in eine allgemeine Diskussion über Armut, sondern darüber, was jetzt getan werden kann und muß.

Die doppelte Dimension beim Kampf gegen das Elend

Ein Erfolg ist auch, daß der Gewerkschaftsdachverband CUT die Kampagne aktiv unterstützen will. Wir dokumentieren Auszüge eines Textes von Herbert de Souza, der die Position der Gewerkschaften zu der Aktion zusammenzufassen versucht:
“Der Kampf gegen das Elend hat eine doppelte Dimension, er beinhaltet Sofortmaßnahmen und struktuelle Änderungen. Die Verbindung zwischen diesen beiden Dimensionen ist komplex und fordert List. Nur auf der Ebene der Sofortmaßnahmen zu agieren, ohne die Struktur zu berücksichtigen, bedeutet, die Armut zu perpetuieren. Aber nur struktuelle Änderungen ins Auge zu fassen, ohne auch hier und jetzt etwas zu tun, ist aktueller Zynismus im Namen einer langfristigen Menschenliebe. Wenn ein Land in die Situation Brasiliens geraten ist, daß ein Drittel der Bevölkerung in absoluter Armut lebt, dann wird diese Frage noch dramatischer. Tatsächlich müssen wir den Sofortmaßnahmen ein großes Gewicht geben (Essen hier und jetzt für alle, die Hunger haben) und gleichzeitig müssen wir die struktuellen Fragen angehen: Wiederaufnahme des Wirtschaftswachstums, Kampf gegen die Inflation, Schaffung von Arbeitsplätzen, Bodenreform … und insbesondere Reform und Demokratisierung des Staates. Der Kampf gegen das Elend ist auch und wesentlich ein Kampf um die Ethik in der Politik. Ethik, weil das Elend nicht vom Himmel gefallen ist wie ein Naturereignis, als sei es ein Virus, der die Länder der Dritten Welt befällt. Es ist produziert von einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt und von führenden Gruppen, die Namen haben und die – bis zum Beweis des Gegenteils – wissen, was sie tun. Die Armut in Brasilien hat eine lange Geschichte, sie kam mit den Kolonisatoren, sie entwikkelte sich mit den lokalen Oligarchien, und sie verschärfte sich mit den heutigen Eliten: den Großgrundbesitzern, den nationalen und internationalen Oligopolen in der Industrie, im Handel und Finanzsektor. Sie entwickelte sich auch unter der Komplizenschaft der Mittelschichten, die bei der Entscheidung zwischen Herren und Sklaven nicht zögerten, sich für oben zu entscheiden. Und sie entwickelten sich mit der Resignation eines großen Teils der Unterdrückten, die sich an den gesellschaftlichen Ausschluß anpaßten, die Folgen der Revolte fürchtend. So kam es dazu, daß Brasilien sich in die achtgrößte Wirtschaftsmacht der kapitalistischen Welt verwandelte und in das Land mit der größten Konzentration an Reichtum in der Welt. In ein Land also, das Maximum für eine Minderheit bietet und das absolute Minimum für seine große Mehrheit. Jetzt, wo das Elend die Mittelschichten und ihre Kinder angreift, Supermärkte plündert, Millionäre und Geschäftsleute entführt, die Leute auf der Straße überfällt, erschreckt, die Strände bedroht, jetzt wo sein ganzes Ausmaß die Häuser von Millionen betrifft, da beginnt das Land zu fragen, was machen wir mit unseren Armen? Einige schlagen die Todesstrafe vor, andere die Geburtenkontrolle und die massenweise Sterilisierung (die es im übrigen ja schon gibt); andere hingegen die Organisierung der Polizeigewalt gegen das Elend oder soziale Apartheid, die unser Wirtschaftssystem verfestigt.”
Um dieser Barbarei etwas entgegenzusetzen, entstand der Vorschlag der PT, einen “Nationalen Rat für Ernährungssicherheitet” einzurichten, ein Vorschlag der von der Regierung Itamar akzeptiert wurde. Zur selben Zeit entstand die “Bürgeraktion gegen das Elend und für das Leben” , die nun Komitees in allen Städten Brasiliens schaffen wird.

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