Caifanes und Jaguares
Die mexikanische Band Jaguares – ganz in der Tradition der legendären Caifanes?
Mit fünfzehn Jahren spielt Saúl Hernández in seiner ersten Rockformation: Deimos heißt sie, man schreibt das Jahr 1979. Erst drei Bands später, 1984, stellt er in der mexikanischen Hauptstadt eine stabile Formation auf die Beine. Las insólitas Imágenes de Aurora vereint neben Hernández den Gitarristen Alejandro Marcovic und den Schlagzeuger Alfonso André. Zusammen mit den beiden gelingt die Aufnahme einer LP, von Dauer ist die Gruppe jedoch nicht. Ohne Fans und ohne Geld trennen sich die drei nach innerer Zerrüttung und gehen ihrer Wege. Saúl ist der einzige, der sich nicht einer bereits bestehenden Band anschließt, sondern sein eigenes Projekt aufzieht: eine Band namens Caifanes. Der merkwürdige Name rührt her von der populären spanglischen Redewendung cae fine: kommt cool.
Zu den ersten Mitgliedern der Caifanes gehören Diego Herrera am Keyboard und Sabo Romo am Bass; André stößt nach kurzer Zeit wieder hinzu. Ein Demotape läuft im Radio und macht die Gruppe bekannt. Nach ein paar Konzerten bietet sich ihnen die Gelegenheit, mit Miguel Mateos aufzutreten, einem Idol des Pop-Rock, dann dürfen sie ihr erstes Album, Caifanes Vol. 1, einspielen – für Rock en tu idioma, eine Reihe, die Geschichte machen wird. Als im Dezember 1988 zum ersten Mal in Mexiko die Single-Auskopplung „La Negra Tomasa“ von Sendern gespielt wird, die eigentlich nicht auf populäre Schunkel-Cumbias abonniert sind, nimmt ein kulturelles Phänomen seinen Lauf, das bis zum heutigen Tage anhält: Mit der Caifanes-Version der „Negra“ betritt ein Stil die Bühne, der sich aus der eigenen Geschichte speist und damit paradoxerweise sehr innovativ ist, nach der unangefochtenen Dominanz reiner Rock-Interpreten wie Tri. Das Publikum wird schnell auf diese Entwicklung aufmerksam – und es mag diese Musik, die nicht mehr einfach das US-amerikanische Vorbild imitiert. Gruppen wie La Maldita Vecindad, die Hijos del Quinto Patio und Café Tacuba nehmen später den Faden auf und hauchen dem mexikanischen Rock neues Leben ein.
Durchbruch und Abbruch
Bei der „Negra“ handelt es sich um die eigenwillige Version einer altbekannten Cumbia, arrangiert mit Gitarren und Saxophon und getragen von einer merkwürdig sphärischen Stimmung. Irgendwie gelingt den Caifanes mit dieser Mischung etwas ganz Neues: Sie spielen traditionelle lateinamerikanische Tanzmusik und treten gleichzeitig eine Reise mit dem Hörer an, zurück zu den Tempeln der alten Zivilisationen mit ihren Mysterien und ihren Schrecken. Und sie machen das Ganze auch noch populär.
Als 1990 die Aufnahmen für das zweite Album El Diablito fast eingespielt sind, kehrt auch Alejandro Marcovic zu seinen Ex-Kollegen zurück. El Diablito wird eine wunderschöne Produktion mit langsamen, gedehnten Stücken voller Spiritualität und heftigeren, ro-
ckigen Elementen. In “La célula que explota” integrieren sie den mariachi tapatío, in “Detrás de tí“ nehmen sie einen Percussion-Stil vorweg, der in den USA die gesamte Dekade hindurch en vogue sein wird. Die Bandmitglieder entwickeln zunehmend ein individuelles Profil. Saúl avanciert zum Sexsymbol für Frauen wie für Männer: ein gewaltiger Mestize mit schamanischer Ausstrahlung. Andere beweisen ihre musikalische Virtuosität in parallelen Projekten.
Die Gegenwart von Alejandro Marcovic in der Gruppe gewinnt eine etwas zweifelhafte Bedeutung für die Produktion des nächsten Albums – El Silencio (1992) –, im Musikalischen ebenso wie bei der Vermarktung. Mit ihm wagen die Caifanes den Schritt auf einen international ausgerichteten, vom Videoclip geprägten und vom Mediengiganten Televisa beherrschten Markt. Neben mehreren reichlich überflüssigen Auftritten auf Festivals der mexikanischen Society beschert ihnen diese Entwicklung aber auch Bekanntheit in den USA und in ganz Lateinamerika. Adrian Belew, der Gitarrist von David Bowie und den Talking Heads fungiert für El Silencio als Produzent. Das Ergebnis ist ein trotz allem gelungener Balanceakt zwischen Kreativität und Zugeständnissen an den Mainstream-Geschmack. Die Stücke werden kürzer und leichter verdaulich, aber auch dichter: Der präkolumbische Einfluss, in den Anfängen der Band erst zu erahnen, tritt deutlicher zum Vorschein. Der professionelle Druck und der Ruhm der Gruppierung fordert schließlich seinen Tribut: Sabo zieht sich vorübergehend aus dem Geschäft zurück, Diego geht endgültig.
El Nervio del Volcán von 1994 ist die letzte und umstrittenste Produktion der Caifanes, entstanden unter der Regie von Marcovic. In diesen Aufnahmen wird der veränderte Stil überdeutlich: Die Synthesizer sind durch Klavier ersetzt, Gitarrensoli bekommen ein nie da gewesenes Gewicht und der Mysterien-Sound der ersten Alben ist praktisch verschwunden. Der Text in „Aquí no es así“, der auf den Zusammenstoß der Kulturen anspielt, bricht sich mit den völlig „westlichen“ Gitarren-Arpeggios. Insgesamt handelt es sich um eine überaus virtuos eingespielte Produktion – besser als je zuvor brillieren die einzelnen Musiker auf ihren Instrumenten. Diese Ausdifferenzierung findet gleichzeitig unter den Bandmitgliedern statt. Der Bruch ist schmerzhaft, verkündet wird er den Fans auf einem Konzert in San Luis Potosí. Marcovic behält die Vermarktungsrechte und darf den Bandnamen weiterführen. Alfonso André gründet seine eigene Band, La Barranca, Saúl bekommt Probleme mit seiner Stimme und hört auf zu singen. Das Ende einer Ära scheint perfekt. Das letzte Caifanes-Album ist ein Best-of (La Historia), es enthält kein einziges bis dahin unveröffentlichtes Stück.
Die Auferstehung
Das Verschwinden der Caifanes lenkt die Aufmerksamkeit stärker auf den Rest der mexikanischen Szene, die sich auch weiterentwickelt hat. Alle Genres sind mit herausragenden Gruppen besetzt: Resorte im Hardcore, Maldita Vecindad mit einem folkloristisch geprägten Ska, Café Tacuba im Bereich des experimentellen Rock und Control Machete im HipHop. Interessanterweise verweisen die Produktionen aller dieser Bands in irgendeiner Art und Weise auf die mexikanische Geschichte – die Nachfolger von Rock en tu idioma haben endlich eine eigene Identität entwickelt.
Diese Haltung blüht übrigens auch in Mittelamerika auf, in Ländern, die keinen so ausgeprägten Nationalismus kennen wie Mexiko. Der Verweis auf die Wurzeln der amerikanischen Gesellschaft wird zum verbindenden Element, jenseits von zweifelhaften Hymnen auf das jeweilige Heimatland. Gruppen wie Alux Nahual und La Tona in Guatemala oder Nativa Geranio in El Salvador beziehen ihre Inspiration aus der Realität der indigenen Bewohner des Subkontinents. Der Rock, den sie spielen, erzählt von der Blüte dieser Völker und von ihrem Verschwinden in den Städten und in der Armut, aber auch von der Bedeutung ihrer Präsenz.
Länger als ein Jahr nimmt die Auferstehung der Caifanes nicht in Anspruch, wenn auch unter neuem Namen. Sabo knüpft die Kontakte, und Saúl setzt sein neues Projekt durch: eine Band namens Jaguares. Mit dem Jaguar, einer zentralen Figur aus der Bilderwelt der Maya, nehmen sie den früheren Faden wieder auf. Das 1996 erschienene Album El equilibrio de los jaguares klingt ganz wie der legitime Nachfolger von El Silencio. Auf den Konzerten spielen die Jaguares alle populären Caifanes-Stücke, und fast sieht es aus, als habe es die Auflösung der ehemaligen Band gar nicht gegeben, als sei alles nur ein experimenteller Schlenker des Schicksals gewesen.
Alfonso kehrt zurück, Saúls Stimme auch: Nach einigen Operationen an den Stimmbändern ist sie auf dem 2000 veröffentlichten Folgealbum Bajo el azul de tu misterio wieder zu hören. Das Doppelalbum beinhaltet einige neue Stücke, die explizit an El equilibrio anschließen. Zwölf Jahre, nachdem sie eine überaus fruchtbare Bewegung angestoßen haben, schließt sich der Kreis.
Die Jaguares haben ein neues Album für dieses Jahr angekündigt. Derzeit verharrt die Musikszene Mexikos in einer gewissen Konzeptlosigkeit. Neue Hardcore-Bands wie Molotov und Zurdok sind sehr präsent und beweisen rhythmische und klangliche Kreativität. Zum Image dieser Gruppen gehört aber auch eine neue Aggressivität: Sie schießen in alle Richtungen und haben ihren Spaß dabei. Welche Rolle die Jaguares in einem solchen Umfeld spielen werden, ist eine noch unbeantwortete Frage.