Castro ist krank, es lebe der Alltag
Betrachtungen zum Leben in Havanna in Zeiten der Notoperation
Havanna im August 2006. Es ist drückend heiß. Vor der legendären Eisdiele Coppelia stehen die Menschen im Schatten der wenigen Bäume in Gruppen zusammen. Sie müssen zum Teil mehrere Stunden warten, bis sie von den OrdnerInnen eingelassen werden und einen Platz zugewiesen bekommen. Von den Eissorten, die an den Informationstafeln angeschlagen sind, stehen dann zumeist nur noch ein bis zwei zur Auswahl. Vor den für TouristInnen abgetrennten Abteilungen des Eistempels stehen keine Schlangen. Hier müssen die Kugeln in harter Währung, dem sogenannten konvertiblen kubanischen Peso, gezahlt werden. Das Angebot ist breiter und die Sorten ausgefallener. Angesichts dieser Aufteilung gerät das Gespräch in den Warteschlangen nicht selten auf die 80er Jahre – der Zeit, bevor der Zusammenbruch der Sowjetunion auch die wirtschaftliche Kooperation mit den Ostblockstaaten quasi beendete. Damals zirkulierte nur eine Währung und Knappheit an Konsumgütern war kaum Thema. Neben das unverändert wiederkehrenden Stöhnen über die Hitze, das beinahe automatisch Teil jeder Begrüßung ist, treten dann Unmutsäußerungen über die schwierigen Lebensbedingungen hinzu. Diese werden selten offen ausgesprochen, sondern zumeist in Form eines Witzes oder einer Anspielung verpackt. Seit einigen Wochen ist die Atmosphäre an der Kreuzung 23/L jedoch gespannt. Die in dieser Gegend generell hohe Polizeipräsenz wurde noch verstärkt. Gruppen, die den Ordnungskräften aus beliebigen Gründen missfallen, werden aufgefordert, den Ort zu verlassen. Die Staatsmacht versucht, informelle Menschenansammlungen weitestgehend zu unterbinden.
Deutschland, August 2006
Die Titelseiten der Tagespresse melden die Einlieferung Fidel Castros zu einer Notoperation ins Krankenhaus, nur wenige Tage vor seinem 80. Geburtstag. Der kubanische Staatschef überträgt die Amtsgeschäfte verfassungsgemäß seinem fünf Jahre jüngeren Bruder, dem Vize-Präsidenten des Staatsrats, Raúl Castro. Die kubanische Regierung ist bemüht, den Eindruck von Normalität zu vermitteln – die Verwendung dieses Begriffs in öffentlichen Reden und seitens der nationalen Medien nimmt sprunghaft zu. Zugleich schlagen international die Wellen hoch. Auf den Straßen Miamis feiern große Teile der exilkubanischen Gemeinde vorzeitig das herannahende Ende der Castro-Ära. Während die Regierungen der USA und zahlreicher europäischer Länder die Stunde für die mahnende Forderung an Kuba nutzen, einen demokratisch-kapitalistischen Übergang einzuleiten, senden Solidaritätsgruppen aus aller Welt Grußbotschaften, in denen sie ihre Treue bekräftigen. Die ersten Bilder des langsam genesenden Fidel Castros im Krankenbett füllen die europäischen Zeitungen. Gleichzeitig überschlagen sich die PublizistInnen in biographischen Abrissen über den Maximo Líder und in Spekulationen über die politische Zukunft der Insel.
Die politische Situation Kubas im Sommer 2006 kann keineswegs als normal bezeichnet werden: Zum ersten Mal seit 1959 hat Fidel Castro, wenn auch zunächst nur „vorübergehend“, seine offiziellen Funktionen delegiert. Das bedeutet für die 70 Prozent der KubanerInnen, die nach der Revolution geboren wurden, erstmalig formell eine andere Person an der Spitze des Staats zu erleben. Diese Situation führt in Kubas hochgradig personalisiertem System zu einer großen Verunsicherung über die zukünftige Entwicklung des Landes. Neben den Spekulationen über die ungewisse Zukunft des politischen Systems der Insel bleibt für den überwiegenden Teil der kubanischen Bevölkerung die Bewältigung des Alltags, der halb ironisch, halb sarkastisch oft la lucha, der Kampf, genannt wird, weiter die primäre Aufgabe. Eine Studie des psycho-sozialen Forschungszentrums in Havanna schätzt, dass 80 Prozent der Bevölkerung von ihrem Lohn nicht leben können und auf zusätzliche Verdienste angewiesen sind, legale wie illegale.
So auch die 75-jährige Anna. Sie lebt in zwei Zimmer in
einem verfallenen Kolonialhaus in Alt-Havanna zusammen mit ihrem Sohn, dessen Frau und den drei Enkelkindern. Um ihre schmale Rente aufzubessern verkauft Anna geröstete Erdnüsse für einen Peso pro Tüte an PassantInnen. Dies ist eine Tätigkeit, die der Staat seit der partiellen Legalisierung privatwirtschaftlicher Tätigkeiten 1993 zwar toleriert, jedoch durch die Vergabe von Lizenzen und Erhebung von Steuern sogar für diese KleinstunternehmerInnen in engen Schranken hält. Annas Tag beginnt um sechs Uhr früh und ist angefüllt mit der Beschaffung der Nüsse, der Herstellung von Tüten, dem Säubern, Rösten und Verpacken. Schließlich verbringt sie bis zu zehn Stunden beim Verkauf draußen auf der Straße.
Vielleicht trifft sie dabei Ernesto, der morgens in einer langen Schlange mit anderen RentnerInnen vor den Zeitungsbuden wartet, bis die Parteizeitungen Granma und Juventud Rebelde aus den staatlichen Druckereien geliefert werden. Diese kaufen die Wartenden für 20 Peso-Cent, um sie als fliegende HändlerInnen für einen Peso teurer weiter zu verkaufen. Seine Zeitung verkauft Ernesto beispielsweise an Pepito, einen knapp 70-jährigen Kettenraucher, der zu Beginn der 50er Jahre aus Spanien nach Kuba einwanderte, um als Einzelhändler sein Glück zu machen. Die Revolution machte ihm einen Strich durch die Rechnung: Kaum sechs Jahre im Land, wurde er enteignet, entschloss sich aber wegen Frau und Kindern zu bleiben. Danach arbeitete Pepito 30 Jahre für eine staatliche Zentrale zur Verteilung von Lebensmitteln. Er gehört zu den wohlhabenderen Personen der Stadt und verfügt über ein Zimmer, das er seit 1996 an TouristInnen vermietet: Anfangs noch legal, bis die Steuern von der Regierung immer weiter angehoben wurden, um die Preise in die Höhe zu treiben und so der geringen Auslastung der staatlichen Hotels entgegenzuwirken. Daraufhin gab er seine Lizenz schließlich zurück und vermietet nun unter der Hand. Hier und da schmiert er die staatlichen KontrolleurInnen, um Strafen zu entgehen.
Unterdessen sitzt Pepito auf der Treppe vor seinem Haus, raucht und flucht auf die Revolution. Für ihn stellte sie das Ende seiner Hoffnung auf Karriere dar. Er nahm die Revolution als gewaltsamen Einbruch der Welt des Pöbels in seinen, am Lebensstil der US-amerikanischen Mittel- und Oberschicht ausgerichteten Lebensentwurf wahr. Als Migrant europäischer Herkunft gehörte Pepito zu der vergleichsweise breiten urbanen Mittelschicht der 50er Jahre, die aufgrund der Verstaatlichungen zu Beginn der Revolution einen beträchtlichen Teil ihres produktiven Eigentums verlor. Auch wenn diese Schicht weiterhin über mehr Eigentum verfügte als der Durchschnitt der kubanischen Bevölkerung endete 1959 die Ära ihrer formellen Privilegien. Dennoch verließen nur wenige Zugehörige dieser Schicht das Land, im Gegensatz zu dem Großteil der US-amerikanischen StaatsbürgerInnen und der mit ausländischen Großunternehmen kooperierenden, nationalen Bourgeoisie.
Die Revolution lebt
Genau diese beiden Elemente sind es, die wesentlich zum Erfolg der Revolution beitrugen: Zum einen überwand der neue Staat die Abhängigkeit von den USA und den mit diesen kooperierenden Agraroligarchien. Zum anderen wurde die Unterdrückung durch den Diktator Fulgencio Batista beendet und statt dessen eine auf einer egalitären Politik beruhende nationale Identität geschaffen.
Sozialistisches Erbe
Kuba hat im Laufe der aus der historischen Situation des Kalten Krieges geborenen Kooperation mit dem Ostblock eine Vielzahl realsozialistischer Charakteristika übernommen. Der nationale Konsens, soweit man von diesem sprechen kann, gründet aber weit mehr auf der Überwindung des neokolonialen Status der 1950er Jahre und der Konsolidierung als Nation als auf materiellen Plankennziffern. Dem entspricht die Änderung der Verfassung von 1992, in der dem Nationalhelden José Martí eine herausragende Position eingeräumt wird. Zeitgleich begann im ganzen Land, sukzessive die Parole „Vaterland oder Tod“ die alte Losung „Sozialismus oder Tod“ zu ersetzen.
Nichtsdestotrotz hat die Einbindung in den Ostblock das Land nicht nur institutionell, sondern auch ideologisch verändert und zur Etablierung eines Wertesystems beigetragen, das auch über die politische Orientierung an der kommunistischen Partei PCC hinaus den Alltag der Bevölkerung prägt. Beispiel dafür sind die „Komitees zur Verteidigung der Revolution“ (CDR), Nachbarschaftsorganisationen, die in den 50er Jahren landesweit gegründet wurden, um konterrevolutionäre Umtriebigkeiten in den barrios zu verhindern. Auf der Ebene der Viertel sollen ihre Mitglieder die BewohnerInnen dazu bringen, sich gegenseitig zu kontrollieren. Heutzutage erfüllen sie aber auch die Funktion, die Menschen durch die Übernahme gemeinsamer Aufgaben in das hierarchische Herrschaftssystem einzubinden.
Es ist Sonntag. Die CDR rufen zur Verschönerung des Wohnblocks auf. Der überwiegende Teil der BewohnerInnen macht sich mit Harken, Sensen und Besen daran, Gras zu schneiden, Müll zu entfernen und Farbe zu klecksen. Als Yanislaydis Söhne sich weigern, ihren freien Sonntag mit gemeinnütziger Arbeit zu verbringen, hält sie ihnen verärgert eine Standpauke, dass es die Aufgabe der Gemeinschaft wäre, sich um den Block zu kümmern und sie sich amoralisch verhalten würden, wenn sie daran nicht teilnähmen. Im nächsten Satz vertritt sie im Brustton der Überzeugung, dass sie mit Politik nichts zu tun haben wolle.
Das Individuum im Planquadrat
Der soziale Zusammenhalt bröckelt – und das nicht primär aus politischen Gründen: „Es kann nicht sein, dass ich mit meinem abgeschlossenen Medizinstudium weiterhin bei meiner Mutter wohnen muss und nicht über die Runden komme“, beschwert sich Oswaldo und blickt herausfordernd seinen Freund Emilio an. Die beiden sind Mitglieder der Jungkommunisten (UJC). Sie überlegen, das Land für eine Weile zu verlassen, um für einen Arbeitsaufenthalt als Mediziner oder Sozialarbeiter nach Venezuela zu gehen. Um den dort stattfindenden „bolivarianischen Prozess“ zu unterstützen, entsendet Kuba derzeit große Gruppen junger Fachkräfte.
Oswaldo ist als Sohn einer hohen Staatsfunktionärin in Havanna aufgewachsen. Emilio hingegen verbrachte seine Jugend in einem winzigen Dorf in der Provinz Las Tunas. Dort teilte er sich mit seiner Mutter ein Bett in einer Holzhütte, die bis heute keinen Stromanschluss hat. Aufgrund seines Erfolgs während seines Militärdienstes gewährte ihm der Staat ein Stipendium an der Universität Havanna, brachte ihn in einem der Achtbettzimmer des Studentenwohnheims unter und garantierte für tägliche Mahlzeiten: Reis und Bohnen, manchmal ein Ei oder ein Stück Hühnerfleisch. Er kam mit 20 Peso und einer Hose in der Hauptstadt an, stellte fest, dass dies bei weitem nicht zum Leben reichte und begann, sich hochzuarbeiten. Nach fünf Jahren Geschichtsstudium schloss er als Bester seines Jahrgangs ab und hat durch eine Mischung aus politischem Opportunismus und dem klaren Ziel, soviel Macht wie möglich zu erhalten, die Position des Vorsitzenden der Studentenvereinigung FEU erreicht. Emilio spricht vier Sprachen, diskutiert ebenso eifrig über Max Weber wie über die Frage, ob man die Bush-Regierung als faschistisch bezeichnen könne. Doch nach Abschluss seines Studiums muss er, wenn er in Havanna keinen legalen Wohnsitz nachweisen kann, der kaum auf anderem Weg als über Verwandte oder Geld zu erhalten ist, in sein Dorf zurückkehren und dort 13-jährige SchülerInnen unterrichten.
Havanna ist nicht Miami
„Wie werde ich leben”, heißt ein Lied des kubanischen trovador Pedro Luis Ferrer und dann, aufmüpfig, „sie sollen mir nicht immer das Gleiche sagen“. So unterschiedlich sich die soziale Situation und die politischen Positionen der in Kuba lebenden KubanerInnen darstellen, in einem Punkt besteht zwischen fast allen Einigkeit: Die Bilder der auf den Straßen tanzenden Exil-KubanerInnen in Miami haben einen Schock hinterlassen, und übereinstimmend hört man von vielen BewohnerInnen Havannas, was auch passieren werde, eines wolle man nicht: Diese Menschen dort – und mit einer vagen Handbewegung weist die junge Frau, die mit einem Mickey Mouse T-Shirt bekleidet an der Küstenpromenade Havannas steht, gen Norden, in Richtung des 90 Meilen entfernt liegenden Floridas – diese Menschen sollen in Kuba nie wieder das Sagen haben.
Der Artikel beruht auf Interviews, die die Autorin im Sommer 2004 in Havanna führte und auf den Berichten der Havanna-Korrespondentin von Radio France Internationale, Sara Roumette. Ihr sei herzlich gedankt.