Nummer 298 - April 1999 | Venezuela

Chamäleon gegen Dinosaurier

Von der Verfassungsreform erwarten die VenezolanerInnen ein Ende des Parteienproporzes – noch hat Chávez die Sympathien auf seiner Seite

Am 6. Dezember wurde Hugo Chávez in Venezuela zum Präsidenten gewählt. Mit populistischen Parolen hatte sich der Putschist von 1992 in das höchste Staatsamt katapultiert. Chávez regiert mit Dekreten und will mit einer neuen Verfassung seine Macht gegenüber dem Kongreß vergrößern, um seine Reformen durchzudrücken. Dennoch herrscht allgemeine Ratlosigkeit, wohin die Reise gehen soll: Wird Chávez den Parteiensumpf ausmisten und die katastrophale wirtschaftliche Lage für den Großteil der Bevölkerung verbessern, oder wird er sich als plumper autokratischer Herrscher entpuppen?

Sebastian Sedlmayr

Als 1958 Rómulo Betancourt zum Präsidenten gewählt wurde, dauerte es zwar noch drei Jahre, bis auch eine demokratische Verfassung verabschiedet wurde, doch die Zeit der militärischen Staatsführungen, die seit Venezuelas Unabhängigkeit 1830 das Land beherrscht hatten, war vorüber. Die folgenden 40 Jahre wechselten sich zwei große Parteien in der Regierung ab: die AD (Acción Democrática) und die COPEI (Comité de Organización Política Electoral Independente). Das System war, verglichen mit vielen Nachbarstaaten, stabil, doch AD und COPEI spannen über die Jahre einen undurchdringlichen Filz aus Korruption und Vetternwirtschaft.
Wurde ein Präsident aus den Reihen der AD abgewählt oder wegen eines Skandals abgesetzt, folgte ein Kandidat der COPEI, doch an Korruption und Mißwirtschaft änderte sich nichts. Nachdem das Land jahrzehntelang von seinen riesigen Ölvorkommen zehren konnte, die staatliche Subventionen in ungeheurem Umfang und die Etablierung eines Almosensystems für die ärmere Bevölkerung gewährleisteten, traf der Verfall der Rohölpreise in den 80er Jahren Venezuela besonders hart. In den 70er Jahren, im Zeichen der „Ölkrise“, schwamm der südamerikanische Staat noch in Devisen, aus der Hauptstadt Caracas wurde eine futuristische Landschaft modernster Architektur, und man wähnte sich an der Schwelle zur Ersten Welt. Doch AD und COPEI hatten es nicht vermocht, andere Sektoren aus der Bedeutungslosigkeit zu holen und so das Land vom Öltropf zu reißen. Zwar ist Venezuela auch heute noch die viertgrößte Ölnation der Welt und der wichtigste Ölprodukte-Exporteur für die Vereinigten Staaten, doch als sich der Preisverfall für den Rohstoff abzuzeichnen begann, schöpften die oberen Schichten den Gewinn ab, um ihren Lebensstandard nicht aufgeben zu müssen. Hinzu kam die Abwertung der Landeswährung Bolívar an einem Schwarzen Freitag im Jahre 1983, dem massive Inflation und wirtschaftlicher Abschwung folgten. Zwangsläufig litten unter den plötzlich veränderten wirtschaftlichen Bedingungen vor allem die weniger qualifizierten beziehungsweise privilegierten Schichten, die nun nicht mehr mit materiellen Strömen aus den Ölquellen rechnen konnten. Mit jeder neuen Regierung wurden die Versprechen, das Land aus der Krise zu führen, wiederholt, mit jeder Wahlperiode die Hoffnungen der Bevölkerung enttäuscht. Es entstand eine Mischung aus Gleichgültigkeit und Zorn, die immer wieder in Aufständen und Putschversuchen kulminierte. Die zunehmend unruhige innenpolitische Lage verunsicherte auch ausländische Investoren, die speziell nach dem Greifen der Asienkrise in Lateinamerika skeptisch und zurückhaltend geworden sind.

Ausgedünnter Mittelstand

Auch 1992 wurde versucht, dem damals amtierenden Präsidenten Carlos Andrés Pérez die Macht zu entreißen. Am 4. Februar marschierte Hugo Chávez Frias, damals ein Fallschirmjäger aus den mittleren Rängen des Militärs, mit einer Handvoll Getreuer auf den Präsidentensitz, den Palacio de Miraflores in Caracas zu. Doch der Putschversuch scheiterte am Widerstand der Generäle. Als der heute 85jährige Rafael Caldera 1993 das Amt des Präsidenten übernahm, versprach er, das Land aus der wirtschaftlichen Krise zu führen. Er setzte aber schlicht den neoliberalen Kurs, den der Internationale Währungsfonds (IWF) seit 1989 im Gegenzug für dringend benötigte Kredite vorschrieb, fort und stürzte so weitere Teile des ohnehin ausgedünnten Mittelstandes in materielles Elend. Heute leben 80 Prozent der VenezolanerInnen unter der Armutsgrenze.
Hugo Chávez, nach zwei Jahren in einem komfortablen Gefängnis aus der Haft entlassen, sah in den Präsidentschaftswahlen von 1998 seine Chance, auf legalem Wege an die Regierung zu kommen. Mit einem Programm, das nicht viel mehr als markige Sprüche gegen die korrupte herrschende Klasse enthielt, zog er in den Wahlkampf – und rannte bei den frustrierten VenezolanerInnen offene Türen ein. Mit den vagen Versprechen, eine radikale Umverteilung des Reichtums einzuleiten, der Korruption den Garaus zu machen und Venezuela neu zu ordnen, gewann er bei den Wahlen im vergangenen Dezember 56 Prozent der Stimmen.
Sein stärkster Kontrahent, der eher biedere, von AD und COPEI unterstützte Henrique Salas Römer, kam auf knapp 40 Prozent. Er war mit einem liberalen Wirtschaftsprogramm angetreten und wollte die Sparpolitik Calderas fortführen. Doch die armen Teile der Bevölkerung, die aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit wahlentscheidend waren, hatten offensichtlich jegliches Vertrauen in die alten Eliten verloren. Chávez, der selbst aus einer armen Lehrerfamilie stammt, bot eine optimale Identifikationsfläche für die notleidende Bevölkerung. Seit seinem Putschversuch hatte sich ein Mythos um ihn gebildet. Als Rächer der Entrechteten und starke Hand gegen die verhaßten Machthaber traute man ihm zu, Venezuela zu neuem Glanz zu verhelfen.
Der Ex-Militär bastelte selbst eifrig an seinem Image. ‘Por ahora!’ (Fürs Erste) hatte er gerufen, als die Guardia Nacional ihn 1992 abführte, seit seiner Entlassung benahm er sich wie der politische Enkel des Nationalhelden Simón Bolívar, der Venezuela gegen die Spanier in die Unabhängigkeit gekämpft hatte. Er schmückte seine Reden mit Zitaten des historischen Vorbilds und bediente sich einer mit martialischen Drohungen unterfütterten Metaphorik. Den amtierenden Machthabern versprach er, „ihre Köpfe in der Pfanne schmoren“ zu lassen, dem Volk versicherte er, „von einer mächtigen Kraft erfaßt“ zu sein, die ihn als legitimen Herrscher des venezolanischen Volkes ausweise.
Die Versuche der beiden traditionellen Parteien, Chávez als dikatorischen Teufel hinzustellen, schlugen dennoch fehl. Auch Irene Sáez, ehemalige Miss Universum und aus diesem Grunde manchem deutschen Nachrichtenmagazin einen Artikel wert, konnte die WählerInnen nicht überzeugen. Bemerkenswert ist, daß weder AD noch COPEI einen eigenen Kandidaten aufstellten, sondern „unabhängige“ Bewerber unterstützten. Die Altparteien hatten gemerkt, daß ihnen das Volk nicht mehr traute, und versuchten, ihre Macht mit Hilfe eines unverbrauchten Gesichts zu erhalten. Chávez selbst hatte den aus einer Vielzahl kleiner Organisationen gebildeten Patriotischen Pol (Polo Patriótico, PP) hinter sich geschart, um den Wahlkampf finanzieren zu können. Dieses Agglomerat weitgehend unbedeutender Parteien und Initiativen vereint kommunistische bis national-patriotische Strömungen unter dem Dach der Treue zu Chávez und seinem Anliegen, in Venezuela aufzuräumen. Seit dem Wahlerfolg wird der PP von der Omnipräsenz des neuen Regierungschefs in den Schatten gestellt. Der Zerfall dieser illustren Koalition scheint daher nur eine Frage der Zeit.

Regieren über Dekrete

Die Vereidigung des neuen Präsidenten fand am 2. Februar statt, die Feierlichkeiten verlegte Chávez auf den siebten Jahrestag seines Putschversuches und ließ sich von einer begeisterten Menge bejubeln. Doch bis heute ist nicht genau zu erkennen, welche Politik der 44jährige Ex-Militär verfolgt. Die wenigen konkreten Vorhaben lassen Befürchtungen vor einer autokratischen Regierungsweise zu, die sich vornehmlich auf Dekrete stützt.
Das zentrale Anliegen Chávez’, das mit diesen Verordnungen auf den Weg gebracht wurde, ist eine Verfassungsgebende Versammlung, die am 25. April stattfinden soll. Für die neue Verfassung will Chávez eine breite Basis schaffen, nützen soll sie aber vor allem dem Präsidenten. Denn dessen Rechte sollen bis hin zur Auflösung des Kongresses erweitert werden. Noch ist der Text nicht vollständig formuliert, doch stößt das Vorhaben gerade bei den Altparteien auf heftigen Widerstand. Wenige Tage nach Bekanntgabe des Präsidialdekrets rief die AD den Obersten Gerichtshof (CSJ) an. Hugo Chávez tobte. Wenn das Höchste Gericht den Prozeß stoppen werde, so der Präsident, ginge er „mit dem Volk auf die Straße“. Am 20. März konnte Chávez wieder aufatmen, denn der CSJ hatte das Dekret Nr. 3 für rechtens erklärt.
Wie schon im Wahlkampf warnen die traditonellen Machthaber nun vor einer drohenden Diktatur. Doch scheint die Angst vor dem Verlust von Privilegien und vor weiteren Enthüllungen des jahrzehntelangen Machtmißbrauchs im Vordergrund zu stehen. Nach einer ebenfalls für die Verfassungsgebende Versammlung angekündigten Justizreform könnten neue Korruptionsskandale aufgedeckt werden, die von loyalen Beamten vertuscht worden sind. Wenn Senat und Kongreß zusammengelegt werden, verlieren die ehemaligen Präsidenten möglicherweise ihre bislang sicheren Posten. Wie in Chile werden auch in Venezuela die Staats- und Regierungschefs nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt Senatoren auf Lebenszeit. Mit einer Fusion aus Senat und Kongreß stünden zudem weniger Sitze zur Verfügung. Einigen Mandatsträgern droht damit ein jähes Ende ihrer Karriere. Währen sich die AD hauptsächlich der Bekämpfung der Verfassungsgebenden Versammlung widmet und nicht müde wird, die Legitimität der Entscheidungen des neuen Präsidenten anzuzweifeln, zeichnet sich bei der COPEI ein radikaler Kohäsionsverlust ab. In 16 Bundesstaaten ist die Traditionspartei nicht mehr vertreten. Neben intensiven Diskussionen um die zukünftige Richtung der Partei mehren sich auch Anzeichen für eine Spaltung.

Tanz zwischen den Stühlen

Für Chávez stellen sich die ersten Wochen der Amtszeit als Tanz zwischen den Stühlen dar. Will er nicht die großen Erwartungen der armen Bevölkerung, und damit seiner Wähler- und jetzigen UnterstützerInnen, enttäuschen, muß er nicht nur den Filz aus Parlament und Verwaltung entfernen, sondern vor allem den Lebensstandard anheben. Seit seiner Wahl ist er deshalb ständig im Ausland unterwegs, um bei Investoren und Regierungen um Gelder und Unterstützung zu werben. Bereits am Tag seiner Wahl sendete „das Chamäleon“, wie Chávez vielfach genannt wird, eine „Botschaft des Vertrauens“ an ausländische Investoren. Er versucht mit kapitalfreundlicher Rhetorik, die Befürchtungen zu zerstreuen, die bei Aktionären und Geldgebern angesichts seiner populistischen Umverteilungsversprechen im Wahlkampf aufgekommen waren. In Spanien erhielt er nun die Zusage für 800 Mio. US-Dollar zum Bau eines Eisenbahnnetzes. Dies könnte ein erster Schritt sein, die Fixierung auf LKW und Busse als Transportmittel – und damit auf Öl – zu beenden.
Nützlich für Venezuelas Volkswirtschaft und damit für den politischen Erfolg des Präsidenten wird sich zumindest kurzfristig auch die Einigung der Opec-Staaten auf niedrigere Fördermengen auswirken. Auf ihrem Gipfel am 23. März in Wien beschloß die Organsiation erdölexportierender Länder ab 1. April rund 1,7 Millionen Barrel des „schwarzen Goldes“ weniger pro Tag aus dem Erdreich zu pumpen. Ein Barrel soll bald ca. 20 US-Dollar kosten. Das wäre eine Erhöhung um mehr als 50 Prozent und für Venezuelas Staatsfinanzen ein Segen, denn besonders die Devisenreserven haben einen gefährlich niedrigen Stand erreicht. In einer ungünstigen Konstellation – etwa bei starken Kursverlusten in Brasilien – könnte eine Hyperinflation wie 1983 kaum mehr abgewendet werden. Doch ob sich tatsächlich alle Opec-Staaten an die Einigung halten werden, ist offen. In der Vergangenheit hatte gerade auch Venezuela ähnliche Abkommen immer wieder ignoriert.
Noch eine weitere Instanz muß Chávez in Schach halten: das Militär. Die Generäle hatten zwar nie die Macht eines Augusto Pinochet oder Jorge Videla, doch ohne ihre Duldung kann Chávez nicht regieren. Gegenwärtig muß er sich nicht allzusehr sorgen, weil die Mehrzahl der Bevölkerung hinter ihm steht und ein Putsch nur mit drastischen Repressionen durchzusetzen wäre. Außerdem hat „El Comandante“ vorgesorgt: Gleich zu seinem Amtsantritt veranlaßte er, die Teilnehmer an seinem eigenen Putsch wieder in die Armee zurückzuholen. Die fungieren nun als Rückhalt im Militär.
Wenn der neue Präsident auch unberechenbar scheint und noch längst nicht geklärt ist, ob seine Regierungsweise nach der Verfassungsgebenden Versammlung diktatorische Züge annimmt: Allein durch die monatelange Diskussion um Grundfragen der Demokratie wie Gewaltenteilung, Partizipation und Meinungsfreiheit ist Bewegung in die lange erstarrte politische Auseinandersetzung Venezuelas gekommen. Sollte sich Chávez allerdings, ausgestattet mit weitreichenden Vollmachten, nach der Verabschiedung einer neuen Verfassung als Tyrann entpuppen, kann es wie 1989 nach der neoliberalen Wende unter Pérez zu schweren Unruhen kommen. Auf eine illegale Landbesetzung, an der laut International Herald Tribune 15000 Familien beteiligt sind, hat der Präsident noch nicht mit Zwangsmaßnahmen reagiert. Er weigerte sich, trotz massiver Forderungen seitens der Wirtschaft und oppositioneller Parteimitglieder nach Intervention, die Guardia Nacional auf die BesetzerInnen zu hetzen. Das immerhin hätte es bei AD und COPEI nicht gegeben.

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