Chile | Nummer 373/374 - Juli/August 2005

Chile sucht noch immer nach seinen Verschwundenen

Interview mit dem chilenischen Menschenrechtler Víctor Maturana

Bis heute sind die Wunden, die durch brutalste Repression gegen die BürgerInnen, Mord, das Verschwindenlassen von Personen, Inhaftierung, Folter und Exilierung tausender ChilenInnen verursacht wurden, nicht geheilt. Auch 15 Jahre nach dem Ende der Diktatur geht der Kampf um die Aufarbeitung des gesellschaftlichen Traumas weiter, das der Putsch des Militärs gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Allende 1973 und die 17 Jahre währende Diktatur Pinochets hinterließen. Die Opfer und ihre Angehörigen sowie zahlreiche Menschenrechtsorganisationen treten vehement gegen das Vergessen der Vergangenheit ein. Sie fordern endlich Gerechtigkeit und ein Ende der Straflosigkeit. So auch das Zentrum zur Erforschung und Förderung der Menschenrechte CINPRODH, das seit 1992 Angehörige von Opfern betreut.

Interview: Mariano Paliza, Marco Rodríguez

Worin besteht die Aufklärungsarbeit der CINPRODH über die Menschenrechtsverletzungen, die während der Pinochet-Diktatur in Chile begangen wurden?

Wir kämpfen für die Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen. In Temuco, wo unsere Institution ihren Hauptsitz hat, gab es 106 verschwundene Gefangene (detenidos-desaparecidos). Bis jetzt haben wir die sterblichen Überreste von drei Personen ausfindig machen können. Es sind also noch 103 Fälle ungeklärt. Das heißt, die Aufgabe liegt im Grunde noch als ganze vor uns.
Der CINPRODH standen für ihre Ermittlungen weder finanzielle Mittel zur Verfügung noch wurde eine juristische Genehmigung erteilt. Wir arbeiteten ohne jegliche staatliche Unterstützung. Aber wir haben dem bürokratischen Staatsapparat einmal mehr gezeigt, dass mit einem starken Willen alles erreicht werden kann. Dieser hatte nämlich, zwar mit finanziellen Mitteln und sämtlichen Genehmigungen ausgestattet, aber eben ohne echten Willen, nichts gefunden. Nach anstrengenden Nachforschungen konnten wir nur durch das große Engagement unserer Mitarbeiter die Orte heraus finden, an denen sich die Überreste der Verschwundenen befanden.

Wie wurden die Orte denn schließlich gefunden?

Wir haben eine mühselige Ermittlungsarbeit auf den Friedhöfen der Region durchgeführt. Wir wussten, dass viele Opfer unter den Siegeln NN (Nicht Identifiziert) begraben wurden. Nachdem wir die Archive verschiedener Friedhöfe untersucht hatten, fanden wir die drei Personen, die auf der Liste der verschwundenen Opfer der Diktatur eingetragen waren, auf den Friedhöfen von Imperial und Lautaro. Beide Gegenden liegen in der Nähe von Temuco in der Neunten Region Chiles. Außerdem fanden wir die Begrabungskarteikarten, die nach dem 11. September 1973 angefertigt wurden. Auf ihnen wurde die Todesursache vermerkt: Bei den drei Opfern handelte sich es um Schädeltrauma und Schusswunden.

Hat eine Ausgrabung der Leichen stattgefunden?

Ja. Zunächst haben wir die entsprechenden Anzeigen vor den Gerichtshöfen, die in den Fällen von verschwundenen Gefangenen ermitteln, gemacht. Diese ordneten die Exhumierung der Leichen unter Aufsicht von Gerichtsmedizinern an. So konnten die Leichen der drei compañeros identifiziert werden. Auf dem Friedhof von Imperial handelte es sich um einen Studenten, auf dem in Lautaro um zwei Bauernführer. Alle drei waren Mapuche und wurden in dieser Gegend ermordet.

Habt Ihr nach diesen Funden eure Suche fortgesetzt, um weitere Gräber von Verschwundenen zu finden?

Wir haben mehrere Versuche unternommen, leider sind bisher jedoch alle misslungen. Wir bekommen immer wieder Hinweise und Informationen zu weiteren Fällen. Wir überprüfen zunächst alle bei uns eingegangenen Anzeigen, um die Ernsthaftigkeit ihrer Quellen zu bestimmen. Wenn sie sich als stichhaltig erwiesen haben, dann verständigen wir den entsprechenden Richter, der für den Fall zuständig ist. Bei einer der letzten Anzeigen, die wir gemacht haben, handelte es sich um einen Fall, wegen dem ich den Justizminister Guzmán in Santiago getroffen habe. Daraufhin fuhr der Minister persönlich zu dem Ort, wo sich angeblich die Überreste eines detenido-desaparecido befanden. Aber bei den Ausgrabungsarbeiten wurde leider nichts gefunden.

Woran liegt es, dass es immer wieder falsche Fährten gibt?

Dass immer wieder Versuche misslingen, zumindest die, bei denen wir die Überreste der verschwunden Gefangenen nicht ausfindig machen konnten, hängt mit einem wichtigen Ereignis im Jahr 1978 zusammen, als die „Öfen von Lonquen“ entdeckt wurden. In diesen Kalköfen wurden die Überreste zahlreicher Opfer der Diktatur gefunden. Das entfachte einen Skandal, der dem Ansehen der Diktatur zu schaden drohte. Woraufhin Pinochet beschloss, heimlich alle Beweise zerstören zu lassen, die Aufschluss über die Überreste der Opfer hätten geben können. Der Diktator gab den militärischen und polizeilichen Einheiten des Landes den Befehl, alle Spuren der detenidos-desaparecidos zu verwischen und sie endgültig verschwinden zu lassen. Daraufhin wurden ihre Leichen von den Orten, wo sie sich befanden, entfernt, und man begann sie zu verbrennen.

Gibt es Beweise für dieses makabere Unterfangen?

Natürlich! Die Operation hieß „Verlegung von Fernsehern“. Das geheime Dokument wurde in einem Archiv der Diktatur gefunden und veröffentlicht. Es ist von Pinochet höchstpersönlich unterzeichnet. Die Friedhöfe von Linares und Los Angeles waren zwei der wichtigsten Verbrennungszentren der ersten Opfer der chilenischen Militärdiktatur.

Glauben Sie, dass es unter diesen Umständen noch möglich sein wird, weitere Leichen zu finden?

Es wird sehr schwierig sein, aber nicht unmöglich. Mit dieser Operation, die ein „zweites Verschwindenlassen“ bedeutete, sollte die endgültige Auslöschung der Personen erreicht werden. Aber es gab und gibt immer noch Personen, die sich erinnern und uns mitteilen, wo sich Überreste von Opfern befinden könnten. Jedoch sind es meistens Informationen über die Orte, wo die Opfer ursprünglich begraben wurden. Die Leute wissen nicht, dass die Leichen auf Pinochets Befehl später entfernt wurden. Aber ihre und unsere Hoffnung, dass wir sie eines Tages finden werden, lebt weiter!

Ende der 90er Jahre gab es einen Runden Tisch, an dem VertreterInnen der Kirche, den Streitkräften und der Regierung, AnwältInnen und MenschenrechtlerInnen, sowie Angehörige der Opfer zusammen kamen. Dort wurde unter anderem vereinbart, dass sich die Militärs an der Aufklärung der Menschenrechtsverbrechen beteiligen würden. Die in ihrem Bericht veröffentlichten Daten erwiesen sich jedoch als falsch. Das Militär hatte also niemals die Intention, bei der Suche nach den Opfern zu helfen?

An diesem so genannten Mesa de Diálogo, der von Eduardo Frei (chilenischer Präsident 1994-2000, Anm. d. Red.) geschaffen wurde, wurde versucht, sich auf Grundprinzipien zu einigen, die die Suche nach den detenidos-desaparecidos ermöglichen würden. Das Ergebnis nach neun Monaten war ein sehr umstrittener Bericht.
Ein positives Ergebnis des Runden Tischs war, dass die Streitkräfte zum ersten Mal die Menschenrechtsverletzungen und die Existenz von verschwundenen Gefangenen öffentlich zugaben. Es kam zu dem Bekenntnis, dass bestimmte ‘undisziplinierte Kommandos’ der Streitkräfte, jedoch nicht das Militär als Institution, entgegen der hierarchischen Strukturen und nach eigenem Willen handelten und Menschenrechtsverletzungen begingen.
Das Militär gab vor, eine Lösung für das Thema der Suche nach den Verschwundenen finden zu wollen. Im Grunde wollten sie „das Problem“ jedoch endlich für beendet erklären. Es wurden also Namen von Personen veröffentlicht, die angeblich ins Meer geworfen wurden, die in Wahrheit jedoch an verschiedenen Orten begraben worden waren. Als herausgefunden wurde, dass sie gelogen hatten, fiel der ganze Bericht in sich zusammen. Der Runde Tisch war ein Misserfolg, das erhoffte Ergebnis wurde nicht erzielt. Die Weigerung der Militärs, bei der Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen zu kollaborieren, zeigte sich aufs Neue.

Wie sieht die Lage der Grund- und Menschenrechte heutzutage in Chile aus? Werden nach den schrecklichen Erfahrung unter der Diktatur und ihren Folgen die Rechte von Minderheiten wie der Mapuche oder von Frauen und Kindern geachtet und gewährleistet?

Zunächst gibt es natürlich einen großen Unterschied zwischen der Zeit der Diktatur und der heutigen Demokratie. Der Staat verhält sich jedoch unterschiedlich gegenüber verschiedenen sozialen Gruppen. Gegenüber den ethnischen Minderheiten zum Beispiel gibt es eine Politik, die existierenden Konflikte um Land zu unterdrücken. Es wird sehr repressiv gegen sie vorgegangen, zum Beispiel mit extremen juristischen Mitteln.
Außerdem wird gegen die Mapuche, die wegen Landkonflikten inhaftiert sind, das Antiterrorgesetz über Innere Sicherheit angewendet. Das ist das repressivste Gesetz, das es in Chile gibt. Es wurde von Pinochet gegen mutmaßliche Mitglieder von Untergrundbewegungen verabschiedet. Diejenigen, die nach diesem Gesetz verurteilt wurden, haben kein Recht auf Begünstigungen der Haftbedingungen, das jeder Verurteilte in einer Demokratie normalerweise hat. Eine der Forderungen der Menschenrechtsorganisationen ist die Anullierung dieses Gesetzes.
Im Gegensatz dazu wurden in Bezug auf die Lage der Rechte der Frau in Chile sehr gute Forschritte gemacht. Zum Beispiel gibt es ein neues Gesetz über die Arbeitsrechte der Frauen und über familiäre Gewalt. Außerdem wurde ein Nationaler Dienst für Frauen (SERNAM) auf ministerieller Ebene geschaffen. Auch bei den Rechten der Kinder, ihrem Schutz und der Erziehung wurden viele Fortschritte erzielt.

ZUR PERSON:

Víctor Maturana ist Direktor und Gründungsmitglied des chilenischen Zentrums zur Erforschung und Förderung der Menschenrechte (CINPRODH), das in Temuco, 800 Kilometer südlich von Santiago, seinen Hauptsitz hat. Wegen seinen Aktivitäten als Gewerkschafter wurde er selbst Opfer der Militärdiktatur von Augusto Pinochet. Viele Jahre verbrachte er im Gefängnis und wurde schließlich abgeschoben. Wegen “illegaler Einreise” in seine Heimat wurde er erneut inhaftiert.
CINPRODH wurde gleich nach dem Ende der Diktatur 1991 durch sechs ehemalige politische Gefangene, HeimkehrerInnen aus dem Exil und von Angehörigen der Opfer gegründet. Das erklärte Ziel der Institution ist die Aufklärung tausender Fälle von Verschwundenen, über deren Schicksal noch immer Ungewissheit herrscht und anderer Menschenrechtsverletzungen in Chile, besonders im Süden des Landes. Ein weiterer Schwerpunkt des komplett ehrenamtlich arbeitenden Zentrums bildet die Angehörigenberatung. Ihre Arbeit konzentriert sich auf vier Bereiche: die Systematisierung/Archivierung von Informationen, die Bewahrung der 17 Jahre währenden Diktatur im historischen Gedächtnis, die Suche nach den Verschwundenen sowie die juristische Unterstützung und Förderung der Menschenrechte.

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