Argentinien | Nummer 381 - März 2006

Cine Memoria in Argentinien

Dokumentarfilme über Diktatur und die Rolle der Erinnerung

In den letzten Jahren entstanden in Argentinien eine Reihe von Dokumentationen, die sich mit der gewaltsamen Vergangenheit und ihren Auswirkungen auf die Gegenwart auseinander setzen. Die künstlerische Beschäftigung mit den Verbrechen der Diktatur stellt für die RegisseurInnen aber nicht nur die Reflektion über die eigene Identität dar. Sie dient vor allem auch dazu, ein kollektives Gedächtnis zu schaffen.

Olga Burkert, Marcos Barra

Man muss mit der Erinnerung zusammen leben, denn der Tod ist so stark, dass die Erinnerung die einzige Möglichkeit ist, ihn zu neutralisieren…“ Dies scheint das Leitmotiv zahlreicher junger argentinischer FilmemacherInnen zu sein. Auch wenn jede/r einzelne/r die eigene künstlerische Auseinandersetzung nach persönlicher Optik gestaltet, so ist doch allen gemeinsam, dass die jüngere Geschichte Argentiniens sie mit einer Reihe unbeantworteter Fragen zurück ließ.
So entstanden in den letzten Jahren diverse Filme und Dokumentationen, die, vom Hier und Jetzt ausgehend, sich dem Gewesenen stellen. In ihnen wird versucht, die gerade verheilenden Wunden einer Gesellschaft wieder aufzukratzen. Einer Gesellschaft, die sich nicht zu helfen weiß, die bis heute angesichts des Verhängnisses der Vergangenheit stumm und regungslos bleibt.
Aber in der Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart stehen zu bleiben, das Erinnerte einfach hinzunehmen, auszublenden, was störend scheint oder sogar das Vergangene neu zu erfinden, hieße der Erinnerung auszuweichen. Die RegisseurInnen laden die ZuschauerInnen ein, über die Konstruktion der eigenen Identität nachzudenken – ihrer persönlichen und die der gesamten Gesellschaft. Sie gehen dabei von einer Leerstelle aus: Die, die ihre Eltern hinterlassen haben, die während der letzten Militärdiktatur in Argentinien verschwanden und ermordet wurden.
Einige RegisseurInnen gehen von individuellen Gefühlen, Motivationen oder Alltagserfahrungen aus, in ihren Geschichten vermischen sich das Heute und das Gestern. Andere wiederum, wie Laura Bondarevsky, gehen den Verflechtungen der Militärdiktaturen Uruguays, Chiles und Argentiniens nach. So wie die Militärs die Repression über die nationalen Grenzen hinweg organisierten, agieren heute in allen drei Ländern Organisationen von Kindern Verschwundener, die diese Repression hinterließ. Laura Bondarevsky begleitet in ihrer filmischen Doku-Collage ChéVoCachai mehrere der ProtagonistInnen, die sich auf der Suche nach ihrer Identität in der Organisation H.I.J.O.S. (Kinder für die Identität und Gerechtigkeit, gegen Schweigen und Vergessen) zusammen geschlossen haben. Der Titel des Films leitet sich aus umgangssprachlichen Ausdrücken ab, die für die drei Länder typisch sind: die argentinische Anrede ché, das uruguayische vo und das chilenische cachai, das soviel bedeutet, wie „Kapierste?“ Laura selbst sagt über den Film: „Die Protagonisten und Erzähler dieses Films sind junge Uruguayer, Argentinier und Chilenen. Sie haben untereinander Kontakt aufgenommen und sich kennen gelernt. Die Kamera reist von Argentinien nach Uruguay, und von dort nach Chile, der Spur derjenigen folgend, die in den 1970er Jahren jung waren und für eine gerechtere Gesellschaft kämpften. Sie mussten von einem ins andere Land fliehen. Im Verlauf des Films zeigt sich, dass, wenn die Repression keine Grenzen kannte, der Kampf gegen die Straflosigkeit auch keine haben darf!“

Neue filmische Wege

Aber die FilmemacherInnen versuchen, nicht bei einem bloßen Dokumentations-Testimonialkino stehen zu bleiben. Sie wollen neue kinematographische Techniken ausprobieren. Albertina Carri zum Beispiel filmt sich in Los Rubios (Die Blonden) selbst und wird gleichzeitig von der Schauspielerin Analía Couceyro dargestellt. Letzte spielt nicht nur Albertina, sondern kündigt zu Beginn des Films ihr Spiel sogar an: „Ich bin Analía Couceyro und in diesem Film repräsentiere ich Albertina Carri.“ So wird eine Distanz zu den ZuschauerInnen geschaffen und ihre direkte Identifizierung mit der Regisseurin und ihrem Schmerz vermieden. Doch wirkt Carris Geschichte in der Dopplung der ersten Person um so intensiver.
Benjamín Ávila wiederum bewegt die ZuschauerInnen mit seinem Dokumentarfilm Nietos, Identidad y Memoria (Enkel, Identität und Erinnerung) über die Kinder von Verschwundenen, die während der Diktatur in geheimen Folterzentren zur Welt kamen. Einige der Mütter der Plaza de Mayo, die nach ihren verschwundenen Kindern suchten, wurden zu Großmüttern, die bis heute versuchen, ihre Enkelkinder zu finden. Ávila erklärt nachdrücklich seinen Standpunkt: „Wir wollten nicht noch einen Dokumentarfilm des historischen und politischen Revisionismus machen. Wir wollten Situationen hervorrufen, die eine Diskussion über Erinnerung anregen. Und zwar vom Hier und Jetzt ausgehend, mit der Perspektive der neuen Generation – das ist was der Film vermitteln will: eine Thematik der Gegenwart, nicht der Vergangenheit.“

Cine Ojo

Seit 1986 gibt es in Buenos Aires auch die Produktionsfirma Cine Ojo, die von Carmen Guarini und Marcelo Céspedes gegründet wurde. Ihr Ziel ist es, einen eigenen Stil auf dem Feld der Dokumentarfilme zu entwickeln. Heute ist Cine Ojo die einzige Produktionsfirma in Argentinien, die sich ausschließlich auf die Realisierung von AutorInnen-Dokus im Kinoformat spezialisiert hat. Über einen Zeitraum von 17 Jahren gelang es Cine Ojo, einen ethischen und ästhetischen Diskurs über die Realität zu konstruieren, der über rein dokumentarische Kriterien hinausgeht. 2002 produzierte Cine Ojo H.I.J.O.S. El alma en dos (H.I.J.O.S. Mit geteilter Seele), der den Entstehungsprozess dieser Menschenrechtsorganisation von Kindern Verschwundener reflektiert. In dem Film wird deutlich, dass das kollektive Gedächtnis nicht bloßes Erinnerungsfragment, sondern ein soziales Instrument ist, mit dem die Gegenwart und die potenzielle Zukunft verändert werden kann. Er stellt einen Aufruf an das Bewusstsein, aber auch an das Unterbewusstsein der Gesellschaft dar. Den ZuschauerInnen soll gezeigt werden, dass die Toten und Gefolterten Teil einer Strategie waren, die zum Ziel hatte, den Menschen als soziales Wesen auszulöschen und Terror und Angst in das gesellschaftliche Leben einzupflanzen.
All diese filmischen Realisierungen vermischen soziale Haltungen mit einer audiovisuellen Sprache. Der Dokumentarfilm besitzt aufgrund seiner Verankerung in der Realität, die er gleichzeitig zu repräsentieren versucht, vielfältige Möglichkeiten. Er kann aufzeigen, einfordern oder anklagen, was auf gesellschaftlicher Ebene vermisst wird. So dient er als Werkzeug der sozialen Transformation.

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