Cine Piquetero
Eine neue politische Filmbewegung am Río de la Plata
Mit der Videokamera in der Hand gingen junge FilmemacherInnen während der Aufstände in Argentinien im Dezember 2001 auf die Straße, dokumentierten die Demonstrationen und die Repression der Polizei, der 33 Menschen zum Opfer fielen. Sie haben sich in Filmkollektiven organisiert mit Namen wie Cine Insurgente (Aufstandskino) und Argentina Arde (Argentinien brennt) und verstehen sich als organischen Teil der Widerstandsbewegung: als Cine Piquetero.
Während der sich überstürzenden Ereignisse Ende 2001 wurde ein Großteil des Filmmaterials belichtet, eilig zusammengeschnitten und in Form von Kurzreportagen zurück zu den Menschen auf den Protestveranstaltungen und Asambleas auf die Straße gebracht.
Vier dieser Filme werden in diesem Jahr auf der Berlinale gezeigt. Nicht erwarten sollte man professionelle Dokumentationen. Die Filme haben keinen großen ästhetischen Anspruch und die politische Analyse ist nicht tief gehend. Aber sie dokumentieren eindrucksvoll die Ereignisse in Argentinien, geben die Stimmung wieder, die zu dieser Zeit in den Straßen von Buenos Aires herrschte. In den Filmen spiegelt sich die Wut auf die Lügen und die Verantwortungslosigkeit der politischen Klasse Argentiniens wider und auf die herrschende Straflosigkeit. Zwischen Szenen von Straßenkämpfen vor dem argentinischen Regierungssitz sind Bilder des Exdiktators Galtieri und Fernsehaufnahmen von Expräsident Menem geschnitten. Plötzlich knallen Schüsse, eingespielt aus dem Off, beim nächsten Schnitt hält die Kamera auf einen der toten Demonstranten auf dem Asphalt. In einer anderen Dokumentation mit viel ruhigerer Atmosphäre, kommen AktivistInnen im Rentenalter zu Wort. Und ein kurzer, plakativer Film, der durch Aufbau und Zweck praktisch wie ein Flugblatt auf Videoband funktioniert, ruft auf zu Unterstützung und Spenden für eine von ArbeiterInnen besetzte Fabrik.
Die Dokumentationen haben den Anspruch, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen und dort zu informieren, wo Fernsehstationen und Zeitungen schweigen oder in die Irre leiten. „Wir setzen unsere Videos auch als Waffe ein“, berichtet Fernando Krichmar von Cine Insurgente. So konnte beispielsweise der Tod zweier junger Piqueteros mittels Fotos und Aufnahmen der Gruppe Argentina arde aufgeklärt werden. Die Bilder entlarven die Lügen des Machtapparates, der behauptete, die beiden seien bei bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Piqueteros ums Leben gekommen.
Der politische Dokumentarfilm hat gerade in Argentinien eine bewegte Tradition. Die berühmte Dokumentation La hora de los hornos (Die Stunde der Feuer) wurde Ende der 60er Jahre von Fernando E. Solanas und Octavio Cetino mit ihrer Filmgruppe Cine Liberación (Befreiungskino) während einer der besonders repressiven Perioden argentinischer Diktaturen im Untergrund produziert. Die filmische Attacke gegen Neokolonialismus, Imperialismus und kapitalistische Ausbeutung konnte in Argentinien und vielen anderen lateinamerikanischen Staaten über Jahrzehnte nur klandestin gezeigt werden. Dieses Meisterwerk des politischen Films wird im nächsten Jahr eine Fortsetzung finden, wie Solanas in einem Interview bekannt gab. Sein Plan sei, in einem etwa dreistündigen Filmessay die letzten 20 Jahre argentinischer Geschichte zu reflektieren und die Situation im heutigen Argentinien zu dokumentieren.
Im vergangenen Jahr erhielt der Dokumentarfilm Un altro mondo è possibile (Eine andere Welt ist möglich) viel Lob auf der Berlinale. Die Gemeinschaftsproduktion von 33 italienischen Regisseuren dokumentiert die Ereignisse während des G8-Gipfels 2001 in Genua, bei denen zahlreiche Menschen verletzt und der junge Demonstrant Carlo Giuliani von italienischen Polizisten ermordet wurde. Damals wurde die Tatsache, dass gerader dieser politische Film mit Nachdruck auf das Festival eingeladen wurde, als Zeichen für einen neuen Wind gewertet, den der Wechsel der Festivalleitung mit sich brachte. Diese Richtung wird beibehalten mit den argentinischen Dokumentarfilmen, die vom Internationalen Forum des Jungen Films eingeladen wurden. Auch wenn die Filme vom Cine Piquetero qualitativ nicht mit dem italienischen Film mithalten können, so sind sie doch sehenswerte Zeugnisse der politischen Bewegungen in Argentinien. Und es spricht sehr für das Berliner Festival, dass die Aufführung dieser Filme vor einem internationalen Publikum ermöglicht wird.
Cine Piquetero wird im Rahmen des Forum des internationalen Films auf der Berlinale (6. Bis 16. Februar) gezeigt
Kasten
Machos, Macht und Moneten
Der Kurzfilm Aquí iba el himno von Sergio Umansky
Filme über die Korruption in Mexiko gibt es zu Genüge. In Sergio Umanskys 35mm-Erstlingswerk Aquí iba el himno („Hier war die Nationalhymne“) werden zwei jungreiche Papasöhnchen, Ricardo und Alain, in einem protzigen, silberglänzenden Audi nach einem Drogendeal von Capitan Yaqui entführt und erpresst. Doch zum Glück ist Umanskys Film nicht nur ein Film über korrupte Polizisten.
Die Anfangsszene zeigt zwei coole Jugendliche mit Sonnenbrillen, die sich derb über die arme Bevölkerungsschicht lustig machen. Ein paar Minuten später wird der Spieß umgedreht. Bist du ein cabrón oder ein puto? Ein Macho oder ein Schwuler? Ricardo hat sich mit dem Maschinengewehr am Kopf zu entscheiden und weiß, dass keine der Antworten richtig sein kann. Ein cabrón ist jemand, dem man mit Respekt begegnen muss. Er übt Macht auf andere aus und missbraucht sie. Ein Sinnbild des Überlegenen, des Machos. Der Unterlegene ist ein Weichling, ein Schwuler. Die Beziehung des Machos zu Frauen wird hier nicht thematisiert. In dem Film geht es um Mann gegen Mann. Umansky spielt mit Macht, verbaler Erniedrigung und zitiert dabei Iñárritus „Amores Perros“. Ein filmischer Schlagabtausch unter Regisseuren.
Das Gefühl von Macht hängt aber nicht nur am Maschinengewehr, denn zwischenzeitlich hat Ricardo es selber in der Hand. Capitán Yaqui drängt ihm die Knarre auf, um zu beweisen, dass seine Macht nicht nur an der Waffe hängt.
Gewisse öffentliche Ämter sind eng mit Macht verbunden. Gerechtigkeit und Gesetz sollten gerade hier durch objektive Kriterien bewertet und vollzogen werden. Dass das in Mexiko nicht so ist, macht die Sache bedrohlich. Und da soll noch einer seinem Land mit Respekt begegnen.
Komprimiert, witzig, voller sprachlicher Anzüglichkeiten. Der mexikanische Schimpfwortgebrauch in vollster Blüte, präzise ausgearbeitet und nicht nur platt daherkommend. Cabrón!
Georg Neumann