Film | Nummer 332 - Februar 2002

Cineastische Sumpfblüten

Der aktuelle Kreativitätsboom im argentinischen Kino

Ist das argentinische Kino von der Krise gebeutelt, oder erlebt es momentan gerade deswegen eine besonders spannende Zeit, weil die Situation im Lande ein unerschöpfliches Reservoir für Geschichten bietet? Oder ist vielleicht beides zugleich der Fall? – Betrachtungen zum argentinischen Kino der letzten Jahre.

Bettina Bremme

Die Geduld hat ein Ende!“ – „Die Leute demonstrieren, die Leute protestieren!“ schallen gleich zu Beginn des argentinischen Spielfilms „Un día de suerte“ (Ein Glückstag) Stimmen von der Leinwand. Wir sehen Menschenmengen auf der Straße, ein Nachrichtensprecher berichtet von Protesten dagegen, dass in einem Viertel der Strom abgeschaltet wurde. Das frisch fertig gestellte Erstlingswerk der jungen Regisseurin Sandra Gugliotta ist wahrscheinlich der erste Spielfilm, der die aktuellen cacerolazos (Kochtopfkonzerte) in Argentinien in seine Handlung eingebaut hat (Näheres siehe Artikel in diesem Heft). Eine fiebrige Energie geht von „Un día de suerte“ aus, der auf der diesjährigen Berlinale im „Forum“ zu sehen ist: Hektischer Leerlauf und Chaos, Menschen, die nichts wie weg wollen, andere, die bleiben, tränenreiche Abschiede und ganz viel Aufbruch ins Ungewisse.
Die argentinische Kultur erlebe zurzeit, so die Schauspielerin Norma Aleandro im Dezember gegenüber der spanischen Zeitung El País, eine erstaunliche Blüte: „Das Kino, das Theater, die bildenden Künste… Es ist beeindruckend. Die Krise hat die Fantasie in Gang gesetzt. Es handelt sich um eine schwere Krise, jedoch nicht um die schlimmste, die wir erlebt haben. Schlimmer noch war die Militärregierung. Diese Krise liquidiert die Mittelklasse und trifft die Leute mit geringen Ressourcen, aber die Leute geben nicht auf!“ Auf die Frage nach dem Geheimnis, warum es derzeit in Argentinien so viele gute FilmemacherInnen und SchauspielerInnen gebe, meint Norma Aleandro: „Es gibt eine sehr gute Kino- und Theaterschule. Und das Kinoinstitut (das staatliche Institut INCAA, Anm. d. Red.) funktioniert sehr gut.“
Norma Aleandros jüngere Kollegin Cecilia Roth sieht die Situation der Filmleute in Argentinien dagegen wesentlich pessimistischer. So meint sie im Juni 2001, ebenfalls gegenüber El País: „Ich weiß nicht, ob wir Argentinier ein komisches Gen in uns tragen, weil wir es bis zum Schluss ertragen, uns zu Komplizen von was auch immer zu machen, und wenn die Dinge nicht mehr in Ordnung zu bringen sind, beginnt erst der Kampf. Es ist ein Land, das seine Leute auskotzt und vertreibt. Alle versuchen, der Verzweiflung zu entfliehen, aber sie können es nicht, es gibt keine Projekte, es gibt keine Zukunft.“ Was die Zukunft junger Filmleute in Argentinien angeht, ist Cecilia Roth skeptisch: „Das Traurigste ist, dass das Land voller junger Leute mit enormem Talent ist, die alleine dastehen, ohne jegliche Unterstützung, weder von Seiten der Regierung noch der Main-Stream-Companies. Und trotz all dem kommen einige ans Tageslicht, es gibt neue Filmemacher, die sehr interessant sind. Wie zum Beispiel Lucrecia Martel, die Autorin von „La ciénaga“ ( Der Morast, 2000)

Kino im Morast der Gesellschaft

„La ciénaga“ war auf der letztjährigen Berlinale eine der beeindruckenden Überraschungen. Der damals 33-jährigen Regisseurin Lucrecia Martel gelang es, ihr Erstlingswerk als ersten argentinischen Film überhaupt im Wettbewerb der Berlinale zu platzieren. Der Geschichte einer im Sumpf von Apathie und Dekadenz vor sich hin modernden Familie der oberen Mittelklasse diente der Regisseurin ihre eigene Sippschaft als Vorbild! Sie ist das beklemmende Bild einer ganzen Gesellschaft, die bei lebendigem Leibe verwest. In „La ciénaga“ holt sich ständig jemand Wunden und Blessuren, ohne dass es die anderen sonderlich kratzt. Alle haben genug mit sich selbst zu tun. Die Eltern wanken in einer Wolke aus Alkohol und Apathie durchs Haus, während die Kinder versuchen, die Zeit totzuschlagen.
Die rückhaltlose Kritik an der moralischen Korruption der argentinischen Gesellschaft prägt auch den Film „No quiero volver a casa“ (Ich möchte nicht nach Hause, 2000), der ebenfalls von einer jungen Regisseurin stammt, Albertina Carri. Hier wachsen Jugendliche sowohl der Unter- als auch der Oberschicht in einem Milieu emotionaler Verwahrlosung, in einem absoluten Wertevakuum auf. Während ringsherum die familiären und sozialen Bande verrohen und Mord zum probaten Mittel wird, um sich Vorteile zu verschaffen, verplempert die Mutter der Protagonistin ihre leeren Tage in eleganten Schuhgeschäften.
Bei aller wütenden Kritik an den herrschenden Klassen kommen die ärmeren Bevölkerungsschichten in den Filmen des jungen argentinischen Kinos ebenfalls alles andere als gut weg. Sowohl bei „No quiero volver a casa“ als auch bei dem 1997 entstandenen „Pizza, birra, faso“ von Bruno Stagnaro und Israel Caetano leben auch Unterschichtskids abgestumpft in den Tag hinein, hängen rum oder rauben ab und zu mal jemanden aus. In „Mundo grúa“ (Die Welt der Kräne, 1999) von Pablo Trapero wurschteln ein 50-jähriger arbeitsloser Bauarbeiter und sein 19-jähriger Sohn sich durch ein Leben mit wenigen Höhen und vielen Durchhängern. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise kreiert Filme von beklemmender Intensität, welche die ZuschauerInnen oft deprimiert im Kinosessel zurück lässt. Auch die blutige Gangsterballade „Plata quemada“ (Verbranntes Geld) von Marcelo Piñeyro ist, auch wenn der Film sich auf einen realen Fall aus den sechziger Jahren bezieht, von einer inneren und äußeren Auswegslosigkeit durchzogen. Warum falsche Hoffnungen wecken, wo keine zu sehen sind, scheinen sich viele junge FilmemacherInnen zu sagen. In „Todos juntos“ (Alle zusammen, 2001) von Francisco León geht die Agonie eines jungen Paares sogar so weit, dass sie sich ohne erkennbaren Grund nacheinander von einem wildfremden Kerl in dessen Auto ficken lassen. In manchen Filmen bricht dagegen auch ein gewisser Galgenhumor, eine Verspieltheit hervor. Der Film „Silvia Prieto“ von Martín Rejtman (1998) steckt beispielsweise voller absurder Details und Verwicklungen. Der Regisseur treibt die innere Teilnahmslosigkeit der Protagonistin, einer jungen Jobberin, und das ziellose Sich-Treiben-Lassen mit lakonischer Ironie auf die Spitze.
Kein revolutionäres Subjekt nirgends. Auf diesen Punkt könnte man eigentlich alle argentinischen Filme der letzten Jahre bringen, die die aktuelle Situation thematisieren. Bemüht man sich, das Ganze politisch zu etikettieren, drehen sich die meisten Filme um das Durchlavieren in den Zeiten des Neoliberalismus. Die meisten der jugendlichen Anti-HeldInnen schlagen sich, wie Silvia Prieto oder Elsa aus „Un día de suerte“, mit stupiden Gelegenheitsjobs durch. Und wenn es so etwas wie eine private Utopie gibt, so besteht diese häufig in der Vorstellung, sich auf und davon zu machen. So träumen sowohl die Protagonistinnen von „No quiero volver a casa“ als auch von „Un día de suerte“ davon, nach Europa abzuhauen.

Der Focus auf den Spätfolgen der Diktatur

Eine Ahnung davon, warum ein guter Teil der argentinischen Bevölkerung mutlos und ohne inneren Kompass durchs Leben läuft, geben die Filme zu den Spätfolgen der Diktatur, die in den letzten Jahren entstanden. Gab es unmittelbar nach Ende der Militärjunta eine ganze Anzahl von Werken, die sich um die Aufarbeitung dieses Themas bemühten – als bekannteste sind „La historia oficial“ (Die offizielle Geschichte, 1986) von Luis Puenzo, „La noche de los lápices“ (Die Nacht der Bleistifte, 1986) von Héctor Olivera und „Sur“ (Süden, 1988) von Fernando E. Solanas zu nennen – gibt es in den letzten Jahren erneut eine Reihe von Filmen zu diesem Thema. „Garaje Olimpo“ (1998) von Marco Bechi begibt sich direkt in die Folterzentren der Geheimpolizei. Er schildert nicht nur die Leidensgeschichte einer politischen Gefangenen, sondern auch die feige Ambivalenz eines ihrer Bewacher, eines jungen Mannes, der in sie verliebt ist. Während die junge Frau gegen Ende des Films als eine von zehntausenden Verschwundenen in den Fluten des Rio de la Plata endet, genießen die Folterknechte weiter ein Leben in Freiheit.
Die meisten Filme, die sich mit dem Trauma der Militärdiktatur beschäftigen, setzen allerdings mittlerweile bei den Folgen im Hier und Jetzt an. So drehten sowohl die Uruguayer Gonzalo Arijón und Virginia Martínez („Por esos ojos“/ Für diese Augen, 1998) als auch der Argentinier David Blaustein („Botín de guerra“/ Kriegsbeute, 1999) Dokumentarfilme, in denen sie dem Schicksal der überlebenden Opfer nachspüren: Den Müttern und Großmüttern der Plaza de Mayo bei ihrer unermüdlichen Suche nach ihren „verschwundenen“ Enkelkindern. Im letzten Jahr entstanden auch zwei Spielfilme, die den Finger in diese Wunden legen.

Verlorene Kinder und verkrustete Wunden

In der spanisch-argentinischen Koproduktion „Los pasos perdidos“ (Die verlorenen Schritte, 2001) erzählt die Uruguayerin Manane Rodríguez, die seit 25 Jahren in Spanien lebt, ein familiäres Drama, das sich an einigen der bekannten Fälle von Kindesverschleppung orientiert: Die 20-jährige Mónica, die als wohl behütetes Töchterchen mit ihren argentinischen Eltern in Spanien lebt, wird auf einmal mit einem Mann konfrontiert, der behauptet, ihr leiblicher Großvater zu sein. Relativ konventionell gefilmt und erzählt, ist „Los pasos perdidos“ nichtsdestotrotz ein anerkennenswerter Versuch, das Drama der verschwundenen Kinder einem großen Publikum nahe zu bringen. Ungewöhnlich für ein solch unbequemes Thema ist, dass der Film international von dem US-Kommerzgiganten United International Pictures vertrieben wird.
Weitaus komplexer und gewagter dagegen ist „Vidas privadas“ (Privatleben, 2001) von Fito Paéz: Die 42-jährige Carmen, verkörpert von Cecilia Roth, kommt nach vielen Jahren zum ersten Mal nach Buenos Aires zurück, weil ihr Vater im Sterben liegt. Erst nach und nach erfährt das Publikum, was diese so abgebrüht wirkende Geschäftsfrau an Erinnerungen mit sich herumschleppt. Es bleibt der Phantasie überlassen, welche jahrelangen Anstrengungen ihre gutbürgerliche Familie unternommen haben muss, um das gewaltsame Verschwinden der damals schwangeren Carmen und ihres Mannes zu verdrängen. In „Vidas privadas“ sind Carmens Wunden von einer harten Kruste verschlossen, die es ihr unmöglich macht, sich jemandem emotional und sexuell zu öffnen. Lust empfindet sie nur durch eine Art akustischen Voyeurismus. Doch dann begegnet sie bei ihren geheimen Eskapaden in Buenos Aires einem jungen Mann, der sie auf merkwürdige Weise berührt… Fito Páez’ Versuch, psychisches Trauma und ödipales Verlangen miteinander zu verknüpfen, ist sicherlich ein bisschen heikel. Trotzdem haben bisher nur wenige den Mut gehabt, die libidinösen Verstümmelungen und die emotionale Taubheit, die die Folter hinterlassen kann, so drastisch auf die Leinwand zu bringen.
Neben den bisher erwähnten Dramen gibt es allerdings auch Filme, in denen der berühmt-berüchtigte bissige Humor der ArgentinierInnen zum Zuge kommt, der spontane Wortwitz und die Fähigkeit, über sich und andere die abgründigsten Scherze zu machen. Zwei Beispiele für gutes argentinisches Mainstream-Kino, dem es gelingt, das Tragikomische der gegenwärtigen Seinszustände zu erfassen, sind die Filme „Nueve reinas“ ( Neun Königinnen, 2001) von Fabián Bielinsky und „El hijo de la novia“ (Der Sohn der Verlobten, 2001) von Juan José Campanella.

Galgenhumor und betrogene Betrüger

In beiden Filmen spielt Ricardo Darín einen argentinischen Jedermann von Anfang vierzig, der versucht, sein eigenes Ding durchzuziehen, ohne sich groß um seine Umgebung zu scheren. In „El hijo de la novia“ ist er ein chronisch gestresster Restaurantmanager, der erst durch einen Herzinfarkt beginnt, von seinem Egotrip herunterzukommen. Permanent changiert der Film zwischen Drama und Tragikomik. Insbesondere die argentinischen Altstars Norma Aleandro, als an Alzheimer erkrankte Mutter, und Héctor Alterio, als deren Mann, schaffen es, diese Balance zu halten.
Während „El hijo de la novia“ zwar vom ganzen Stil her sehr argentinisch, von der Geschichte her jedoch recht universell ist, liegt bei der Gaunerfarce „Nueve reinas“ der Bezug zum Argentinien von heute auf der Hand: Zu Beginn tun sich der abgezockte Trickbetrüger Marcos und der unerfahrene Juan zusammen. Ihr Ziel: so schnell wie möglich so viel Geld wie möglich zu machen. Geben sie sich zu Beginn noch damit zufrieden, ältere Damen an der Wohnungstür auszutricksen, eröffnet sich ihnen plötzlich die Möglichkeit, mit dem Verkauf seltener Briefmarken, besagter „Nueve reinas“, den Coup ihres Lebens zu landen. Bielinskys Film walzt mit genüsslicher Ironie aus, welch grandiose Kniffe gerade Marcos erfindet, um sich die Taschen mit Geld zu füllen. Gleichzeitig ist „Nueve reinas“ weitaus mehr als nur ein Unterhaltungsfilm. Man kann ihn auch als sarkastisches Porträt einer Gesellschaft lesen, in der ein großer Teil der Phantasie und Intelligenz darauf verwandt wird, sich gegenseitig abzuzocken. Marcos schreckt auch nicht davor zurück, seine Schwester mit einem seiner Geschäftspartner ins Bett zu komplimentieren, damit sein großer Deal zu Stande kommt. Gegen Ende bekommt „Nueve reinas“ allerdings noch einige unerwartete Wendungen. So vollzieht sich nicht nur – durchaus realistisch! – ein Bankencrash, der die Träume vom schnellen Geld zunichte macht. Der Betrüger wird auch seinerseits ausgetrickst, und zwar von einigen derjenigen, die er übers Ohr hauen wollte. Die Keimzelle eines neuen Gaunerkollektivs oder der Anfang einer solidarischeren Verteilung des Kuchens? Eine Frage, die sich ja in ähnlicher Form bei jeder gesellschaftlichen Transaktion in Argentinien stellt.


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