Chile | Nummer 334 - April 2002

Comeback der chilenischen Revolutionäre?

Eine chilenische Entführung in Brasilien verursacht Unruhe auf dem lateinamerikanischen Kontinent

Die beiden linksextremistischen Gruppen Frente Patriótico Manuel Rodríguez (FPMR) und das Movimiento de Izquierda Revolucionario de Chile (MIR) sind nach langer Zeit im Untergrund scheinbar zurück an der Oberfläche. Mitglieder beider Organisationen werden der Entführung des brasilianischen Publizisten Washington Olivetto beschuldigt und stehen nun vor Gericht.

Tanja Rother

Am 2. Februar, 22.40 Uhr brasilianischer Ortszeit war erstmal alles vorbei. Nach 53 Tagen wurde Washington Olivetto von der Militärpolizei aus seiner Geiselhaft befreit und kehrte zu Frau, Familie und Geschäften zurück. Von dem Balkon seines Apartments ließ er am ersten Tag seiner wiedererlangten Freiheit eine weiße Taube in die Luft steigen.
Der Präsident und Direktor von W/Brasil, der drittgrößten Werbeagentur Brasiliens, war am 11. Dezember 2001 in São Paulo auf dem Weg von der Arbeit nach Hause an einer vermeintlichen Polizeikontrolle angehalten, überwältigt und anschließend entführt worden. Am 20. Dezember nehmen die unbekannten Entführer Kontakt zu den Angehörigen Olivettos auf und fordern ein Lösegeld von zehn Millionen US-Dollar. Zehn Millionen US-Dollar für einen Mann, der schon bevor er 1986 W /Brasil gründete als einer der wichtigsten Personen innerhalb des brasilianischen Werbegeschäfts gehandelt wurde. Olivettos Art der Werbung sei sehr brasilianisch, so heißt es, und nehme starken Einfluss, besonders auf die junge Generation des Landes. Sein Geschäft ist die Mode, denn Werbung und Propaganda sind zur Zeit die beliebtesten Studienfächer in Brasilien.

Spanisches Marihuana

Die Identität der Entführer blieb zunächst ungeklärt. Erst Anfang Januar gelangen Spezialisten, die für die Olivettos die telefonischen Verhandlungen mit den Entführern führen, zu der Erkenntnis, dass es sich bei den Entführern um Ausländer handeln muss, denn einer der Verhandelnden spricht spanisch. Der konstante Geruch nach Marihuana, den Anwohner in der Nähe eines Apartments im Zentrum von São Paulo bemerken, führt zunächst niemanden dazu, die etwa neun Personen, die die Wohnung frequentieren, eines Verbrechens zu verdächtigen. Trotzdem ziehen die Entführer noch einmal um: 150 Kilometer nördlich von São Paulo mieten sie eine Finca in Sierra Negra. Täglich stehen sie im Kontakt zur Familie Olivetto und deren Vertretern, bestehen auf die immense Summe und schicken von Zeit zu Zeit Beweise dafür, dass ihre Geisel noch am Leben ist. Olivetto wird in einem drei Quadratmeter großen Raum festgehalten und 24 Stunden lang mit Musik beschallt, einen Austausch zwischen ihm und seinen Entführern gibt es nur schriftlich: auf Reales-Scheinen.
Der Vermieter der Finca, José de Ribeiro wird jedoch misstrauisch, die sechs, die sich als fünf Argentinier und eine Spanierin ausgeben, erscheinen ihm verdächtig. Zumal sie die Miete von 2.000 US-Dollar in bar und im Voraus bezahlen. Am 1. Februar teilt sich Ribeiro der lokalen Polizei mit. Kurz darauf werden die sechs festgenommen, das Haus durchsucht und an die Olivettos gerichtete Briefe, chilenische Waffen und Bargeld gefunden.
Nach mehrstündigen Verhören wird der Anführer der Gruppe als Mauricio Hernández Norambuena, Mitglied der FPMR, identifiziert. Inzwischen sind die Olivettos bereit, die geforderte Summe zu zahlen. Doch der Chilene Hernández Norambuena gibt nach weiteren Verhören schließlich den Aufenthaltsort Olivettos preis – nachdem er seine sich dort ebenfalls befindenden Kameraden warnen konnte. Kurz darauf wird Washington Olivetto in gutem Gesundheitszustand von Spezialeinheiten befreit, seine Aufpasser sind flüchtig. Ihre Identität und die der anderen Festgenommenen bleibt zunächst ungeklärt. Die Ermittlungen beginnen.

Comeback des chilenischen Untergrunds

Seit dem 7. März stehen nun Mau-ricio Hernández Norambuena oder „Comandante Ramiro“, Mitglied der Patriotischen Front Manuel Rodríguez (FPMR), Alfredo Canales Moreno und Marcos Rodríguez von der Linksrevolutionären Bewegung Chiles (MIR), die Kolumbianer Marta Uroga und William Goana sowie die Argentinierin mit spanischem Pass, Karina López vor Gericht in São Paulo. Laut Anklage haben sich die sechs wegen Entführung, der Zugehörigkeit zu einer illegalen Vereinigung, der Folter und illegalen Waffenbesitzes zu verantworten. Am Tag des Prozessbeginns in São Paulo wird in Malloco, Chile, auf dem Grundstück eines ehemaligen Mitglieds der Kommunistischen Partei ein Waffenlager der FPMR ausgehoben.
Die Patriotische Front Manuel Rodríguez hatte sich 1984 auf wesentliche Initiative der Kommunistischen Partei Chiles (PC) gegründet. Als „bewaffneter Arm des Volkes“ sah sie sich der Ergänzung und Unterstützung der seit 1982 gegen die Diktatur Pinochets gerichteten Mobilisierungen verpflichtet. Höhepunkt ihrer Aktionen war das nur knapp gescheiterte Attentat auf Pinochet. Nach Ende der Diktatur 1989 verschrieb sich die FPMR weiterhin dem Kampf für Gerechtigkeit für die Opfer der Menschenrechtsverletzungen, für politische Freiheit und für die Aufhebung der starken sozialen Gegensätze. Zwei Jahre später kommt es zu den bis dahin letzten beiden Aktionen der Frente: Der Ermordung des Senators der rechten Unabhängigen Demokratischen Union (UDI), Jaime Guzmán und der Entführung von Cristián Guzmán, Sohn des Publizisten und Unternehmers Agustín Edwards. Für diese Verbrechen dingfest gemacht und zu lebenslanger Haft verurteilt werden Mauricio Hernández Norambuena, Pablo Muñoz Hoffmann und Patricio Ortiz Montenegro. Auf spektakuläre Weise flüchten die drei jedoch Ende 1996 aus dem Hochsicherheitsgefängnis in Santiago de Chile und wurden nicht mehr gesehen. Seit dem Fall Olivetto macht zumindest einer von ihnen wieder von sich reden.
Neben „Comandante Ramiro“ sitzen als weitere Protagonisten der Entführung Olivettos Alfredo Canales Moreno und Marcos Rodríguez von der Linksrevolutionären Bewegung Chiles (MIR) auf der Anklagebank in São Paulo. Die kleine öffentliche Bewegung MIR war 1965 als Alternative zur traditionellen Linken gegründet worden. Nach dem Triumph der kubanischen Revolution war für die MIR der Sozialismus keine ferne Utopie mehr, sondern ein erreichbares Ziel – erreichbar wenn nötig mit Waffengewalt. Seit 1969 arbeitete die MIR ähnlich wie die FPMR aus dem Untergrund.
Zu den aktuellen Ereignissen hat die FPMR auf ihrer Website Stellung genommen und die Entführung, an der sie nach eigenen Angaben nicht beteiligt gewesen ist, „als Teil einer lateinamerikanischen Realität bezeichnet, in der der Kampf des Volkes keimt und sich mit unterschiedlichen Mitteln entwickelt“. Außerdem hieß es, „existiere gegenwärtig keine politische und praktische Koordination des populären Kampfes und dessen Organisationen, da es an der dafür notwendigen inneren Einheit der Gruppen mangele“.

Chile im „Frente“-Taumel

In Chile kamen die Nachrichten aus Brasilien wohl für alle politischen Seiten unerwartet. Sie bieten nun allerdings einiges an Potenzial für den Aufbau bzw. den Erhalt von Freund- und Feindschaften.
So ist die „Gefahr der Reorganisation der subversiven Gruppen“ nun seit Wochen eines der Themen, die Chile in Atem hält. In diesem Zusammenhang wird auch die Mapuchebewegung gebracht, die im Süden des Landes mit dem Staat und privaten Forstunternehmen in einem anhaltenden Konflikt um Ländereien steht. Der chilenische Innenminister José Miguel Insulza räumte jedoch beruhigend ein, dass die Ereignisse in Brasilien wohl eher ein schwerer Schlag für die Reartikulation von FPMR und MIR bedeuten, denn schließlich hätten sie ihr Ziel nicht erreicht und dabei einige ihrer führenden Köpfe an die brasilianische Justiz verloren.
Am meisten sorgt die Rolle Kubas bei dem Fall für schlechte Stimmung in der Moneda, denn Mauricio Hernández Norambuena gestand in São Paulo, sich einige Zeit auf Kuba aufgehalten zu haben. Die Möglichkeit, dass der Inselstaat ihm und einigen seiner Kameraden Unterschlupf gewährt habe und Fidel Castro außerdem ihre Ausreise billigte, ohne die Gefahr einer Operation wie der geschehenen einzukalkulieren, löste innerhalb der chilenischen Regierung offene Empörung aus. Woraufhin sich Castro ebenfalls missmutig zeigte und betonte, dass Kuba „ein seriöses Land“ sei und „es Zeit wäre, die Verleumdungen und den Druck auf Kuba einzustellen“, denn Kuba biete „seit 1990 keiner subversiven Gruppe mehr Kooperation an“. Gegenüber den chilenischen Senatoren Gabriel Valdés (DC) und Ricardo Nuñez (PS) äußerte Castro jedoch, dass die flüchtigen Frentistas von 1996 sich zwar in Kuba aufgehalten hatten, aber ausgewiesen worden waren.

Offener Ausgang

Die chilenische und die brasilianische Polizei arbeiten weiter an der Aufklärung der Entführung Olivettos. Erste Ermittlungen ergaben, dass die Operation aller Wahrscheinlichkeit nach von Chile aus geplant wurde. Außerdem wurden zahlreiche Verbindungen mit den in der Vergangenheit von beiden Organisationen mit gleichem Strickmuster verübten Geiselnahmen festgestellt. Innerhalb des Prozesses gegen die sechs Angeklagten haben in São Paulo bereits eine Reihe von Zeugen ausgesagt. Da der Hauptzeuge Olivetto sich noch auf Reisen in Europa befindet, wurde die Gegenüberstellung mit den vermeintlichen Tätern allerdings bisher verschoben. Ob Olivetto dann vielleicht wieder weiße Tauben fliegen lässt, bleibt abzuwarten.

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