Das Ende der Colonia Dignidad?
Die letzten Schachzüge
Am 22. September 1989 – wenige Tage vor dem verfassungsändernden Plebiszit vom 5. Oktober – haben die Führer der Kolonie, Probleme mit der zu erwartenden demokratischen Regierung voraussehend, das gesamte Grundeigentum der Kolonie, etwas mehr als 13.000 Hektar, an 30 Mitglieder der Gruppe verkauft. Diese blieben gerade drei Monate und 19 Tage Landeigentümer/innen. Am 10. Januar 1990 übertrugen sie ihre Ländereien an eine extra zu diesem Zweck gegründete Gesellschaft. In den folgenden Monaten wurden vier weitere Gesellschaften gegründet, die letzte am 1. Februar 1991, dem Tag des Regierungserlasses, der die Rechtsperson der Colonia aufhebt. Zwischen dem 30. Januar 1990 und dem 15. Januar 1991 wurden dem Abratec praktisch alle beweglichen Güter der Colonia übereignet, unter anderem 42 Lastwagen, landwirtschaftliche Maschinen, ein Schotterwerk, das Restaurant und die gesamte medizinische Einrichtung des Krankenhauses. Die chilenische Abratec wird von den Mitgliedern der Dignidad-Führungsclique Gert Seewald (Vorsitzender), Hans Jürgen Blank (Geschäftsführer) und Siegfried Hoffman (Direktor) geleitet. Die Muttergesellschaft gleichen Namens hat ihren Sitz in Beldien.
Im Laufe der Untersuchungen über die Colonia wurde schon Ende 1989 deutlich, daß sie ihren Statuten nicht gerecht wird. Daraufhin hat sie im Januar 1990 eine Veränderung ihrer Statuten beantragt. Das infolgedessen vom Gobernador (Regierungspräsidenten) der Provinz Linares, Manuel Francisco Mesa, erstellte Gutachten über die Kolonie fiel vernichtend aus. Darauf reagierte die Kolonie mit Verleumdungsklagen, der Zürücknahme ihres Antrags auf Änderung der Statuten und seit dem 30. Januar mit einem Hungerstreik von 200 Mitgliedern.
Die Entscheidung der Regierung
In einem Interview mit “24 Stunden”, dem Nachrichtenmagazin von Televisión Nacional, am Abend des 31. Januars, kündigte der Regierungssprecher Enrique Correa eine Regierungsentscheidung an, die ausschließt, daß es weiterhin in Chile einen Staat im Staate gibt. Am 1. Februar verlas der Innen-Staatssekretär Belisario Velasco in Anwesenheit des Innen- und des Justizministers eine Erklärung, die besagt, daß die juristische Person der Colonia Dignidad aufgehoben ist und ihre Besitztümer an die Methodistische Korporation übergehen. Velasco erläuterte, daß die Entscheidung auf einer Untersuchung beruht, die bereits im März 1988 unter der Militärregierung begonnen hatte, als der damalige Außenminister das Innenministerium um Informationen über die Unregelmäßigkeiten in der Kolonie bat. Die Untersuchung ergab mehrere Anormalitäten in der Befolgung der Statuten sowie verschiedene andere Gesetzeswidrigkeiten im Bereich von Erziehung, Steuer, Wehrpflicht und Gesundheit.
Nach den wiederholten Anklagen wegen Verletzungen der Menschenrechte durch den Geheimdienst DINA im Inneren der Kolonie befragt, äußerte der Innenminister Enrique Krauss: “Nachdem die juristische Person aufgehoben wurde, kann man nun nachweisen, ob tatsächlich andere Arten von Gesetzeswidrigkeiten vorliegen.”
Rechtsnachfolger – Methodistische Corporation
“Die “Corporación Metodista” ist der Dachverband der Methodistischen Kirchen in Chile. Sie besteht seit 85 Jahren und arbeitet unter anderem in den Bereichen Gesundheit, Arbeit, Erziehung und Bauernfortbildung. Sie ist Eigentümerin des “Radio Umbral”, das bekannt ist für seine Beteiligung am Kampf für die Menschenrechte und deshalb als kommunistisch apostrophiert wird. Wichtige Arbeit für die Menschenrechte haben die Methodisten auch mit der Fundación de Ayuda Social de las Iglesias Cristianas – FASIC (Stiftung für soziale Hilfe der Kirchen) geleistet. Während der Militärregierung hat FASIC sich auf die Verteidigung politisch Verfolgter konzentriert. Seit März waren ihre Schwerpunkte die Begleitung von Angehörigen Verschwundener bei der Identifikation von Leichenfunden, die Zuarbeit für die Kommission “Wahrheit und Versöhnung”, die Hilfe für die Vereinigung der Angehörigen von Opfern der Repression und die Arbeit für eine Gesetzgebung, die die Befreiung der politischen Gefangenen ermöglicht.
Der Vorsitzende des Direktoriums der Corporación, Presbyter Juan Osorio, äußerte sich zu den Menschenrechtsverletzungen in der Colonia Dignidad deutlicher als der Innenminister: “Nun erwartet die Kirche den Bericht der Rettig-Komission (Wahrheit und Versöhnung), in dem Folterungen und Angriffe auf die menschliche Würde ausführlich vermerkt sein werden.”
Nachdem der größte Teil der Ländereien und auch die Schule und das Krankenhaus der Colonia in den letzten Monaten an private Gesellschaften verkauft worden sind ist zu befürchten, daß es nicht viel ist, was die methodistische Corporación in ihre gemeinnützige Arbeit eingliedern kann.
Reaktionen der Kolonie…
Neben dem bereits erwähnten Hungerstreik und der Verleumdungsklage gegen den Gouverneur Mesa hat der Rechtsanwalt der Colonia, Fidel Reyes, alle möglichen Rechtsmittel angekündigt. Reyes behauptet eine “internationale Verschwörung von hohen Regierungsfunktionären Chiles und Deutschlands gegen Dignidad” sei im Gange. Als Beweis präsentiert er beglaubigte Fotokopien eines Fernschreibens der deutschen Botschaft in Chile an das deutsche Außenministerium, in dem die Möglichkeiten der Auslieferung Schäfers diskutiert werden (s.Kasten)
Reyes erklärte, daß das Verfahren am Bonner Gericht auf eine Anzeige des früheren Kolonie-Mitglieds Hugo Baar beruht, “der hier als Drogenabhängiger und Alkoholiker aufgenommen, behandelt und geheilt worden ist, aber es scheint, daß jemand ihm die 30 Judas-Silberlinge angeboten hat, und jetzt verbreitet er die Verleumdung, daß er hier keine Freiheit hatte”. Wegen des Telex der deutschen Botschaft hat Reyes ein vorsorgliches Schutzgesuch für Schäfer beim Obersten Gerichtshof eingereicht.
Die chilenische Kriminalpolizei teilte mit, daß sie die Vorladung an Schäfer nicht zustellen konnte, weil die Kolonie behauptet, daß dieser nicht anwesend sei, was mangels Haft- oder Durchsuchungsbefehl nicht nachprüfbar ist.
…und der Politik
Wie zu erwarten, verurteilt die politische Rechte die Regierungsentscheidung. “Ich fürchte, in diesem Moment verlieren wir nicht die ‘Kolonie Würde’, sondern unsere Würde als Land”, äußert der ‘unabhängige’ Vizepräsident des Senats Beltrán Urenda, sich auf den Druck der Bonner Regierung beziehend. Der Abgeordnete der rechten UDI Víctor Pérez behauptete, die Colonia Dignidad habe ihre Ziele treu erfüllt. Der Abgeordnete der ebenfalls rechten RN, Angel Fantuzzi, meinte, es sei “nicht das erste Mal, daß eine christdemokratische Regierung böswillig mit dieser Organisation umgeht”.
Die sozialistischen Abgeordneten der Region, in der sich die Colonia Dignidad befindet, Jaime Naranjo und Sergio Aguilo, die die Aufhebung der Rechtspersönlichkeit der Kolonie im vergangenen November gefordert hatten, zeigten sich befriedigt über die Entscheidung und erwarten, daß sich nun “die Türen öffnen”, um “alle der deutschen Kolonie vorgeworfenen Unregelmäßigkeiten zu untersuchen”. Sie sind mit der Übergabe der Besitztümer der Colonia an die Methodistische Korporation einverstanden. Die kommunistische Partei erklärte ihre Hoffnung, daß dieser Schritt “erlaubt, voranzukommen mit der Aufklärung der Rolle, die diese Nazi-Enklave während der Diktatur Pinochets spielte”.
Quellen: El Mercurio, La Epoca, La Nación
Kasten:
Telex im Wortlaut (Rückübersetzung)
“Aus Santiago de Chile. N 630 vom 23-11-90, 16.30 Ortszeit. Nach Bonn, Aus¬wärtige Angelegenheiten. Telex (verschlüsselt) an 330. Erhalten: 23-11-90, 16.25 Ortszeit. Verfaßt von Botschaftsrat Nr. 1, Dr.Kliesow. Code pol 543.00. Betr.: Colonia Dignidad.
Hier: Unterredung mit Staatssekretär B. Velasco am 22-11-90 betreffend Nr. 260 vom 14-11-90, 330-504.00 Chl. Im Rahmen der vollständigen Aufklärung des Komplexes Colonia Dignidad, über die getrennt berichtet wird, teilte der Staatssekretär des Inneren Velasco die Entscheidung der chilenischen Regie¬rung mit, Schäfer und 5 oder 6 Mitglieder der Führungsclique der C.D. (Colonia Dignidad) auszuweisen. Er (Velasco) fragte, ob Schäfer dann in Deutschland verhaftet werde. Ich (Pabsch) verwies auf den Prozeß vor dem Bonner Gericht und die großen Beweisprobleme, die einen Haftbefehl schwie¬rig oder unmöglich erscheinen lassen. Daraufhin erbat Velasco wenigstens eine Vorladung für Schäfer vor das Bonner Gericht über Interpol. Wenn auch der ausschlaggebende Punkt für die Ausweisung und Auslieferung Schäfers und anderer – sagt Velasco – die Störung der diplomatischen Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland sei, müsse man doch die öffentliche Mei¬nung aufklären und überzeugen, daß Schäfer auch schwebende Prozesse bei der deutschen Justiz hat.
Es wird um umgehende Information gebeten, ob der Bonner Staatsanwalt oder das Bonner Gericht bereit sind, eine entsprechende Vorladung über In¬terpol an Interpol-Chile auszustellen.
Unterschrift Pabsch (Botschafter).”