Das Rennen um die öffentliche Meinung
Alternative Medien in Kolumbien versuchen eine unabhängige Berichterstattung zu gewährleisten
Bogotá, 4. Dezember 2014. Während sich die Stadt im Weihnachtstrubel auf die Feiertage vorbereitet, laufen in einer Büroetage im nördlichen Stadtviertel La Castellana die Telefone heiß. Gerade sind Drohungen der paramilitärischen Verbindung Águilas Negras gegen 17 Journalist*innen, ihre Familien und Mitarbeiter*innen bekannt geworden. In einer Email erklären die Águilas Negras diese 17 Journalist*innen und 13 alternative Medienkollektive, vor allem aus den ländlichen Regionen Kolumbiens, zu Zielobjekten bewaffneter Aktionen. Die Begründung: Sie seien von den Bewaffneten Streitkräften Kolumbiens (FARC-EP) unterwandert und somit „Feinde der Nation“. In den Büros des unabhängigen Onlinemagazins Las2Orillas in der Hauptstadt werden daher in aller Eile die Solidaritätsmechanismen für die bedrohten Kolleg*innen angekurbelt.
Laut einem aktuellen Bericht der Organisation Reporter ohne Grenzen (RoG) ist Kolumbien nach Mexiko das Land mit der zweithöchsten Mordrate an Journalist*innen weltweit. Zwischen Januar 2000 und September 2014 wurden mindestens 56 kolumbianische Journalist*innen ermordet, während sie ihren Beruf ausübten. Laut Aussagen der lateinamerikanischen Zentrale der Organisation wurden die meisten von ihnen „Opfer ihres Strebens, Menschenrechtsverletzungen, das Organisierte Verbrechen, Korruption oder ähnliche Einmischungen zu denunzieren“. Auch stocken die Ermittlungen bei einem Großteil der Verbrechen gegen Journalist*innen oder die Verbrechen bleiben ungestraft, da der politische Wille und ein effizientes juristisches System fehlen oder korrupte Autoritäten die Strafverfolgung behindern, so die Organisation. 2014 findet sich Kolumbien im Jahresbericht über die Pressefreiheit von RoG deshalb auf Platz 126 von 180 Plätzen, dicht gefolgt von Ländern wie Afghanistan oder Syrien.
Laut der kolumbianischen Stiftung für die Pressefreiheit (FLIP) tauchten alleine im September 2014 zwei schwarze Listen der paramilitärischen Gruppierungen Los Urabeños und Los Rastrojos auf, die acht beziehungsweise 24 Journalist*innen aus den Bezirken Valle de Cauca und Córdoba mit dem Tode bedrohten, da sie „die Anweisung zum Schweigen“ nicht eingehalten hätten. Nachdem im Februar 2014 der Kameramann Yonny Steven Caicedo in der Hafenstadt Buenaventura ermordet worden war, sorgte zuletzt vor allem die Ermordung von Luis Carlos Cervantes in der Kleinstadt Tarazá, Antioquia, für Schlagzeilen. Am Nachmittag des 12. August wurde der Radiojournalist auf der Straße erschossen – nur drei Wochen, nachdem ihm die staatliche Schutzbegleitung aus finanziellen Gründen entzogen worden war, unter der er seit Todesdrohungen im Jahr 2012 gestanden hatte.
Auch wenn es in den letzten Jahren in Bogotá mehrere Attentate oder Bedrohungen gegen Journalist*innen gab, ist die Bedrohung in den Provinzen doch ungleich höher. „Es gibt einige Journalisten, die ständig inmitten von Bedrohungen leben“, erzählt Pacho Escobar, Mitarbeiter von Las2Orillas, und fährt fort: „Zu diesen gehören zwar einige der bekannteren Journalisten von Revista Semana oder El Tiempo (neben der Tageszeitung El Espectador die bedeutendsten überregionalen Printmedien Kolumbiens; Anm. der Red.), aber im Allgemeinen bemerkt man in Bogotá von den Bedrohungen eher wenig. Wenn wir allerdings mitbekommen, dass Kollegen aus den Provinzen bedroht werden, versuchen wir natürlich ihnen mit allem, was in unserer Macht steht, zu helfen“. So auch an diesem vierten Dezember. Die Telefondrähte glühen inzwischen, schnell werden Pressemitteilungen und Artikel verfasst, um die Bedrohungen öffentlich bekannt zu machen. Denn das ist die Aufgabe, die Las2Orillas in solchen Fällen übernimmt: „Wenn wir von Bedrohungen hören und es Beweise für diese Bedrohungen gibt, berichten wir sofort – aus Solidarität und um zu zeigen, dass Journalisten in Kolumbien eine große Gemeinschaft sind“, berichtet Pacho Escobar.
Laut Carlos Gutiérrez, Direktor des linken Medienkollektivs Desde Abajo, entspricht es regelrecht dem Selbstmord, investigativen Journalismus in den ländlichen Regionen zu betreiben: „Hier in Bogotá stört uns niemand. Aber wenn wir in die Provinzen gehen, wo die politische und ökonomische Macht immer noch in den Händen der Großgrundbesitzer oder der (para)militärischen Gruppierungen liegt, sieht die Situation anders aus. Sie kontrollieren dort nicht nur die Informationen, sondern jeder, der in irgendeiner Form Kritik anbringt, wird automatisch zum militärischen Zielobjekt.“
Medien wie Las2Orillas versuchen diesen Bedrohungen entgegenzuwirken, indem sie die Artikel von Bogotá aus veröffentlichen: „Wir haben Informanten in fast allen Teilen Kolumbiens. Diese versorgen uns mit Daten, die wir dann unter unserem Namen veröffentlichen. Sie wollen nie als Protagonisten auftreten, sie machen das eher aus einer Gefühl bürgerlicher Verpflichtung heraus oder weil sie Gerechtigkeit wollen. Wir hier in der Hauptstadt übernehmen dann die Verantwortung“, beschreibt Pacho Escobar das Informationsnetzwerk der Onlineplattform, und erläutert: „Natürlich überprüfen wir die Daten, manchmal fahren wir in die Regionen oder rufen die Beteiligten an, um zu sehen, was sie uns zu sagen haben.“
Eine weitere Bedrohung der Informationsfreiheit ergibt sich aus den engen Verbindungen zwischen der politischen Macht, der Wirtschaft und den traditionellen Medien. Das Medienkonglomerat, das etwa 95 Prozent der Informationen auf dem kolumbianischen Markt liefert, liegt in den Händen der drei Unternehmensgruppen Grupo Ardila, Santo Domingo und Sarmiento Angulo. Diese drei Gruppen sind Eigentümer eines Großteils der kolumbianischen Radio- und TV-Sender – so unter anderem Caracol und RCN, der beiden wichtigsten Fernsehsender – und dominieren auch den Zeitungsmarkt. Zum Wirtschafts- und Bankenimperium Sarmiento Angulo gehört zum Beispiel El Tiempo, die wichtigste überregionale Zeitschrift des Landes. Sie wurde von der Familie des aktuellen Präsidenten Juan Manuel Santos gegründet. Derlei enge Verflechtungen mit der Politik beeinflussen die Journalist*innen in ihrer Arbeit. Die Selbstzensur sei deswegen in Kolumbien viel stärker als die Zensur, wie Carlos Gutiérrez erklärt: „Journalisten zensieren sich selbst aus Angst, ihre Stelle zu verlieren, wenn die veröffentlichten Informationen nicht mit den Interessen der Eigentümer des Mediums übereinstimmen“.
Nicht zu vernachlässigen ist auch, dass die meisten Medien, selbst wenn sie nicht zu den großen Wirtschaftskonzernen gehören, sich doch hauptsächlich über staatliche und kommerzielle Werbung finanzieren: „Regionale Medien leben von der Werbung der regionalen Institutionen“, berichtet Miguel Suárez, der für Desde Abajo und für die kolumbianische Ausgabe von Le Monde Diplomatique arbeitet. Auch die prekären Bedingungen, unter denen viele Journalisten arbeiten, spielen dabei eine Rolle: „Zum Beispiel werden Radiojournalisten in Kolumbien nicht mit Geld, sondern mit Sendezeit bezahlt. Du musst dich also über Werbung selbst finanzieren. Und somit bist du wiederum davon abhängig, wirtschaftliche oder staatliche Interessen nicht zu verletzen“, so Suárez.
Um dennoch eine gewisse Unabhängigkeit in der Berichterstattung erreichen zu können, nutzen die meisten alternativen Medien vor allem das Internet, um ihre Artikel zu veröffentlichen. Juanita Léon, Gründerin und Chefredakteurin des Online-Magazins La Silla Vacía, betont: „Wir haben es geschafft, durch Unabhängigkeit Einfluss zu erhalten. Tatsächlich haben wir eine Freiheit, die viele Medien in Kolumbien nicht haben, weil ihnen mit Entzug der Werbung gedroht wird. Da wir durch die billige Onlinewerbung ein schlechtes Geschäft sind, sind wir auch weniger angreifbar“. Auch Las2Orillas und andere alternative Medien, wie das Polit-Analyse-Magazin Razón Pública, das vor allem von Akademiker*innen parallel zur wissenschaftlichen Arbeit betrieben wird, erscheinen ausschließlich online. Las2Orillas finanziert sich zum Beispiel hauptsächlich über internationale Fördermittel, die die Online-Zeitschrift für Journalist*innenschulungen in den Provinzen erhält. Das Medienkollektiv Desde Abajo, das neben einer eigenen Monatszeitschrift auch die kolumbianische Ausgabe von Le Monde Diplomatique herausgibt und aktuell eine Online-Fernsehsendung plant, finanziert sich neben den Einnahmen aus dem Zeitschriftenverkauf vor allem über die Veranstaltung von Kongressen und die Herausgabe kritischer Literatur- und Sachbücher.
María Fernanda Gónzalez, Politikdozentin an der Universidad Nacional de Colombia und freie Autorin für Zeitungen wie Revista Semana, El Espectador und Razón Pública, betont, dass die Medien in Kolumbien einen großen Einfluss auf die politische Debatte hätten: „Aber obwohl sich gerade die Printmedien in einer wichtigen Position befinden und insbesondere alternative Medien einen recht hohen Grad an Unabhängigkeit aufweisen, ist es ziemlich enttäuschend, dass es nach wie vor keine wirklich linke Medienlandschaft und damit auch keinen wirklichen Meinungspluralismus gibt“. Medien wie Las2Orillas oder La Silla Vacía mögen zwar mittlerweile bis zu hunderttausend Leser*innen täglich haben, die Rolle der alternativen Medien ist jedoch nach wie vor eher marginal. So erklärt Miguel Súarez: „Unsere Hauptaufgabe ist eine Art Machtkampf. Wir streiten um die öffentliche Meinung. Deswegen sehen wir uns auch eher als Aktivisten denn als Journalisten. Wir stehen nicht nur einer konzentrierten Macht der einflussreichen Medienmacher gegenüber, sondern auch vielen kleinen, sehr versprengten Medien, die um spezialisierte Leserschaften streiten. Denn wer liest zum Beispiel die Zeitung der Kommunistischen Partei? Doch nur die Mitglieder der Kommunistischen Partei.“ Auch bestehe nach wie vor die Gefahr, mit linker Berichterstattung als „Guerilla“ denunziert zu werden, wie Carlos Gutiérrez betont.
Doch auch der Zugang zu Information hängt stark vom Medium ab. Zwar werden Journalist*innen allgemein recht gut angesehen, gerade auf politischer Ebene, aber „den Status erhältst du vor allem durch das Medium“, erzählt Pacho Escobar. „Wenn man sagt, dass man für eines der traditionellen Medien arbeitet, dann bekommt man viel schneller und unkomplizierter Zugang zu den Daten, die man sucht“. Zugleich betont Juanita León, dass „viele Informationen immer noch davon abhängen, dass jemand einem einen ‚Gefallen‘ tut. Es ist nach wie vor schwierig, an bestimmte Informationen zu kommen, vor allem in Bezug auf die Polizei, das Militär oder den Wahlrat – einfach weil diese Institutionen nicht sehr transparent sind“. So haben viele Journalist*innen schon die Erfahrung gemacht, dass Anfragen auf Datenherausgabe schlicht nicht beantwortet werden. „Man muss schon sehr stark insistieren. Obwohl es einen gewissen Respekt gegenüber Journalisten gibt, hoffen die Institutionen oft, dass man irgendwann aufhört nachzufragen“, ergänzt Pacho Escobar, „und selbst wenn es Daten gibt, sind die oft nicht verlässlich“.
So bleibt die alternative Berichterstattung in Kolumbien ein tägliches Ringen. Es geht einerseits um den Zugang zu Informationen, genauso wie um das schlichte Überleben als Person und als Institution. Andererseits aber geht es vor allem um Einfluss, wie Miguel Suárez beschreibt: „Die politische Opposition, die Linke, hat einfach noch nicht verstanden, dass die Kommunikation ein Schlüssel zum politischen Wandel ist. Wir müssen um die öffentliche Meinung kämpfen, um die Menschen davon zu überzeugen, dass es ein anderes Kolumbien bereits gibt und dass der Wandel möglich ist.“