Debatten jenseits der Wirklichkeit
Vor der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo
Pragmatische Frauenlobby
Drei Wochen lang tagten auf der letzten Vorbereitungskonferenz für Kairo (Prepcom) Regierungsdelegationen und insgesamt 1200 VertreterInnen von geladenen NGOs in New York. Sie korrigierten an einem rund 100-seitigen Papier herum, dem sogenannten “Weltaktionsplan”, der nicht weniger als eine Richtlinie für die nächsten 20 Jahre internationaler Bevölkerungspolitik darstellen soll. Er wird in Kairo zur Unterzeichnung vorliegen.
Anfangs wurde auf der Konferenz daran gearbeitet, den Spagat zwischen weiterhin formulierten demographischen Zielsetzungen und der allgemein bezeugten Ablehnung von Zwangsmaßnahmen gegen Frauen zu kaschieren. Die Kritik von Frauengesundheitsorganisationen an der Praxis von Familienplanungsprogrammen hat inzwischen Eingang in die Diskurse bevölkerungspolitischer Institutionen und Regierungen gefunden. Freiwilligkeit, Wahlfreiheit der Verhütungsmethoden, Beachtung der sozialen und kulturellen Hintergründe und die Achtung der reproduktiven Gesundheit von Frauen sind allgemeinbenutzte Floskeln. Den Vertreterinnen von Frauenorganisationen, die einen Großteil der NGO-Delegierten ausmachten, gelang es in professioneller Lobbyarbeit, weitere Formulierungen über ethische Normen und Qualität von Familienplanungsprogrammen im Aktionsplan durchzusetzen. Damit ließen sie sich jedoch auf den ideologischen Rahmen des Planes ein: die Verknüpfung von Bevölkerungswachstum als Ursachefaktor mit verschiedensten gesellschaftlichen Problemen wie Verarmung, Flucht und Umweltzerstörung. Die internationale Kontroverse innerhalb der Frauenbewegungen, ob Bevölkerungspolitik an sich notwendig und feministisch reformierbar ist oder als Herrschaftsstrategie und biologistische Ideologie grundsätzlich bekämpft werden muß, wurde unter den Tisch gekehrt. Und dies, obwohl demographische Zielsetzungen weiterhin Teil des Aktionsplanes sind.
Der offizielle Machbarkeitswahn sieht keine Widersprüche zwischen Freiwilligkeit der Geburtenkontrolle und demographischen Zielen. Die Weltbevölkerung soll ohne Zwangsmaßnahmen bis zum Jahr 2015 auf 7,3 Milliarden Menschen “stabilisiert” werden. Familienplanungsprogramme sollen lediglich die statistisch genau ermittelte Anzahl von Frauen erreichen, die an einem “ungedeckten Bedarf” an Verhütungsangeboten leiden. Wie dies geschehen soll, drücken die bevölkerungspolitischen Planer auch hauptpsächlich in Zahlen aus. Bis zum Jahr 2000 soll der Etat für bevölkerungspolitische Programme international auf insgesamt 13 Milliarden US-Dollar steigen. Dazu werden die Regierungsbudgets für Familienplanung offiziell von 1,4 auf 4 Prozent der Entwicklungshilfegelder erweitert, also zu Lasten anderer entwicklungspolitischer Etats. Die von der pragmatischen Frauenposition unterstützte Strategie, sozialpolitische Progamme zur Voraussetzung von mehr Entscheidungsmöglichkeiten für Frauen zu erklären, erweist sich damit als Farce.
Massive päpstliche Intervention verdeckt Konflikte
Erfolg oder Vereinnahmung: So oder so wurden die Korrekturen der Frauenlobby durch die Intervention des Vatikans im zweiten Teil der Konferenz wieder zunichte gemacht. Der durch das Konsensprinzip und als Vollmitglied mit Macht ausgestattete “Heilige Stuhl” erreichte es mit Unterstützung der Delegationen aus Nicaragua, Honduras, Guatemala, Malta und Kroatien, daß die wichtigsten Formulierungen zu reproduktiver Gesundheit wieder in Klammern gesetzt wurden und damit in Kairo neu verhandelt werden müssen. Die päpstliche Lobby stellte nicht nur den Zugang zu sicheren Abtreibungsmöglichkeiten und zu “künstlichen” Verhütungsmitteln in Frage. Auch die Passagen über ein Individualrecht an Geburtenkontrolle, die dem traditionellen katholischen Familienbild widersprechen, waren Angriffspunkte. Diese Polarisierungsstrategie des Papstes, der inzwischen in der argentinischen Regierung einen weiteren Bündnispartner gefunden hat, führt dazu, daß nicht nur die Widersprüche innerhalb der Frauenbewegungen, sondern auch zwischen bevölkerungspolitischen Institutionen und Frauenbewegung öffentlich unsichtbar werden. Damit verringert sich auch der politische Spielraum der Frauenlobby weiter.
Kanther-Bericht verärgert NGOs
Unter diesen Bedingungen bemüht sich die Bundesregierung noch nachträglich, ihre dem Bundesinnenministerium unterstehende Nationale Kommission durch eine Frauenrepräsentantin aus dem Deutschen Frauenrat aufzupeppen und warb Mitte Juni auf einem NGO-Hearing um dessen Teilnahme. Die deutsche Regierungsdelegation wird international besonders beobachtet, weil sie wegen der deutschen EU-Präsidentschaft als Sprecherin des europäischen Blocks auf der Weltbevölkerungskonferenz auftreten wird. Sie besteht bisher als eine der wenigen Delegationen ausschließlich aus Männern: Vertreten sind Bundes- und Länderministerien, die Kirche, das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung sowie verschiedene etablierte NGOs, unter anderem die 1991 von Unternehmern gegründete Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW).
Aber selbst in dieser Herrenrunde gelang es der Kanther-Behörde nicht, ihren bei der Prepcom vorgelegten Regierungsbericht als Dokument der “Zivilgesellschaft” darzustellen. Die DSW sah den Bericht anscheinend als kontraproduktiv für ihr liberales Image an. Sie kritisierte, daß er Deutschland nicht zum Einwanderungsland erkläre und verweigerte die Zustimmung. Die DSW hat es innerhalb kürzester Zeit mit Fernsehauftritten, Hochglanzbroschüren und renommierten Mitgliedern aus ARD, GTZ und der Bevölkerungswissenschaft erreicht, als Repräsentantin einer seriösen um das “Weltbevölkerungsproblem” besorgten Öffentlichkeit zu gelten.
Der Regierungsbericht bedient die apokalyptischen Visionen von uns überflutenden Menschenmassen, wie sie seit einiger Zeit in Medien wie SÜDDEUTSCHE, SPIEGEL oder ZEIT zum Thema Bevölkerungswachstum verbreitet werden. So lobt der Bericht das neue Asylrecht und die Ausländergesetzgebung als geeignete Mittel, dem “Wanderungsdruck auf Westeuropa” entgegenzuwirken: “Die angestrebte Integration (von Ausländern) ist aber nur möglich, wenn der weitere Zuzug aus den Staaten außerhalb der Europäischen Union begrenzt und gesteuert wird.” Dem in dem Bericht ausführlich beklagten “Bevölkerungsrückgang” und der “Alterung” der deutschen Bevölkerung könne deswegen nicht durch Einwanderung entgegengewirkt werden. Unterstrichen wird dies durch Anwendung des deutschen Lex Sanguinis in den beigefügten demographischen Prognosen: Bis in das Jahr 2030 wird das Wachstum der Kategorie ausländische Bevölkerung getrennt von der Kategorie deutsche Bevölkerung hochgerechnet. Eine implizit durch diese Betrachtungen nahegelegte pronatalistische Politik für letztere will die Regierungskommission allerdings nicht deklarieren. Der Bericht sieht von einer “Zielvorstellung für die künftige Geburtenentwicklung” in der BRD ab. Familienpolitik habe eine eigenständige Bedeutung.
Anders sieht es dagegen bei Bevölkerungspolitik im Rahmen internationaler Entwicklungspolitik aus. Die Ursachen des “Wanderungsdrucks” werden zwar als “komplex” beschrieben. Die angepriesene Lösung ist aber einfach die Bekämpfung der Ursache “Überbevölkerung” durch die Erhöhung des Etats des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) für Familienplanungsprogramme. Das BMZ hat seit 1991 Bevölkerungspolitik zu einem Schwerpunkt internationaler Entwicklungshilfe erklärt und die Gelder dafür von 74 Millionen DM 1990 auf 160 Millionen DM 1993 erhöht. Darüber hinaus schlägt der Bericht für die Zukunft eine Art bevölkerungspolitische Konditionierung von Entwicklungspolitik, eine “Überprüfung von Projektansätzen auf eine mögliche Einbindung bevölkerungspolitisch wirksamer Maßnahmen” vor.
Liberaler Mainstream
Mit diesem zweiten, entwicklungspolitischen Teil des Regierungsberichts hat die liberale Öffentlichkeit keine Probleme. Die in den 70er Jahren noch in breiteren Kreisen umstrittene Verknüpfung von Bevölkerungswachstum und Umweltzerstörung/Verarmung gilt heute als objektive Tatsache. Dabei gehen die in Ökologie und Entwicklungspolitik engagierten Lobbyisten nicht mehr so platt von Bevölkerungswachstum als alleiniger Ursache von Armut und Umweltzerstörung aus, sondern präsentieren komplizierte Modelle von Wechselwirkungen verschiedener sich gegenseitig beeinflussender Faktoren. Die Menschenzahl sei nur eine der zu reduzierenden Größen, auf die man sich aber gerade spezialisiert habe. Der ÖkoMarshallplan etwa, der von Franz Alt zusammen mit vier Umweltpolitikern aus CDU, SPD, FDP und GRÜNEN im letzten Jahr proklamiert wurde, fordert von Entwicklungsländern eine Bekämpfung der “Bevölkerungsexplosion” und stellt dies als gleichwertige Aufgabe zu einer Politik der CO-2-Reduzierung in den Industriestaaten dar. Menschen und Schadstoffemissionen werden dabei zu kompatiblen, als politische Verhandlungsmasse einsetzbaren Größen.
Auch die von verschiedenen Entwicklungshilfeagenturen (Brot für die Welt, Misereor, Terre des Hommes, GEPA, DED u.a.) getragene Kampagne “Eine Welt” hat sich dieses Jahr das “Weltbevölkerungsproblem” auf ihre Fahnen geschrieben. Dazu hat “Eine Welt” mit Subventionen des BMZ preisgünstige Unterrichtsmaterialien in einer Auflage von 50.000 Exemplaren produziert. Die Titelfrage “Ein überbevölkerter Planet?” wird im Text folgendermaßen beantwortet (Suggestiv wird die Antwort schon auf dem Deckblatt nahegelegt. Ein Foto zeigt eine hinter einem Stacheldrahtzaun wartende Menge schwarzer Menschen): “Überbevölkerung ist auch im Zusammenhang mit den ökologischen Zerstörungen nur ein Faktor der Erklärung, der allerdings vor allem lokal für die konkrete Umwelt in der Dritten Welt eine erhebliche Bedeutung hat”. Auch hier wird Bevölkerung zur Variable für die Lösung von sich in Entwicklungsländern zuspitzenden sozialen Problemen. Und auch ein weiterer Trend zeigt sich in dieser angeblich zum Fragen und Lernen anregenden Broschüre. Die realen Auswirkungen der bereits seit dem Zweiten Weltkrieg bestehenden Programme bevölkerungspolitischer Agenturen auf das Alltagsleben von Frauen werden ausgeblendet. An deren Stelle treten allgemeine Empfehlungsfloskeln: “Das ‘generative Verhalten’ der Menschen ist von einer Vielzahl sozialer und kultureller Faktoren abhängig; das bedeutet auch, daß Bevölkerungspolitik, die auf dieses Verhalten Einfluß nehmen will, die Vieldimensionalität dieses Bereichs anerkennen muß”.
Wirklichkeit in die Debatte einbringen
Die Frauenorganisationen UBINIG aus Bangladesh und AWHCR von den Philippinen wollen solchen Plastiksätzen mit einem Internationalen Hearing “Crimes Against Women Related to Population Policies” auf der Konferenz in Kairo entgegenwirken und damit “die Wirklichkeit von Frauen in die Debatten über Bevölkerung und Entwicklung einbringen. Denn viele dieser Diskussionen sind ihres Kontextes beraubt worden.”
In der BRD ist die BUKO-Pharmakampagne gegen die schon weit entwickelten Forschungen an einem Antischwangerschaftsimpfstoff ein Beispiel der Kritik an den tatsächlichen Entwicklungen in den Methoden von Bevölkerungspolitik. Auch die Bundesregierung finanziert über die Weltgesundheitsorganisation die Entwicklung eines Impfstoffes, der darauf ausgerichtet ist, das Immunsystem von Frauen auf eine Abwehrreaktion gegen die als Epidemie konstruierte Schwangerschaft umzupolen. Einziger Zweck eines solchen in seinen Konsequenzen für die Gesundheit von Frauen nicht abschätzbaren Eingriffs in das Immunsystem kann nur sein, einen Schritt weiterzugehen in der Entwicklung möglichst massenhaft und billig einsetzbarer, der Kontrolle und Motivation von Frauen entzogenen langfristig wirksamen Verhütungsmethoden.
Der Artikel speist sich im wesentlichen aus den in den blättern des iz3w Nr. 198 Juni/Juli (Schwerpunkt: Bevölkerungspolitik) erschienenen Artikeln von Ingrid Schneider über die internationale Vorbereitungskonferenz und von Ute Sprenger über die Vorbereitungen der Bundesregierung (blätter Nr 196).
Die LN hatten in der Nummer 231/232 einen Schwerpunkt zum Thema Bevölkerungspolitik, in dem auch ein längerer Artikel von Susanne Schultz abgedruckt ist. Die genaue Übersicht ist im beigehefteten Index zu finden.