Nummer 391 - Januar 2007 | Venezuela

Den Caudillo überleben

Chávez‘ erneuter Wahlsieg wirft auch Fragen zur Nachhaltigkeit seines Projekts auf

Mit über 25 Prozent oder drei Millionen Stimmen Differenz fiel der Wahlsieg der Regierung mehr als deutlich aus. Die Opposition erkannte das Ergebnis an und will sich in Zukunft wieder mehr an der Politik in Venezuela beteiligen. Interessanter als die politische Rolle der Opposition dürften in den nächsten Jahren allerdings die Auseinandersetzungen innerhalb des chavismo werden.

Tobias Lambert

Venezuela zeigt, dass eine neue und bessere Welt möglich ist“, rief Chávez nach Bekanntwerden der ersten Wahlergebnisse vom Balkon des Präsidentenpalastes Miraflores tausenden in strömendem Regen feiernden AnhängerInnen zu. Die Opposition hatte zu diesem Zeitpunkt wie erwartet erneut eine Wahl in Venezuela verloren, sorgte etwas später aber dennoch für die eigentliche Überraschung des Wahlabends. „Heute haben sie uns besiegt“, gab der unterlegene Präsidentschaftskandidat Manuel Rosales zu und nahm damit jeglichen Destabilisierungsversuchen den Wind aus den Segeln. Die Opposition beging somit den historischen Schritt, erstmals seit 1998 die demokratische Legitimität des amtierenden Präsidenten anzuerkennen.

Deutlicher Sieg

Beeindruckend war bei diesen Wahlen die Partizipation der venezolanischen Bevölkerung. Die Wahlbeteiligung war mit fast 75 Prozent so hoch wie seit 1988 nicht mehr. Nach Auszählung von über 98 Prozent der Stimmen kam Chávez auf fast 63 Prozent. Rosales hingegen erreichte knapp 37 Prozent der Stimmen. Damit erhielt der amtierende Präsident ein Mandat für weitere sechs Jahre, das am 2. Februar 2007 offiziell beginnen wird.
Für Chávez bedeutet der Wah­l­erfolg sowohl die höchste Zustimmungsrate als auch die höchste absolute Stimmenzahl, die er je bei Wahlen erreichte. Zwar verfehlte er wie erwartet die angestrebte Zehn Millionen-Marke, konnte die für ihn abgegebenen Stimmen jedoch auf fast 7,3 Millionen steigern. Beim Abwahlreferendum 2004 hatten gut 5,8 Millionen WählerInnen für sein Verbleiben im Amt gestimmt. Auch erreichte der Amtsinhaber in allen 24 Bundesstaaten des Landes die Mehrheit. Selbst in Zulia, wo Rosales amtierender Gouverneur ist, hatte Chávez knapp die Nase vorn. Der Oppositionskandidat konnte zwar in sechs größeren Städten Venezuelas die Mehrheit erringen, seine absolute Hochburg liegt allerdings außerhalb der Landesgrenzen: Im venezolanischen Konsulat in Miami erhielt er fast 98 Prozent der über 10.000 abgegebenen Stimmen.

Saubere Wahlen

Die WahlbeobachterInnen der EU, der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten), des Mercosur und des Carter-Centers stellten wie bei vorangegangenen Wahlen auch diesmal keine größeren Unregelmäßigkeiten fest. Insgesamt kam es lediglich zu einigen organisatorischen Mängeln. Die EU bemängelte in ihrem Abschlussbericht allerdings ein mediales Übergewicht in der Wahlkampfberichterstattung zu Gunsten von Chávez sowie die politische Instrumentalisierung staatlicher Funktionäre und Institutionen. Selbst die USA erkannten das Wahlergebnis an und ließen sogar einen zukünftigen Strategiewandel gegenüber Venezuela durchblicken, indem sie Chávez einen vertieften Dialog anboten. Der venezolanische Präsident hatte in der Vergangenheit jedoch mehrfach betont, dass eine Verbesserung der Beziehungen mit der jetzigen Regierung der USA nicht möglich sei.

Konstruktive Opposition

Rosales forderte den Amtsinhaber auf, das Wahlergebnis „sehr genau“ zu lesen, „weil es nicht zehn Millionen waren, wir sind weiterhin 26 Millionen Venezolaner“. Er kündigte an, dass sich die Opposition in Zukunft konstruktiv an der Politik im Venezuela beteiligen wolle. In den letzten Jahren hatte sie sich durch ihre permanente Ablehnungshaltung immer weiter ins politische Abseits manövriert und auf sämtlichen Entscheidungsebenen gravierend an Einfluss verloren. Die immerhin über vier Millionen erreichten Stimmen können somit durchaus als Achtungserfolg gewertet werden.
Rosales kündigte an, zunächst von einer Kommission Vorschläge für eine Verfassungsreform erarbeiten zu lassen. Vereinzelte inhaltliche Forderungen sind bereits bekannt. So soll die Amtszeit des Präsidenten auf vier Jahre verringert werden, weiterhin nur eine Wiederwahl möglich sein und eine Stichwahl eingeführt werden, sofern niemand im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreicht. Außerdem fordert die Opposition eine klar definierte Respektierung des Privateigentums.
Rosales kündigte auch an, sich weiterhin für sein im Wahlkampf propagiertes Projekt stark zu machen, ein Fünftel der Erdöleinnahmen mittels einer Geldkarte direkt an die Bevölkerung zu verteilen. Da die Opposition aufgrund ihres Boykotts der letztjährigen Parlamentswahlen ohne Abgeordnete dasteht und gerade einmal noch über zwei Gouverneursposten verfügt, wird ihr politischer Einfluss in der näheren Zukunft allerdings eher gering bleiben. Für die angestrebten Verfassungsänderungen ist sowohl eine Zweidrittelmehrheit im Parlament als auch eine einfache Mehrheit in einem Referendum notwendig. Somit sind die interessanteren Konflikte in den nächsten Jahren innerhalb des chavistischen Lagers zu erwarten.

Weg zum Sozialismus

Chávez begrüßte das Vorhaben der Opposition, sich in Zukunft stärker politisch zu engagieren. „Ich werde immer offen zum Dialog sein, aber ohne Konditionen, ohne Erpressung“, sagte der venezolanische Präsident. Er ließ allerdings keinen Zweifel daran durchblicken, den bolivarianischen Prozess vertiefen zu wollen: „Von dem Weg zum Sozialismus wird mich niemand abbringen und jetzt, mit über sieben Millionen bewussten Stimmen, noch weniger“. Befürchtungen der Opposition, Chávez könnte nach seinem Wahl­­erfolg die bürgerlichen Freiheiten einschränken, trat dieser entschieden entgegen: „Ich garantiere, dass Venezuela in dieser neuen Ära, die die revolutionäre Regierung beginnt, weiterhin die umfassendsten Freiheiten der Beteiligung, der Meinung, des Denkens und des Ausdrucks genießen wird“. Der angestrebte „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ werde sich grundlegend von den gescheiterten Versuchen des 20. Jahrhunderts unterscheiden. Chávez wolle „weder eine Diktatur der Eliten, noch eine Diktatur des Proletariats“. Vielmehr sei er auf der Suche nach „mehr Demokratie“.

Konsolidierung des Prozesses

Auch er plant zunächst einmal eine Verfassungsreform. Außer der Ankündigung, die Möglichkeit der unbeschränkten Wiederwahl des Präsidenten einzuführen, ist allerdings noch nicht viel Konkretes bekannt. Die geplanten Reformen zielen aber vor allem auf eine Stärkung der partizipativen Demokratie und der wirtschaftlichen Transformation ab. Ob sich das bolivarianische Projekt in den nächsten Jahren konsolidieren kann, wird in entscheidendem Maße davon abhängen, ob es gelingt, Ordnung in die staatlichen Strukturen zu bringen und basisdemokratische Entscheidungsmechanismen zu stärken. Denn zurzeit bestehen in Venezuela politische Parallelstrukturen. In der öffentliche Verwaltung sitzen noch zahlreiche Personen, die das bolivarianische Projekt mehr oder weniger offen konterkarieren. Daher wurden zum Beispiel die als misiones bekannten Sozialprogramme außerhalb der traditionellen Institutionen angesiedelt. Anderweitig wäre deren erfolgreiche Umsetzung praktisch unmöglich gewesen. Dies hat aber gleichzeitig dazu geführt, dass effektive Kontrollmechanismen de facto nicht oder nur unzureichend existieren.
Als eines der wichtigsten Projekte der kommenden Amtszeit kündigte Chávez eine Reform der öffentlichen Verwaltung an, um sich endlich von der weit verbreiteten Korruption zu verabschieden und die „bürokratische Konterrevolution“ aufzuhalten. Außerdem ist die Vereinigung des bolivarianischen Lagers zu einer gemeinsamen Partei geplant. Die Schaffung einer „Revolutionspartei“ ist bei einigen kleineren Parteien aber durchaus umstritten und setzt eine lange Zeit der Diskussion über Vor- und Nachteile sowie die Art der Fusion voraus.

Ausbau der Partizipation

Zur Stärkung der partizipativen Demokratie wird in nächster Zeit vor allem der Ausbau von Gemeinderäten (consejos comunales) vorangetrieben werden. Laut dem Gemeinderatsgesetz, das im April 2006 verabschiedet wurde, werden diese Räte in städtischen Gebieten von 200 bis 400, in ländlichen von 20 und in indigenen Gebieten von zehn Familien gebildet. Die Räte dienen dazu, demokratisch und transparent über die Verwendung von staatlichen Geldern zu entscheiden, die den jeweiligen Gemeinden zustehen. Auf diese Weise soll mit den oft langwierigen und nicht selten von Korruption begleiteten repräsentativen Entscheidungsmechanismen gebrochen werden. Bereits weit über 10.000 Gemeinderäte existieren schon jetzt in Venezuela. Sollte sich dieses Experiment partizipativer Demokratie erfolgreich entwickeln, könnte es die Art und Weise, wie in Venezuela Entscheidungen getroffen werden, dauerhaft verändern.
Auch auf wirtschaftlichem Gebiet soll die Mitbestimmung weiter ausgebaut werden. Im Rahmen der angestrebten endogenen Entwicklung fördert die Chávez-Regierung massiv Projekte solidarischer Ökonomie wie Kooperativen und selbstverwaltete Betriebe. Zwar leidet auch dieser Bereich unter fehlenden Kontrollmechanismen für die maßgerechte Verwendung von Geldern. Zumindest werden aber in großem Maßstab alternative Wirtschaftsformen erprobt, die letztlich die Basis für eine Transformation zu einem gerechteren wirtschaftlichen System hin bilden könnten.

Chávez‘ ambivalente Rolle

Der gerade wiedergewählte Chávez selbst nimmt bei der Konsolidierung des bolivarianischen Prozesses eine so wichtige wie problematische Rolle ein. Einerseits verkörpert er den Transformationsprozess wie kein anderer und ist der Garant dafür, dass dessen Heterogenität nicht in sinnlose Streitereien untereinander mündet. Andererseits existiert ein übersteigerter Personenkult und eine Fortsetzung des Prozesses ist ohne den Präsidenten derzeit undenkbar. Die Herausforderung besteht also vor allem darin, nachhaltige Strukturen zu schaffen, die einen Präsidenten Chávez politisch überleben könnten. Dieser hat selbst oft genug betont, dass eine Revolution den Namen nicht Wert wäre, wenn sie von einer einzelnen Person abhinge. So folgt die offizielle Linie des chavismo nach wie vor dem Diktum, möglichst viel „Macht dem Volk“ zukommen zu lassen. Doch selbst unter chavistischen PolitikerInnen sind längst nicht alle damit einverstanden, Kompetenzen zugunsten einer Vertiefung der partizipativen Demokratie abzugeben. Politische Basisgruppen, die den Prozess im Prinzip stützen, werden somit auch weiterhin politische Reformen tatkräftig einfordern müssen. Davon wird es letztlich abhängen in welche Richtung sich Venezuela entwickelt.

KASTEN
Übersicht über die Wahlergebnisse

Innerhalb der chavistischen Koalitionskräfte wurde die Führungsrolle des MVR (Bewegung Fünfte Republik) mit 41,67 Prozent aller abgegebenen Stimmen untermauert. Es folgen mit großem Abstand die Parteien Podemos (6,54 Prozent) und PPT (5,13 Prozent) sowie die Kommunistische Partei Venezuelas PCV (2,94 Prozent). Rosales‘ eigene Partei, Un Nuevo Tiempo (Eine neue Zeit), bisher lediglich in Rosales´ Bundesstaat eine ernst zu nehmende Kraft, kam aus dem Stand auf 13,36 Prozent der Stimmen. Die bisher bedeutendste Oppositionspartei, die rechte Primero Justicia (Gerechtigkeit zuerst) erreichte dagegen nur 11,16 Prozent. Abgesehen von der christdemokratischen Copei (2,24 Prozent) spielte keine der 40 weiteren oppositionellen Gruppierungen eine Rolle bei diesem Urnengang.

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