Brasilien | Nummer 353 - November 2003

Der Conselheiro der Landlosen

Der Aktivist der Landlosenorganisation MST José Rainha Júnior befindet sich in Haft – seine Familie und Freunde auch

José Rainha Júnior gilt als der radikalste Aktivist der Landlosenbewegung MST und ist auch in der Organisation selbst nicht unumstritten. Die Prozessserie, die Freunden und Verwandten des inhaftierten Landlosenaktivisten gemacht wird, nimmt indes das Ausmaß von politischen Schauprozessen an. Beobachter kritisieren, dass damit die gesamte Landlosenbewegung kriminalisiert werden soll.

Thilo F. Papacek

Der Wanderprediger Rainha“ so titelte die brasilianische Illustrierte Veja im Juni diesen Jahres. Zu dieser Zeit befand sich der 43-jährige Aktivist der Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) José Rainha Jr. noch in Freiheit und organisierte bei Presidente Epitácio im Bundesstaat São Paulo das größte Landlosen-Camp in Brasilien. Dort warten etwa 2.200 Familien darauf, dass sie im Zuge der Landreform, die der neue Präsident Inácio Lula da Silva versprochen hatte, ein Stück Land zur Bebauung erhalten.
Den abfälligen Titel „Wanderprediger“ gab die Veja José Rainha Júnior, weil er angekündigt hatte, ein neues Canudos aufzubauen. Bewusst hatte Rainha diesen historischen Bezug gewählt. Die sozio-religiöse Bewegung unter Führung des fanatischen Wanderpredigers Antonio Vicente Mendes Maciel, genannt Conselheiro – der Berater – konnte vor über hundert Jahren in Canudos im Bundesstaat Bahia ein Jahr lang der brasilianischen Armee Widerstand leisten. 1897 wurde die Revolte mit einem Massaker beendet, das selbst heute noch nicht verwunden ist und entsprechenden Symbolcharakter bezieht. Genau so wie den Conselheiro sieht sich Rainha: Als Rächer der „vom Kapitalismus ausgeschlossenen“, wie er es nennt. „Das Bürgertum erbleicht, wenn ich davon rede, ein neues Canudos zu machen“, sagte Rainha der Veja.

Politische Prozesse

Seit dem 11. Juli diesen Jahres ist Rainha im Gefängnis – nicht zum ersten Mal. Er wurde schon mehrfach festgenommen. Im Jahr 1997 wurde er sogar des Mordes beschuldigt und eingesperrt. Doch das Urteil war unhaltbar, wichtige Zeugen wurden nicht geladen. Beobachter sprachen von einem politischen Schauprozess. Durch internationalen Druck kam er drei Jahre später wieder frei.
Immer wieder kam auch der Vorwurf, er hätte eine kriminelle Vereinigung gegründet. Auch diesmal lastet ihm die Staatsanwaltschaft dieses Vergehen an, neben einer Anklage wegen unerlaubten Waffenbesitzes, für die er zwei Jahre und acht Monate absitzen soll. Konkreter Anlass war eine Landbesetzung im Jahr 2000 auf der Fazenda Santa Maria, im gleichen Bezirk wo heute das Camp bei Presidente Epitácio steht. Schon letztes Jahr war er deshalb im Gefängnis, doch konnten seine Verteidiger ihn immer wieder herausholen, indem sie Fehler im Vollzug nachwiesen – mit einem so genannten Habeas Corpus.
Doch diesmal geht die Justiz weiter: Nicht nur Rainha und sein Mitstreiter Felinto Procópio dos Santos werden von der Justiz belangt, auch Freunde und Verwandte von Rainha werden angeklagt. Seine Frau Diolinda Alves de Souza wurde am zehnten September festgenommen, ebenfalls angeklagt wegen “Bandenbildung”. Erst zwei Tage nach ihrer Festnahme konnte sie mit ihren Verteidigern sprechen.

Der Anti-MST Richter

„Dieses Verhalten ist typisch für diesen Richter, denn er richtet nicht, er verfolgt die Menschen“ sagte Luiz Eduardo Greenhalgh, der Verteidiger von Rainha und Alves da Souza der Zeitung Folha de São Paulo. Greenhalgh ist auch Bundesdeputierter des Bundesstaates São Paulo für die Arbeiterpartei PT. Gemeint war Atis de Araújo Oliveira, der zuständige Richter für den Bezirk, in dem Rainha das Riesencamp organisierte.
Greenhalgh habe Rainha wiederholt geraten, den Bezirk zu verlassen, doch er hörte nicht. Greenhalgh zufolge war es nur eine Frage der Zeit, bis Araújo Oliveira ihn wieder festnehmen ließe.
Aton Fon Filho, der Vorsitzende des Sozialen Netzwerkes für Gerechtigkeit und Menschenrechte, kritisiert das Vorgehen des Richters als eindeutig politisch und nicht juristisch motiviert. Als Beleg zitiert er das Anklageschreiben des Richters, in dem es heißt, José Rainha Jr. und Diolinda Alves de Souza präsentierten sich in den Medien nicht nur als Führer der MST, sondern sogar als „Fleisch gewordene Symbole“ der Bewegung. Dabei wird José Rainha als „líder maximo“ – der große Führer – bezeichnet. Eine Unterstellung, die zum einen nicht zutrifft und zum anderen wenig bis nichts mit den Anklagepunkten zu tun hat.
Ebenfalls angeklagt wurde Roberto Rainha, der Bruder von José. Da er mit dem Hauptangeklagten verwandt ist, sei klar, dass er José unterstützt und sich auch schuldig gemacht habe, so der Richter. Atis de Araújo Oliveira schreckt vor Sippenhaft nicht zurück, um die ihm verhasste MST zu kriminalisieren.

Radikale Rhetorik

Dabei kann gar nicht die Rede davon sein, dass José Rainha der „große Führer“ der MST ist. Innerhalb der MST ist sein Stil umstritten. Mit seiner Militanz, so die Vorwürfe, gebe er der Rechten im Land nur den Anlass, die MST zu kriminalisieren. Auch seine radikalen Reden, in denen er „echten Sozialismus“ fordert, schrecken viele ab.
In der Tat ist sein Stil eher praxisorientiert. Er ist kein großer Intellektueller oder Organisator. Er findet sich in der ersten Reihe bei Landbesetzungen oder Demonstrationen. Bei seinen Aktionen begibt er sich auch in unmittelbare Gefahr: einmal eröffneten Landbesitzer das Feuer auf ihn. Wohl deshalb trug er immer eine Waffe mit sich; ein Verhalten, das ihm nun mit der Anklage wegen unerlaubten Waffenbesitzes zum Verhängnis wurde.
Der Veja zufolge gab es eine Zeit, in der er seine Rolle mit der von Ché Guevara in der kubanischen Revolution verglich, wobei er die Rolle des Fidel Castro dem Vorsitzenden der MST João Pedro Stedile zuwies. Ob diese Vergleiche so sinnvoll sind und ob sein Vorgehen wirklich zum Erfolg führt, kann man bezweifeln. Medienwirksam sind sie aber bestimmt. Und durch sein von allen Seiten attestiertes Charisma konnte Rainha Tausende Landlose mobilisieren.

Der Herz-Jesu Marxist

José Rainha Jr. wurde am 4. Juli 1960 in São Gabriel da Palha im Norden des Bundesstaates Espírito Santo als dritter Sohn einer Landpächterfamilie geboren. Angefangen hatte sein Engagement bei der MST in der katholischen Jugend von Vargem Alegre, im selben Bundesstaat, wo er mit 16 Jahren lesen gelernt hatte. Damals kam der charismatische Junge mit der hageren Gestalt mit den Lehren von Befreiungstheologen in Kontakt. Am 17. Februar 1978 kam dort der Dominikanerpriester Frei Betto zu Besuch, ein guter Freund des heutigen Präsidenten Luís Inácio Lula da Silva. Rainha fiel dem Mönch auf, er schenkte ihm Bücher und förderte ihn. Rainhas Engagement im links-sozialistischen Flügel der katholischen Kirche begann. Seit 1983 zieht Rainha durch Brasilien, organisierte Landbesetzungen und Demonstrationen. Dabei begleiteten ihn ständig Morddrohungen von GroßgrundbesitzerInnen.

Drogengangster gegen Rainha

Doch nicht nur GroßgrundbesitzerInnen und RichterInnen sind hinter Rainha her: Auch der PCC (Primeiro Comando da Capital), eine kriminelle Vereinigung, die den Drogenhandel und die Gefängnisse des Bundesstaats São Paulo beherrscht, plante, Rainha umzubringen, wie die Zeitung Folha de São Paulo unter Berufung auf Angaben des brasilianischen Geheimdienstes AIB berichtete. Angeblich wollten sie mit einer spektakulären Tat zum 10. Geburtstag des PCC ihre Macht demonstrieren. Die MST machte die Bundesregierung von São Paulo für Rainhas Sicherheit verantwortlich und forderte dessen Freilassung. Stattdessen ließ der Gouverneur Geraldo Alckmin Rainha in das Hochsicherheitsgefängnis in Presidente Bernardes verlegen. Dort saß er neben den Anführern des PCC in einer Einzelzelle. Schließlich wurde er in ein Gefängnis für Kleinkriminelle verlegt. Freigelassen wird er jedoch vorerst nicht: Ein erneuter Antrag auf Habeas Corpus wurde abgelehnt.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren