Der Himmel über Patagonien
Der argentinische Regisseur Ciro Cappellari und sein Film “Sin Querer”
Ciro Cappellari ist sowohl endlose Weiten als auch weite Entfernungen gewöhnt. Aufgewachsen ist er in der patagonischen Kleinstadt Ingeniero Jacobacci, wo sein Vater jahrelang als Dorfarzt arbeitete. Anfang der achtziger Jahre, als in Argentinien noch Diktatur herrschte, ist er nach Europa abgehauen, um Film zu studieren. Nach einem kurzen Intermezzo als Fotograf in München begann Ciro Cappellari an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin in Berlin zu studieren und machte sich im Laufe der Zeit auch als Kameramann einen Namen, unter anderem bei Pepe Danquarts Oscar-prämiertem Film “Schwarzfahrer”.
Aber bereits für sein erstes größeres Projekt, den Dokumentarfilm “Amor América”, zog es Cappellari 1989 wieder nach Argentinien. “Amor América” – eine Liebeserklärung an Patagonien und seine Bewohner, aber gleichzeitig eine schonungslose Abrechnung mit dem Fundus eurozentrischer Gründungsmythen, den sich weiße Soldaten und “Pioniere” in gnadenlosen Vernichtungsfeldzügen gegen die indianischen Ureinwohner zusammen plünderten. “Sohn des Flusses” (1991), Cappellaris erster Spielfilm, setzte sich mit der Suche eines indianischen Jungen nach seinem Platz in der Gesellschaft auseinander. Und nun als Abschluß der Trilogie “Sin Querer – Die Zeit der Flamingos”: Wiederum fokussiert Cappellari die Nahtstellen, an denen verschiedene argentinische Traditionen und Identitäten aufeinandertreffen, konzentriert sich aber stärker auf die europäischen Einwanderer, die es nach Patagonien verschlagen hat.
“Ich liebe diese Landschaft, obwohl sie so menschenfeindlich ist. Mein Kameramann Jürgen Jürgens hat etwas sehr Schönes gesagt, als wir diese endlose Steppe sahen, wo du das Gefühl hast, die Erde ist ganz klein und du bist noch kleiner, und dann hast du einen riesigen, drückenden Himmel über dem Kopf. Er sagte: Man fühlt sich hier dem Tod näher. Das habe ich auch gespürt, das ist auch nicht negativ gemeint. Man spürt sich in dieser Welt mehr mit der eigenen Existenz konfrontiert als in einer Großstadt, wo alles so selbstverständlich ist. Nichts schützt dich. Und das ergibt einen vollkommen anderen Lebenssinn. Die Menschen dort sind nicht sehr gesprächig, aber sehr freundlich und warm. Jedoch leben sie so, als ob sie von der Welt abgekapselt wären.” Mit dieser simplen und doch so mirakulös klingenden Botschaft taucht eines Tages ein junger Ingenieur namens Mario in dem patagonischen Kaff San Lorenzo auf, das mit der Außenwelt nur durch nichtasphaltierte Landstrassen und einen mittlerweile stillgelegten Bahnhof verbunden ist. Und nun dieses Projekt: Um einen Ausflugsdampfer zu einer Lagune landeinwärts zu transportieren, soll eine Überlandtrasse konstruiert werden. Was ein bißchen wie eine Inszenierung von Fellini oder eine Wahnidee von Fitzcarraldo klingt, weckt bei den DorfbewohnerInnen von San Lorenzo Hoffnungen und Sehnsüchte. Ehe er sich’s versieht, ist der Ingenieur zur Projektionsfläche verschiedenster Erwartungen geworden.
Ein Schiff wird kommen.
“Das Schöne bei den Leuten in Patagonien ist, daß es eine Poesie der Hoffnung gibt. Und das kann die geringste und die absurdeste sein. In “Sin Querer” ist es ein Schiff, das vorbeikommt. Es könnte auch etwas völlig anderes sein – wie beispielsweise die Sonnenfinsternis, die in dem Film vorkommt. Sämtliche Ereignisse, die von außen kommen, werden mit einer viel extremeren Wahrnehmung aufgenommen.”
Was haben wohl die Einwohner der verschlafenen und wirtschaftlich heruntergekommenen Kleinstadt Ingeniero Jacobacci gedacht, als auf einmal Ciro, der als Junge hier gelebt hatte, mit einer internationalen Crew aufkreuzte, um einen Film über eine ebensolche Kleinstadt zu drehen, die durch die Ankunft eines Ingenieurs wachgerüttelt wird? Für Cappellari zumindest war es eine faszinierende, manchmal auch befremdliche Begegnung mit der eigenen Geschichte. So habe er eines Tages während der Dreharbeiten mit seinem Vater – der eine “Gastrolle” als Dorfarzt spielt – an einer Lagune gestanden und einen Wochenendausflug inszeniert, als plötzlich beide das gleiche deja vu- Gefühl hatten: “Das haben wir gelebt. Wir sind diese Leute, die dort an diesem Teich sitzen. Solch eine Erinnerung unbewußt wiederherzustellen, das ist eine Form, sich selbst auf einer surrealen Ebene zu begreifen. Die Europäer und Araber, die in Patagonien leben, wiederholen Rituale, die nicht in dieser Landschaft entstanden sind, die hier vollkommen absurd erscheinen. Aber das müssen sie, das haben sie in sich drin. Das sagt für mich viel über die Kultur in Lateinamerika aus, besonders in Argentinien, das ein sehr europäisch geprägtes Land ist.”
“Sin Querer” – im Gegensatz zu dem pittoresken deutschen Untertitel “Die Zeit der Flamingos” steckt das spanische Original voller lakonischer Doppeldeutigkeit: “Sin Querer”, das kann sowohl ‘Ohne zu lieben’ heißen als auch ‘Ohne zu wollen’. Um beide Gefühlsphänomene kreist der Film auf sensible und beharrliche Weise, sucht und findet Spuren resignierter Leidenschaftlichkeit im Gesicht von Gloria (Angela Molina) oder in der verhärmten, altmädchenhaften Anständigkeit der Gattin des Bürgermeisters. Ohne zu wollen, aber auch ohne im entferntesten etwas daran zu ändern, scheint dieser dörfliche Mikrokosmos seit Jahren beständig um sich selbst zu kreisen. Die Rollen im Zentrum und an der Peripherie der gesellschaftlichen Hackordnung sind nach alter kolonialistischer Manier verteilt: Hier die Dorfhonoratioren und Geschäftsleute, die sofort versuchen, den Ingenieur und sein Projekt vor ihren jeweiligen Karren zu spannen, und dort, buchstäblich am Rande des Dorfes, die Indianerin, die sich von dem Fremden bei der Suche nach ihrem spurlos verschwundenen Vater Hilfe erhofft. Im Gegensatz zu den DorfbewohnerInnen spielt Mario, der Ingenieur eine ziemlich reaktive Rolle: “Er ist einfach überfallen worden. Sie haben sich auf ihn gestürzt und gesagt, du mußt für meine Sachen verantwortlich sein, du mußt mir meine Träume verwirklichen, du mußt mir die Justiz bringen.” Die Dorfälteste, die alles kontrollieren will, der Geschäftsmann, der seine dreizehnjährige Hausangestellte Juanita vergewaltigt und seinen latent schwulen Bruder nötigen will, ein richtiger Macho zu sein – auch wenn viele der Figuren bewußt als Prototypen angelegt sind, gelingt es Ciro Cappellari und den Schauspielern auf eine intensive und gleichzeitig unangestrengte Art, die Klippen der Klischeehaftigkeit zu umschiffen. Und das liegt besonders an dem Spannungsverhältnis zwischen einer atmosphärischen Dichte und Stimmigkeit und einer elliptischen Erzählweise, die zwar gezielt Fährten legt, aber der Phantasie noch Raum läßt. Vieles ist auf Abstand gefilmt, durch die Linse des Fernglases oder durchs Fenster. Oft scheint ein fast schmerzhafter Kontrast zu existieren zwischen der weiten, unwirtlichen Landschaft, der die Leute ausgesetzt sind, und ihrer inneren Begrenztheit und Klaustrophobie. “Das verstehe ich gerade als die Rettung vor dieser Weite: Sich ein Haus zu bauen und die Fenster zuzudichten, damit der Wind und diese harte Landschaft nicht reinkommen.”
So hängt vieles unausgesprochen in der Luft. Auch bei der Liebesgeschichte zwischen Mario und Gloria, die seit dreißig Jahren neben ihrem verhaßten Ehemann vor sich hin vegetiert, zeigt Cappellari lieber das “Davor” und “Danach”. Gloria, die von sich behauptet leben zu können, ohne zu lieben, scheint sich so sehr in der Nische ihres Kramladens festgekrallt zu haben, daß sie die Liebe als Bedrohung ihrer Existenz wahrnimmt. Das Spannungsfeld zwischen (Auf-) Begehren und Resignation manifestiert sich besonders in ihrer Geschichte und in derjenigen von Juanita, die wie ihr jüngeres Ebenbild wirkt: “In dem Film passiert zwei Frauen dieselbe Geschichte, nur löst sie sich am Ende ganz anders auf.
“Ausharren und erdulden oder gehen und den Kreis durchbrechen? Jetzt, wo der wirtschaftliche Boom, der in den 30er bis 50er Jahren Scharen von Einwanderern nach Patagonien lockte, längst wie eine Fata Morgana am Horizont entschwunden ist und nur leere Fabrikhallen zurückgelassen hat, stellt sich diese Frage für die Nachkommen der eu-ropäischen Emigranten erneut. Von den ehemals 300 Arbeitsplätzen am Eisenbahnknotenpunkt Ingeniero Jacobacci sind nur noch 30 übriggeblieben. “Es gibt eine Szene, wo Gloria sagt, daß sie damals gerne die Züge hörte, aber heute kämen sie nicht mehr. An dem Tag, wo wir die Szene drehen wollten, gab es einen Bahnarbeiterstreik, weil immer mehr Arbeitsplätze abgebaut wurden. Plötzlich hatten wir einen Zug auf den Schienen, wo wir drehen wollten. Nach großen Verhandlungen haben die Streikenden uns die Lokomotive weggefahren. Das war für mich ein Moment, wo Realität und Fiktion sich plötzlich gemischt haben, und ich dachte, in dreißig Jahren wird diese Geschichte, die ich erzähle, wahr. Alle werden schon Jahre nichts mehr mit der Welt zu tun gehabt haben, weil die Straßen nicht mehr repariert werden und die Züge nicht mehr fahren. Und dieser Ort, der reich gewesen ist, wird immer ärmer.”
Auch wenn Ciro Cappellaris eigener Lebensstil alles andere als bodenständig wirkt, ist doch auffällig, wie oft er das Wort ‘Wurzeln’ gebraucht, um seine eigene Idenität zu umreißen – und das keineswegs nur in Bezug auf Argentinien, sondern auch auf Berlin, das für ihn eine “zweite Heimat” geworden ist. Hier lebt seine französische Freundin, hier wachsen seine beiden Kinder auf. Stellt das Pendeln zwischen verschiedenen Ländern und das Großstadtleben in Berlin auch ein Gegengewicht dar zu der Einsamkeit, die er in Patagonien erlebt hat? “Wahrscheinlich. Ich mag es sehr, in Städten zu leben. Im Gegensatz zu städtischen Leuten, die gerne auf dem Land leben würden. Wenn man so viel Ruhe geschluckt hat, dann hat man andere Bedürfnisse.” Jedoch: “Daß ich immer wiederkomme, um in Patagonien Filme zu drehen, hat damit zu tun, daß ich davon nicht wegkomme.”
“Sin Querer”, Deutschland/ Argentinien 1997; Regie: Ciro Cappellari; Farbe: 96 Minuten.