Literatur | Nummer 463 - Januar 2013

Der Kolibri findet zu sich selbst

Ein kleiner Vogel jagt dreisprachig seinem Schnabel hinterher

Ein buntes, leuchtendes Kinderbuch erzählt die Geschichte einer spirituellen Reise auf Deutsch, Spanisch und Englisch.

Dinah Stratenwerth

Wer sich allzu viel um sein Aussehen sorgt, dem ergeht es im Märchen schlecht. Sowohl Schneewittchens spiegelverliebte Stiefmutter als auch Aschenputtels aufgetakelte Schwestern sind böse Figuren. Am Ende werden sie für ihre Grausamkeit und ihren Egoismus hart bestraft. Ebenso der arrogante Siebenpapagei, ein mythisches Wesen aus dem heiligen Buch der Maya, dem Popol Vuh. Ihm reißen die Großeltern der Götterzwillinge die Zähne aus und durchbohren seine Pupillen, so dass von seiner Schönheit nichts mehr bleibt.
Auch der kleine Kolibri in der Geschichte Der Kolibri, der seinen Schnabel verlor von José Paniagua genießt seine Schönheit. Selbstverliebt kämmt er jeden morgen seinen Flaum und poliert seinen Schnabel. Das kann nicht lange gut gehen. Wie der Titel schon verrät, ist der Schnabel plötzlich weg. Verzweifelt macht sich der kleine Vogel auf die Suche nach diesem. Dabei durchquert er bunte Landschaften und zugleich die klassische dreischrittige Struktur vieler Märchen. Drei Tieren begegnet er, bis er schließlich an den Ort kommt, an dem er den Schnabel zurückerhält. Der ist natürlich nicht hinter einem Busch versteckt, sondern wird ihm gegeben, als er innehält und aufhört, sich nur mit sich selbst zu beschäftigen. Zum ersten Mal nimmt er die Schönheit der Welt um sich herum wahr und benutzt seinen Schnabel fortan lieber, um von dieser zu singen. Ein versöhnliches Märchen mit Läuterung statt Strafe am Schluss.
Die Schönheit der tropischen Kolibri-Welt genießen die Leser_innen des kleinen Buches von Anfang an. Die Sprache ist poetisch und farbenfroh. Wiederholungen von Worten und Strukturen geben der Reise des Vogels einen Rhythmus. So lesen wir die drei Zeilen „ (…) durchquerte grüne, sehr grüne Ebenen, überflog blaue, sehr blaue Seen, flog rote, sehr rote Berge herab.“ Viermal, bevor der Kolibri sein Ziel erreicht. Die Illustrationen nehmen die dreiteilige Struktur auf und geben die leuchtenden Farben wieder, die dem Kolibri begegnen.
Die Besonderheit des Buches ist es, dass das Abenteuer in drei Sprachen erzählt wird, auf deutsch, spanisch und englisch. Der kleine, unabhängige Verlag Amiguitos aus Hamburg publiziert bi- und trilinguale Bücher, aber auch Unterrichtsmaterialien für Kinder. Damit wollen die Verleger_innen und Autor_innen der „mehrsprachigen Realität“ in Deutschland Rechnung tragen, wie sie auf der Verlagswebseite erklären.
Bei der Geschichte vom Kolibri ist nicht nur die jeweilige Übersetzung ins Deutsche und Englische aus dem Spanischen gut gelungen. Es macht Freude, die poetischen Zeilen gleich in drei Sprachen genießen zu können. Auch die Aufmachung der Seiten ist übersichtlich und schön gestaltet: Jede Sprache hat eine Farbe, der Einzug der Zeilen korrespondiert mit dem sprachlichen Rhythmus.
So ist Der Kolibri, der seinen Schnabel verlor vor allem ein ästhetischer Genuss und macht Kinder früh auf die spezielle Schönheit verschiedener Sprachen aufmerksam.

José Paniagua // El Colibrí que perdió su pico – The Hummingbird who lost his beak – Der Kolibri, der seinen Schnabel verlor // Amiguitos // Hamburg 2012 // 13,90 Euro // www.amiguitos.de

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